Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 28.03.2011

LSG NRW: kurzarbeit, unvermeidbarkeit des arbeitsausfalls, hauptsache, urlaub, auszahlung, verfügung, liquidität, erfüllbarkeit, brand, gefahr

Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss vom 28.03.2011 (rechtskräftig)
Sozialgericht Detmold S 4 AL 91/11 ER
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen L 16 AL 60/11 B ER
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 16.02.2011 geändert. Der
Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, der Antragstellerin für den
Anspruchszeitraum Dezember 2010 Kurzarbeitergeld in Höhe von weiteren 35.111,90 Euro nebst einer
Sozialversicherungsbeitragserstattung von weiteren 30.333,32 Euro zu zahlen. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten
des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Gründe:
I. Die Antragstellerin (ASt) führt seit 01.04.2009 so genannte "Kurzarbeit Null" durch. Die Antragsgegnerin (Ag)
bewilligte Kurzarbeitergeld (Kug) nebst Sozialversicherungsbeitrags-erstattung zunächst bis zum 30.09.2010 und
zahlte auf die entsprechenden Leistungsanträge der ASt Kug / pauschale SV-Beitragserstattung in Höhe von
monatlich ca. 70.000 EUR. Mit Bescheid vom 10.9.2010 entschied die Ag: "Die mit Anzeige vom 14.04.2009
genehmigte Bezugsfrist bis 30.09.2010 (vgl. Bescheid vom 17.04.2009) wird bis längstens 31.03.2011 erweitert. Die
erneute Prüfung nach § 170 SGB III (Sozialgesetzbuch Drittes Buch) am 08.09.2010 ergab, dass die
Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung des Kurzarbeitergeldes bis zum 31.03.2011 dem Grunde nach weiter
anerkannt werden." Wie die diesem Bescheid zu Grunde liegende Verfügung ausweist, ging die Ag - wie bisher - unter
anderem davon aus, dass der Arbeitsausfall unvermeidbar sei und insbesondere nicht durch Gewährung von
bezahltem Erholungsurlaub ganz oder teilweise verhindert werden könne.
Am 05.01.2011 stellte die ASt den Leistungsantrag für ihre 25 Kurzarbeiter für den Monat Dezember 2010. Mit
Bescheid vom 27.01.2011 bewilligte die Ag für den Anspruchszeitraum Dezember 2010 Kurzarbeitergeld in Höhe von
880,42 Euro und Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 1032,22 EUR. Unter Abzug einer - streitigen - Überzahlung
für November 2011 in Höhe von 470,31 EUR brachte sie lediglich 1442,33 EUR zur Auszahlung. Zur Begründung
führte sie aus: Kurzarbeitergeld / pauschale SV-Erstattung könne nicht in der beantragten Höhe gewährt werden. Die
Restansprüche Urlaub 2010 seien zur Vermeidung von Kurzarbeit von den Arbeitnehmern einzubringen (§ 170 Absatz
4 Satz 2 Nr. 2 SGB III). Den Widerspruch der ASt wies die Ag durch Bescheid vom 09.02.2011 als unbegründet
zurück: Gemäß § 170 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 SGB III gelte ein Arbeitsausfall als vermeidbar, der bei bezahltem
Erholungsurlaub ganz oder teilweise verhindert werden könne, soweit vorrangige Urlaubswünsche der
Urlaubsgewährung nicht entgegenstehen. Die Urlaubsansprüche der Arbeitnehmer aus 2010 seien daher zur
Vermeidung von Kurzarbeit einzusetzen. Die in den Urteilen des Landessozialgerichts (LSG) Chemnitz vom
27.05.2010 und des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 16.12.2008 vertretene Auffassung, dass während der
genehmigten Kurzarbeit eine Arbeitspflicht nicht bestehe und deshalb auch für den Arbeitgeber nicht die Möglichkeit
bestehe, den Arbeitnehmer hiervon durch Urlaubsgewährung freizustellen, werde nicht geteilt.
Die ASt hat am 09.02.2011 beim Sozialgericht Detmold (SG) einstweiligen Rechtsschutz beantragt: Sie habe
Anspruch auf Leistungen in der von ihr für Dezember 2010 beantragten Höhe. Die Beschränkung der Bewilligung
beruhe auf der irrigen Annahme der Ag, es seien Resturlaubsansprüche aus dem Jahr 2010 zu berücksichtigen. Die
Gewährung von Urlaub sei nur möglich, wenn den Arbeitnehmer eine Arbeitsverpflichtung treffe, von der er freigestellt
werden können. Aufgrund der schon im Jahr 2009 angeordneten "Kurzarbeit Null" habe die Arbeitnehmer im Jahr 2010
keine Arbeitsverpflichtung getroffen, von der sie hätten freigestellt werden können. Es drohten wesentliche Nachteile,
wenn der Ag die beantragte Zahlung nicht aufgegeben werde. Ihr drohe ein existenzgefährdender Liquiditätsengpass
und sie könne die Arbeitsverhältnisse der von Kurzarbeit betroffenen Arbeitnehmer nicht aufrechterhalten, wenn ihr
Obsiegen im Hauptsacheverfahren abgewartet werden müsse. Sie habe bei ihrer Planung auf die volle, von
Urlaubsansprüchen unberührte Auszahlung im gesamten Bewilligungszeitraum vertraut. Dieses Vertrauen beruhe
insbesondere auf den Hinweisen, welche die Ag selbst seinerzeit auf ihrer Internetseite gegeben habe. Sie habe dort
ausgeführt, dass bei 100% Kurzarbeit keine Urlaubsansprüche bestünden, wobei sie auf das Urteil des BAG vom
16.12.2008 hingewiesen habe.
Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom 16.02.2011 abgelehnt, weil weder Anordnungs-grund noch
Anordnungsanspruch gegeben seien: Obwohl die ASt glaubhaft gemacht habe, dass ihre finanzielle Situation äußerst
angespannt sei, sei im Hinblick auf die bereits angewiesenen beziehungsweise bevorstehenden Leistungen der Ag für
die Monate Januar bis März 2011 kein Anordnungsgrund gegeben. Zu berücksichtigen sei auch, dass im Rahmen des
einstweiligen Anordnungsverfahrens nur eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage erfolgen könne. Eine
endgültige Entscheidung, d.h. eine Vorweg-nahme der Hauptsache solle im einstweiligen Anordnungsverfahren
grundsätzlich nicht erfolgen. Dies gelte insbesondere in den Fällen, in denen die zu beurteilende Rechtsproblematik
schwierig und höchstrichterlich nicht geklärt ist. Die im vorliegenden Rechtsstreit maßgebliche Frage, ob
Urlaubsansprüche zur Vermeidbarkeit von Kurzarbeit einzubringen seien, sei für den hier gegebenen Fall der
"Kurzarbeit Null" nicht geklärt. Das BSG habe im Urteil vom 14.09.2010 zum Transfer-Kug die Frage aufgeworfen, ob
ob bei "Kurzarbeit Null" überhaupt noch ein Beschäftigungsverhältnis vorliege, diese Frage im Ergebnis aber offen
lassen können. Diese Frage müsse hier gegebenenfalls im Hauptsacheverfahren geklärt werden.
Dagegen richtet sich die Beschwerde der ASt. Zu Unrecht habe das SG einen Existenz gefährdenden
Liquiditätsengpass verneint. Es habe verkannt, dass die Kug-Zahlung für Januar 2011 in ihrer Liquiditätsdarstellung
bereits berücksichtigt worden sei. Dass die Rechtsfrage zu einer Berücksichtigungsfähigkeit vermeintlicher
Urlaubsansprüche bei "Kurzarbeit Null" nicht höchstrichterlich geklärt sei, stehe dem Erlass der beantragten
einstweiligen Anordnung ebenfalls nicht entgegen. Es obliege auch den Instanzgerichten als ureigenste Aufgabe, sich
selbst eine Rechtsansicht auch zu schwierigen Problematiken zu bilden; dies gelte im vorliegenden Verfahren nicht
weniger als im Hauptsacheverfahren, auch wenn es sich im vorläufigen Verfahren um eine lediglich vorläufige
Rechtsansicht aufgrund summarischer Prüfung handele.
Die Antragstellerin beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 16.02.20111 aufzuheben und der Antragsgegnerin im Wege der
einstweiligen Anordnung aufzugeben, ihr für den Anspruchszeitraum Dezember 2010 Kurzarbeitergeld in Höhe von
weiteren 35.111,90 EUR nebst einer Sozialversicherungsbeitragserstattung in Höhe von weiteren 30.333,32 EUR zu
bewilligen und auszuzahlen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses.
II. Die zulässige Beschwerde der ASt ist begründet.
1. Gemäß § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige
Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des
bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert
werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint.
In beiden Fällen setzt die einstweilige Anordnung voraus, dass ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund
bestehen. Beides ist hier zur Überzeugung des Senats der Fall. 2. Obwohl das BSG deutlich in Frage gestellt hat, ob
bei "Kurzarbeit Null" überhaupt ein erheblicher Arbeitsausfall im Sinne des § 169 Abs. 1 Nr. 3 SGB III vorliegt (vgl.
Urteile vom 14.09.2010 - B 7 AL 21/09 R und B 7 AL 29/09 R) und die Frage der Berücksichtigung des
Urlaubsanspruchs bei "Kurzarbeit Null" im Rahmen des § 170 SGB III noch nicht höchstrichterlich geklärt ist und im
Übrigen auch Zweifel bestehen mögen, ob hier konjunkturelle Gründe für die Kurzarbeit bei der ASt vorliegen, spricht
Folgendes für das Bestehen eines Anordnungsanspruchs:
Die Ag hatte mit dem Bescheid vom 10.09.2010 "nach Prüfung nach § 170 SGB III" die Anspruchsvoraussetzungen
für die Gewährung des KuG bis zum 31.03.2011 dem Grunde nach weiter anerkannt. Dies wird, wie auch die zu
Grunde liegende Verfügung vom 08.09.2010 zeigt, kaum anders zu verstehen sein, als dass die Ag damit gemäß §
173 Abs. 3 SGB III u.a. entschieden hat, dass im Betrieb der ASt weiterhin ein erheblicher Arbeitsausfall mit
Entgeltausfall (§ 169 Satz 1 Nr. 1 SGB III) vorliegt, dieser also nicht vermeidbar im Sinne des § 170 Abs. 1 Nr. 3 SGB
III ist und damit auch, dass er nicht durch Gewährung von bezahltem Erholungsurlaub ganz oder teilweise verhindert
werden kann (§ 170 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 SGB III). Es spricht deshalb viel dafür, dass
die Ag einen etwaigen Urlaubsanspruch der Kurzarbeiter für das Jahr 2010 nicht erst im Leistungsverfahren bei der
Berechnung der Leistung für den Monat Dezember 2010 berücksichtigen durfte, sondern bei der Prüfung der Merkmals
der Unvermeidbarkeit des Arbeitsausfalls (§ 170 Abs. 1 Nr. 3 iVm § 170 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 SGB III) bei der
Entscheidung über die Verlängerungsanzeige der ASt hätte prüfen müssen (vgl. zum Transfer-KuG: Sächsiches LSG,
Urteil vom 27.05.2010 - L 3 AL 183/07 juris Rz. 35; vgl. zum zweistufigen Verfahren nach § 173 SGB III auch BSG,
Urteil vom 14.09.2010 - B 7 AL 29/09 R- ebenfalls zum Transfer-KuG). Mehr als zweifelhaft muss es deshalb
erscheinen, wenn die Ag - im Übrigen abweichend von der bei § 170 Abs. 3 SGB III ansetzenden Begründung ihrer
Entscheidung - dem fraglichen Urlaubsanspruch Bedeutung nicht im Rahmen der Regelvoraussetzungen des § 169
Satz 1 Nr. 1 iVm § 170 SGB III geben, sondern bei der Berechnung der Nettoentgeltdifferenz (§ 179 Abs. 2 Satz 1
SGB III) dem Istentgelt des Kurzarbeiters ein entgangenes fiktives Urlaubsentgelt zuschlagen möchte (s. Vermerk
vom 04.10.2010 (Bl. 84 der Verwaltungsakte)).
Im Übrigen spricht für das Bestehen des Anordnungsanspruchs auch, dass nach der arbeitsgerichtlichen
Rechtsprechung (BAG, Urteil vom 16.12.2008 - 9 AZR 164/08 - BAGE 129,46) Voraussetzung für die Erfüllbarkeit des
Urlaubsanspruchs ist, dass eine arbeits-vertragliche Arbeitspflicht für die Zeit des Urlaubswunsches besteht, woran es
bei "Kurzarbeit Null" fehle (vgl. auch LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 25.08.2009 - L 1 AL 103/08l-; Sächsisches
LSG, Urteil vom 27.05.2010 - L 3 AL 283/07 (beide zum Transfer-KuG)). Soweit die Ag auf dem Standpunkt steht, mit
der genannten Entscheidung des BAG sei (lediglich) eine arbeitsrechtliche Entscheidung getroffen worden, die die
sozialrechtliche Regelung des § 170 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 SGB III nicht verdränge (s. Vermerk vom 04.10.2010 (Bl. 84
der Verwaltungsakte)), wird dies kaum dem Umstand gerecht, dass auch im Rahmen des § 170 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2
SGB III zu beachten sein dürfte, dass Urlaub nur nach arbeitsrechtlichen Maßstäben angeordnet werden kann (vgl.
dazu Krodel in Niesel/Brand, SGB III, 5. Aufl. 2010, § 170 Rz. 32). Die Ungereimtheiten, die möglicherweise mit der
fragwürdigen Konstruktion eine zweijährigen "Kurzarbeit Null" verbunden sind, dürften nicht durch Nichtbeachtung der
arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung zum Urlaubsanspruch zu bereinigen sein.
2. Der Senat sieht auch einen Anordnungsgrund durch die ASt hinreichend glaubhaft gemacht an. Ohne die streitige
Leistung der Ag für die Kurzarbeiter der ASt erscheinen die Liquidität der ASt und die Beschäftigung der Mitarbeiter für
den bevorstehenden Zeitpunkt des Endes der Anlaufphase des Unternehmens und des Auslaufens der Leistungen der
Ag gefährdet. Unter Berücksichtigung seiner Einschätzung der Rechtslage betreffend den Anordnungsanspruchs hält
der Senat der ASt und den leistungsberechtigten Kurzarbeitern wegen der ihnen drohenden Nachteile für unzumutbar,
die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Das Risiko der Ag dagegen, eine etwaige Überzahlung zurückfordern
zu müssen erscheint auch bei heute ungewisser Realisierungsaussicht etwaiger Rückforderungsansprüche als
zumutbar. Daher war die beantragte vorläufige Anordnung zu treffen (zur Frage einer vom SG angenommenen
Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 25.02.2009 - 1 BvR
120/2009 und Keller in Meyer-Ladewig, SGG 9. Aufl. 2008, § 86b Rz. 31).
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.