Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 17.01.2006

LSG Rpf: aufschiebende wirkung, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, aufrechnung, planwidrige unvollständigkeit, vorläufiger rechtsschutz, vollziehung, verwaltungsakt, erlass

Landessozialgericht Rheinland-Pfalz
Beschluss vom 17.01.2006 (rechtskräftig)
Sozialgericht Koblenz S 2 ER 232/05 AS
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz L 3 ER 128/05 AS
1. Auf die Beschwerde des Beschwerdeführers wird unter Änderung des Beschlusses des Sozialgerichts Koblenz
vom 28.11.2005 festgestellt, dass der Widerspruch des Beschwerdeführers gegen den Aufrechnungsbescheid der
Beschwerdegegnerin vom 15.11.2005 aufschiebende Wirkung hat und eine Vollziehung bis zur Entscheidung über den
Widerspruch zu unterbleiben hat. Die Beschwerdegegnerin ist verpflichtet, dem Beschwerdeführer einen Betrag in
Höhe von 175,50 EUR zu zahlen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
2. Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer 1/3 der außergerichtlichen Kosten des Antrags- und
Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Beschwerdeführer begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem SGB II vor dem 1.11.2005 sowie ab dem 01.12.2005 und wendet sich gegen die sofortige Vollziehung eines
Aufrechnungsbescheids der Beschwerdegegnerin.
Der 1962 geborene Beschwerdeführer bezieht gemeinsam mit seiner 1981 geborenen Ehefrau und seinen beiden
minderjährigen Kindern seit dem 01.01.2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II. Bis
zum 14.11.2005 übte der Beschwerdeführer als Autohändler eine selbstständige Tätigkeit aus. Von der Agentur für
Arbeit Koblenz erhielt der Beschwerdeführer einen Existenzgründungszuschuss, der sich bis zum 31.07.2005 auf
monatlich 360, EUR und ab dem 01.08.2005 auf monatlich 240, EUR belief.
Mit Bescheid vom 25.06.2005 bewilligte die Beschwerdegegnerin dem Beschwerdeführer Leistungen für die Zeit vom
01.07.2005 bis zum 31.10.2005 unter Anrechnung des Existenzgründungszuschusses in Höhe von 360, EUR. Mit
Bescheid vom 22.10.2005 wurden die Leistungen für die Zeit vom 01.11.2005 bis zum 31.01.2006 unter Anrechnung
des Existenzgründungszuschusses in Höhe von 240, EUR sowie eines bereinigten Einkommens aus der
selbstständigen Tätigkeit in Höhe von 178,50 EUR bewilligt. Mit Schreiben vom 22.10.2005 hörte die
Beschwerdegegnerin den Beschwerdeführer an wegen ihrer Absicht, zuviel erbrachte Leistungen nach dem SGB II
zurückzufordern. Mit Bescheid vom 15.11.2005 wurde die Anrechnung des Einkommens aus der selbstständigen
Tätigkeit sowie des Existenzgründungszuschusses seitens der Beschwerdegegnerin zum 14.11.2005 aufgehoben. Die
Beschwerdegegnerin bewilligte mit Bescheid vom 15.11.2005 dem Beschwerdeführer und seiner Familie für November
2005 Leistungen in Höhe von 991,66 EUR. Gleichzeitig erklärte die Beschwerdegegnerin in dem Bescheid die
Aufrechnung einer für die Zeit vom 01.08. bis 31.10.2005 entstandenen Überzahlung in Höhe von 175,50 EUR mit der
Nachzahlung für die Zeit vom 15.11. bis 30.11.2005. Die Überzahlung sei entstanden, weil für die Zeit vom 01.08. bis
31.10.2005 das Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit nicht angerechnet worden sei. Ab dem 1.12.2005 bis zum
31.01.2006 bewilligte die Beschwerdegegnerin dem Beschwerdeführer und seiner Familie Leistungen in einer
monatlichen Höhe von 1186.96 EUR. Gegen die Bescheide legte der Beschwerdeführer rechtzeitig Widerspruch ein.
Eine Widerspruchsentscheidung der Beschwerdegegnerin ist nicht ergangen.
Durch Beschluss vom 28.11.2005 hat das Sozialgericht Koblenz (SG) den Erlass einer einstweiligen Anordnung
abgelehnt. Dem Beschwerdeführer fehle es an dem erforderlichen Rechtsschutzinteresse für die Zeit ab 15.11.2005,
da mit Bescheid vom 15.11.2005 die Anrechnung des Einkommens aus selbstständiger Tätigkeit sowie des
Existenzgründungszuschusses zum 14.11.2005 eingestellt worden sei. Soweit der Beschwerdeführer geltend mache,
die Beschwerdegegnerin habe im Zeitraum bis zum 15.11.2005 Einkommen fehlerhaft angerechnet, gelte, dass
Regelungen über die einstweilige Bewilligung laufender Geldleistungen grundsätzlich nur für die Gegenwart und die
Zukunft, nicht aber für zurückliegende Zeiträume getroffen werden könnten. Die laufenden Leistungen für November
2005 habe der Beschwerdeführer bereits erhalten, so dass sein laufender Bedarf damit sichergestellt sei. Soweit die
Beschwerdegegnerin in Zusammenhang mit der Leistungsbewilligung ab 15.11.2005 eine Aufrechnung in Höhe von
175,50 EUR vorgenommen habe, sei dies nicht zu beanstanden. Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
könnten bis zu einem Betrag in Höhe von 30 vH der für den Hilfebedürftigen maßgebenden Regelleistungen mit
Ansprüchen der Träger von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch aufgerechnet werden, wenn es sich
hierbei um Ansprüche wegen zu Unrecht erbrachter Leistungen handele. Diesen Rahmen habe die
Beschwerdegegnerin nicht ausgeschöpft. Es sei dem Beschwerdeführer zuzumuten, hinsichtlich der Frage, ob die
Beschwerdegegnerin das erzielte Einkommen in zutreffender Höhe angerechnet und zu Recht aufgerechnet habe, auf
den Ausgang des Hauptsacheverfahrens zu warten.
Gegen den am 02.12.2005 zugestellten Beschluss hat der Beschwerdeführer am 27.12.2005 Beschwerde eingelegt,
der das SG nicht abgeholfen hat.
Der Beschwerdeführer trägt vor, in der Vergangenheit seien Leistungen unzutreffend berechnet worden. Die
Aufrechnung in Höhe von 175,50 EUR sei rechtswidrig gewesen. Die Beschwerdegegnerin habe nicht ausreichend
berücksichtigt, dass er auch Ausgaben habe und seine Ehefrau Leistungen für die Selbstständigkeit erbracht habe. Er
verfüge nicht mehr über Geld.
Die Beschwerdegegnerin ist der Auffassung, die getroffenen Entscheidungen seien zutreffend.
II.
Die zulässige Beschwerde ist teilweise begründet.
Der Beschwerdeführer hat keinen Anspruch auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung hinsichtlich der
begehrten Leistungen für die Zeit vor dem 1.11.2005 und ab dem 1.12.2005, da teilweise der von ihm gestellte Antrag
unzulässig ist und es im Übrigen an einem Anordnungsgrund fehlt.
Hinsichtlich der rechtlichen Voraussetzungen zum Erlass einer einstweiligen Anordnung nimmt der Senat in
entsprechender Anwendung des § 153 Abs 2 SGG auf die erstinstanzlichen Gründe Bezug.
Soweit der Beschwerdeführer Leistungen von der Beschwerdegegnerin ab dem 01.12.2005 begehrt, fehlt es ihm am
erforderlichen Rechtsschutzinteresse. Denn die Beschwerdegegnerin berücksichtigte ab Dezember 2005 weder
Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit noch einen Existenzgründungszuschuss. Deren Anrechnung wurde mit
Bescheid vom 15.11.2005 aufgehoben. Es ist auch nicht ersichtlich, dass für im Dezember 2005 gewährte Leistungen
seitens der Beschwerdegegnerin eine Aufrechnung erklärt wurde. Mit Bescheid vom 15.11.2005 wurde lediglich für
einen Zeitraum im November 2005 wegen überzahlter Leistungen die Aufrechnung erklärt und der entsprechende
Betrag einbehalten.
Soweit der Beschwerdeführer Leistungen für die Zeit vor dem 01.11.2005 wegen fehlerhafter Anrechnung begehrt, fehlt
es am erforderlichen Anordnungsgrund. Sinn und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzes ist es, einem
Hilfebedürftigen den aktuellen Lebensunterhalt zu sichern. Dies bedeutet, dass, wie das SG zutreffend ausgeführt hat,
der Erlass einer einstweiligen Anordnung nur für die Gegenwart und die Zukunft aber nicht für zurückliegende
Zeiträume zu treffen ist, da grundsätzlich der Hilfebedarf für die Vergangenheit gedeckt ist und nicht mehr im Wege
der einstweiligen Anordnung erbracht werden kann.
Soweit sich der Beschwerdeführer gegen die Vollziehung des Aufrechnungsbescheides vom 15.11.2005 wendet, hat
seine Beschwerde Erfolg.
Der Senat entnimmt dem Vorbringen des Beschwerdeführers, dass sein Begehren darauf gerichtet ist, dass nach
Einlegung des Widerspruchs der angefochtene Aufrechnungsbescheid nicht mehr vollzogen werden darf. Es ist
letztlich darauf gerichtet, dass festgestellt wird, dass seinem Widerspruch gegen die Aufrechnungsentscheidung
aufschiebende Wirkung zukommt. Nach seinem schriftlichen Vorbringen geht es dem Beschwerdeführer darum, dass
die Beschwerdegegnerin bis zur bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache die Aufrechnungsentscheidung
nicht vollziehen darf.
Rechtsgrundlage für dieses Antragsbegehren ist § 86b Abs 1 SGG. Vorliegend hat die Beschwerdegegnerin durch
Bescheid vom 15.11.2005 die Aufrechnung erklärt und damit die Aufrechnung durch Verwaltungsakt vorgenommen. In
den Fällen, in denen, wie hier, durch Einbehalt eines Teils der Leistung unter Missachtung der aufschiebenden
Wirkung des Rechtsbehelfs ein Verwaltungsakt faktisch vollzogen wird oder eine faktische Vollziehung droht, ist
vorläufiger Rechtsschutz nach § 86b Abs 1 Satz 2 SGG statthaft. Die Beteiligten streiten um einen Fall des Eintritts
oder Nichteintritts der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs im Sinne der Regelungen des § 86a Abs 1 SGG.
Ein solcher Streit ist nach der Systematik dem Abs 1 des § 86b SGG zuzuordnen (vgl. Beschluss des erkennenden
Senats vom 27.05.2004 - L 3 ER 29/04 AL). Während Voraussetzung für die Wiederherstellung der aufschiebenden
Wirkung eines Anfechtungswiderspruchs ist, dass der Widerspruch keine aufschiebende Wirkung hat, ist
Voraussetzung für die Feststellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs, dass dieser gemäß § 86a Abs 1
SGG aufschiebende Wirkung entfaltet. Vorliegend kommt dem Widerspruch des Beschwerdeführers aufschiebende
Wirkung zu.
Nach § 86a Abs 1 Satz 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende
Wirkung entfällt in den Fällen des § 86a Abs 2 SGG, wobei Nr 4 des § 86a Abs 2 SGG auf die durch Bundesgesetz
vorgeschriebenen Fälle der sofortigen Vollziehbarkeit verweist. Nach § 39 Nr 1 SGB II haben Widerspruch und Klage
gegen einen Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entscheidet, keine
aufschiebende Wirkung.
Die Entscheidung der Beschwerdegegnerin über die Aufrechnung stellt jedoch keinen Verwaltungsakt über Leistungen
der Grundsicherung dar (Münder, SGB II, Komm., § 39, Rn 8 und § 43, Rn 21, Eicher/Spellbrink, SGB II, Komm., §
39, Rn 15 mwN und § 43, Rn 34). Mit der Aufrechnung wird ein Rückforderungsanspruch des Leistungsträgers also
eine (vermeintliche) Schuld des Beschwerdeführers gegen seinen (bestehenden) Anspruch auf Leistungen nach dem
SGB II zur Erfüllung gebracht. Dies bedeutet, dass der Leistungsträger davon ausgeht, dass der Leistungsberechtigte
einen Anspruch nach dem SGB II hat. Der Anspruch des Beschwerdeführers, gegen den aufgerechnet wird, steht
damit nicht im Streit. Dieser Anspruch wird durch die Aufrechnung weder gemindert noch herabgesetzt. Streitig ist
vielmehr der Rückforderungsanspruch der Beschwerdegegnerin. Auch wenn dem geltend gemachten
Rückforderungsanspruch von der Beschwerdegegnerin behauptete Überzahlungen wegen Leistungen nach dem SGB
II für die Zeit vom 01.08.2005 bis zum 31.10.2005 zu Grunde liegen, so handelt es sich nicht um einen
Verwaltungsakt, der über Leistungen der Grundsicherung entscheidet. Der Wortlaut des § 39 Nr 1 SGB II verlangt,
dass durch Verwaltungsakt über Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entschieden worden ist. Hieraus
ergibt sich, dass Gegenstand der Entscheidung eine Leistung nach § 4 Abs 1 SGB II an den Arbeitsuchenden sein
muss. Die Aufrechnungsentscheidung, die vorliegend in Form eines Verwaltungsakts erging, stellt jedoch keine
Leistung der Grundsicherung für Arbeitsuchende dar.
Der gegenteiligen Auffassung von Hengelhaupt (in: Hauck/Noftz, SGB II, Kommentar, § 39, Rn 45 und § 43, Rn 77)
kann nicht gefolgt werden. Sie widerspricht bereits dem Wortlaut des Gesetzes. Bei der Aufrechnung handelt es sich
gerade nicht um eine Leistung für einen Arbeitsuchenden. Zudem spricht gegen diese Auslegung, dass Nr 2 des § 39
SGB II überflüssig wäre. Denn auch der Übergang von Ansprüchen betrifft letztlich Leistungen der Grundsicherung
(Münder, aaO, Rn 7).
Eine entsprechende Anwendung des § 39 Nr 1 SGB II iVm § 86a Abs 2 Nr 4 SGG kommt nicht in Betracht.
Anhaltspunkte für eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes, die die Übertragung einer für einen bestimmten
Tatbestand im Gesetz getroffenen Regelung auf einen anderen vom Gesetz nicht ausdrücklich geregelten
rechtsähnlichen Tatbestand aus verfassungsrechtlichen oder aus anderen rechtlichen Gründen gebietet, liegen nicht
vor. Nach § 86a Abs 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Die
aufschiebende Wirkung ist Ausprägung des Grundsatzes des in Art 19 Abs 4 GG verankerten Anspruchs auf
effektiven Rechtsschutz. § 86a Abs 2 SGG regelt Ausnahmetatbestände, wobei nach § 86a Abs 2 Nr 5 SGG die
Möglichkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung in den Fällen besteht, in denen die sofortige Vollziehung im
öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist. Unter dem Gesichtspunkt der
Gewährung effektiven Rechtsschutzes verbieten der Ausnahmecharakter der Regelung des § 86a Abs 2 Nr 2 SGG
und die in § 86a Abs 2 Nr 5 SGG eingeräumte Möglichkeit eine Ausdehnung der Vorschrift auf Fälle, in denen der
Träger der Leistungen nach dem SGB II mit Rückforderungsansprüchen gegen bestehende Leistungsansprüche nach
dem SGB II aufrechnet.
Da der Widerspruch des Beschwerdeführers gegen den Aufrechnungsbescheid aufschiebende Wirkung hat, darf der
Betrag von der Beschwerdegegnerin nicht einbehalten werden. Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer
den entsprechenden Betrag in Höhe von 175,50 EUR daher zu überweisen.
Soweit der Beschwerdeführer Schadensersatzleistungen geltend macht, sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit
hierfür unzuständig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).