Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 24.05.2006

LSG NRW: anschluss, arbeitsunfähigkeit, pflege, anwartschaft, entziehung, fortdauer, einheit, versicherter, zugang, reform

Landessozialgericht NRW, L 1 AL 78/05
Datum:
24.05.2006
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 1 AL 78/05
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 37 AL 1/05
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund
vom 11.10.2005 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind
auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Gründe:
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I. Streitig ist die Höhe des dem Kläger ab dem 01.09.2003 zustehenden
Überbrückungsgeldes.
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Der Kläger bezog bis zur Erschöpfung des Anspruchs am 07.06.2002 Arbeitslosengeld
(Alg), anschließend Arbeitslosenhilfe (Alhi). Wegen der Teilnahme an einer
berufsfördernden Maßnahme bewilligte ihm die Beklagte für die Zeit vom 01.10.2002 bis
zum 30.06.2004 Unterhaltsgeld (UhG) in Höhe von zuletzt 237,30 EUR wöchentlich. Für
die Zeit vom 08.04. bis 13.08.2004 legte der Kläger Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
vor. Sein Fernbleiben von der für den 05.05.2004 vorgesehenen Abschlussprüfung
wertete die Beklagte als Abbruch der Maßnahme. Mit Wirkung vom 06.05.2004 hob sie
die Bewilligung von Unterhaltsgeld auf (Bescheid vom 12.05.2004 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 16.11.2005, angefochten im Verfahren S 37 AL 635/05
SG Dortmund). Ab dem 06.05.2004 bezog der Kläger daraufhin bis zum 13.08.2004
Krankengeld (KrG), anschließend bis zum 31.08.2004 erneut Alhi in Höhe von 201,88
EUR wöchentlich. Im Hinblick auf die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit als
Akustik- und Trockenbauer bewilligte die Beklagte dem Kläger ab dem 01.09.2004
Überbrückungsgeld für die Dauer von sechs Monaten in Höhe der zuletzt gezahlten Alhi
von 5.191,20 EUR zuzüglich Zuschüssen zur Kranken-, Pflege- und Altersversorgung in
Höhe von 1.853,26 EUR (Bescheid vom 09.09.2004 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 30.11.2004).
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Das Sozialgericht (SG) hat die auf Zahlung des Überbrückungsgeldes in Höhe des
zuletzt gezahlten UhG gerichtete Klage abgewiesen und sich zur Begründung auf den
Wortlaut des § 57 Abs. 4 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) bezogen (Urteil vom
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11.10.2005).
Mit der Berufung gegen dieses Urteil trägt der Kläger vor, er hätte bei ordnungsgemäßer
Bearbeitung durch die Beklagte über den 05.05.2004 hinaus Anspruch auf UhG gehabt,
das dementsprechend der Berechnung des Überbrückungsgeldes zu Grunde gelegt
werden müsse. Die Beklagte sei zu Unrecht von einem Abbruch der Maßnahme
ausgegangen.
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund zu ändern und die Beklagte unter Änderung des
Bescheides vom 09.09.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2004
zu verurteilen, ihm Überbrückungsgeld in Höhe von 6.102,00 EUR zuzüglich
Zuschüssen zur Kranken-, Pflege- und Altersversorgung in Höhe von 4.362,93 EUR zu
bewilligen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält das Urteil des SG für richtig.
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Die Beteiligten sind zu einer Entscheidung des Senates durch Beschluss gemäß § 153
Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehört worden. Sie haben sich nicht geäußert.
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II.
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Der Senat entscheidet gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss der Berufsrichter, weil
er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für
erforderlich hält. Die Beteiligten sind gehört worden (§ 153 Abs. 4 Satz 2 SGG).
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Die zulässige Berufung ist unbegründet. Wie das Sozialgericht zutreffend entschieden
hat, ist die Entscheidung der Beklagten, dem Kläger für die Zeit ab dem 01.09.2003
Überbrückungsgeld in der Höhe der zuletzt gewährten Alhi zu gewähren, rechtmäßig,
sodass der Kläger durch sie nicht beschwert wird (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG).
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Der Anspruch auf Überbrückungsgeld richtet sich nach § 57 SGB III in der hier
maßgeblichen Fassung von Art 1 Nr. 11 des Ersten Gesetzes für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2002 (BGBl I 2002, 4607). Danach kann
Überbrückungsgeld geleistet werden, wenn der Arbeitnehmer in engem zeitlichen
Zusammenhang mit der Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit oder der
vorgeschalteten Teilnahme an einer Maßnahme zu deren Vorbereitung
Entgeltersatzleistungen "nach diesem Buch", d.h. dem SGB III bezogen hat (§ 57 Abs. 2
Nr. 1 Buchst. a) SGB III). Der Höhe nach setzt sich das Überbrückungsgeld zusammen
aus einem Betrag, den der Arbeitnehmer als Alg oder Alhi zuletzt bezogen hat oder bei
Arbeitslosigkeit hätte beziehen können, und den darauf entfallenden pauschalen
Sozialversicherungsbeiträgen (§ 57 Abs. 4 Satz 1 SGB III).
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Der Kläger hat zuletzt Alhi bezogen, sodass nach dem eindeutigen Wortlaut des
Gesetzes deren Höhe maßgebend für die Berechnung des Überbrückungsgeldes ist.
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Ohne Erfolg beruft der Kläger sich darauf, er hätte bei rechtmäßiger Sachbehandlung
durch die Beklagte zuletzt UhG bezogen, sodass dessen Höhe für die Berechnung des
Überbrückungsgeldes ausschlaggebend sein müsse.
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Der Vortrag ist bereits in tatsächlicher Hinsicht unzutreffend. Der Kläger trägt selbst vor,
dass er in der Zeit vom 08.04.2004 bis einschließlich 13.08.2004 arbeitsunfähig krank
gewesen ist. Demnach hätte er in jedem Fall ab dem 20.05.2004 nur noch Anspruch auf
KrG gehabt, weil der Anspruch auf UhG nur für die ersten sechs Wochen der
Arbeitsunfähigkeit erhalten blieb (§ 157 Satz 1 Nr. 1 SGB III in der bis zum 31.12.2004
geltenden Fassung i.V.m. § 126 Abs. 1 Satz 1 SGB III). Auch ohne die Entziehung des
Anspruchs auf UhG ab dem 06.05.2004 hätte der Kläger daher über das vorgesehene
Maßnahmeende am 30.06.2004 hinaus für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit nur
Anspruch auf KrG gehabt. Ein Anspruch auf Anschluss-UhG nach Maßgabe des § 156
SGB III in der bis zum 31.12.2002 geltenden Fassung hätte schon deshalb nicht
bestanden, weil die Übergangsvorschrift des § 434g Abs. 3 SGB III die Fortdauer dieses
Anspruchs nur für den hier nicht einschlägigen Fall anordnet, dass der Anspruch auf
Anschluss-UhG schon vor dem 01.01.2003 entstanden ist. Der längstens bis zum
19.05.2004 bestehende Anspruch auf UhG hätte im Hinblick auf den zeitlichen Abstand
von deutlich mehr als drei Monaten nicht mehr in einem "engen zeitlichen
Zusammenhang" mit der Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit gestanden.
Andererseits gehört KrG nicht zu den in § 116 SGB III abschließend aufgeführten
Entgeltersatzleistungen nach dem SGB III, sodass der Bezug von KrG bzw. der
Anspruch hierauf ebenfalls nicht zum Anspruch auf Überbrückungsgeld nach § 57 Abs.
2 Nr. 1 Buchst. a) SGB III führen. Anders als durch den Bezug von bzw. den Anspruch
auf Alhi hätte der Kläger also auch ohne den im Verfahren S 37 AL 635/05 SG
Dortmund angefochtenen Entziehungsbescheid sein Ziel, den Anspruch auf
Überbrückungsgeld, nicht erreichen können.
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Selbst wenn man sich jedoch auf den Standpunkt des Klägers stellt und annimmt, er
hätte bei richtiger Sachbehandlung durch die Beklagte vor der Aufnahme der
selbstständigen Tätigkeit zuletzt Anspruch auf UhG gehabt, führt dies nicht dazu, dass
das Überbrückungsgeld in Höhe des zuletzt bezogenen UhG gewährt werden müsste.
Der Wortlaut des § 57 Abs. 4 Satz 1 SGB III sieht die Bemessung des
Überbrückungsgeldes nach einer anderen Leistungsart als Alg oder Alhi nicht vor.
Insbesondere hat der Gesetzgeber erkennbar zwischen den in § 57 Abs. 2 Nr. 1 Buchst.
a) SGB III erwähnten Entgeltersatzleistungen nach dem SGB III einerseits und den in §
57 Abs. 4 Satz 1 SGB III genannten Leistungsarten Alg und Alhi andererseits
unterschieden. Der in § 57 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a) SGB III geregelte Anspruch auf
Überbrückungsgeld ist dabei durch Art 1 Nr. 23 Buchst. a) des Gesetzes zur Reform der
arbeitsmarktpolitischen Instrumente (Job-AQTIV-Gesetz) vom 10.12.2001 (BGBl I, 3443)
auf andere Vorbezugsleistungen als Alg, Alhi und Kurzarbeitergeld in einer
betriebsorganisatorische eigenständigen Einheit ausgedehnt worden, ohne dass der
Gesetzgeber § 57 Abs. 4 Satz 1 SGB III entsprechend angepasst hätte. Damit sollte der
Zugang zu selbstständigen Tätigkeiten erleichtert werden (vgl. BT-Drucks. 14/6944, S.
33). Ein Wille des Gesetzgebers, gleichzeitig die wirtschaftliche Situation der
Begünstigten zu verbessern, ist nicht erkennbar. Vielmehr liegt § 57 Abs. 4 SGB III - wie
schon der im Wesentlichen regelungsgleichen Vorgängervorschrift des § 55a Abs. 2
Arbeitsförderungsgesetz - allein das Ziel zu Grunde, den Lebensunterhalt des
Selbstständigen zu sichern (vgl. BT-Drucks. 13/4941, S. 163), und zwar auf dem
Leistungsniveau, das ohne Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit bestünde. Wäre der
Kläger arbeitslos geblieben, ohne eine selbstständige Tätigkeit aufzunehmen, hätte er
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jedoch nur Alhi in Anspruch nehmen können. Der frühere Anspruch auf Alg war mit dem
07.06.2002 erschöpft, und die Teilnahme an der berufsfördernden Maßnahme mit dem
Bezug von Uhg hat nicht zur Begründung einer erneuten Anwartschaft auf Alg geführt.
Nach allem konnte also auch ein Versicherter, der unmittelbar im Anschluss an den
Bezug von Uhg eine selbstständige Tätigkeit aufnahm, ohne noch über eine (Rest-
)Anwartschaft auf Alg zu verfügen, Überbrückungsgeld nur in Höhe der ansonsten zu
beanspruchenden Alhi verlangen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Voraussetzungen für die Zulassung
der Revision sind nicht erfüllt (§ 160 Abs. 2 SGG).
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