Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 27.09.2004
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Landessozialgericht NRW, L 16 KR 167/03
Datum:
27.09.2004
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 16 KR 167/03
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 9 (1) KR 30/02
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 1 KR 29/04 R
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 26. Mai 2003 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche
Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die
Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten um die Erstattung der Kosten für eine künstliche Befruchtung mit
intrazytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI).
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Bei der Klägerin, die seit September 2000 wegen unerfüllten Kinderwunsches mit ihrem
Ehemann in ärztlicher Behandlung stand, wurde aufgrund einer am 18.12.2000
durchgeführten Bauchspiegelung eine ausgedehnte Endometriose festgestellt.
Nachdem ein künstlicher Befruchtungsversuch (In-vitro-Fertilisation - IVF -)
fehlgeschlagen war, beantragte die Klägerin unter Vorlage einer Bescheinigung des
Frauenarztes Dr. H die Übernahme der Kosten einer Behandlung mittels ICSI. Der
Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) - Dr. C - hielt in seinem Gutachten
vom 28.11.2001 lediglich eine IVF für erforderlich. Daraufhin lehnte die Beklagte mit
Bescheid vom 03.12.2001 die Kostenübernahme für eine ICSI ab. Unter Vorlage einer
weiteren Bescheinigung des Dr. H legte die Klägerin am 17.12.2001 Widerspruch ein,
mit der sie die Auffassung vertrat, Anspruch auf eine entsprechende Behandlung zu
haben. In einer weiteren Bescheinigung vom 11.01.2002 wies Dr. H darauf hin, dass die
Anwendung von ICSI nach einem Befruchtungsversagen in der konventionellen IVF
absolut indiziert sei. Dr. C verwies in einem weiteren Gutachten vom 13.02.2002 darauf,
dass der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (jetzt: Gemeinsamer
Bundesausschuss) die Indikation einer ICSI nur bei andrologischen Problemen
bearbeitet habe. Wenn, wie bei der Klägerin im Rahmen der IVF keine Fertilisierung bei
einer nur geringen Anzahl von Oozyten zu erreichen gewesen sei, sei es jedoch
sinnvoll, auf die IVF/ICSI-Kombinationstherapie umzusteigen, um die Anzahl frustraner
IVF-Versuche gering zu halten. Im Februar 2002 wurde bei der Klägerin die IVF/ICSI-
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Behandlung durchgeführt, wofür ihr einschließlich der Medikamente und Hilfsmittel
Kosten in Höhe von 4.230,91 Euro entstanden. Mit Widerspruchsbescheid vom
21.03.2002 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück, weil allein die
Reduzierung frustraner IVF-Versuche die Kostenübernahme einer ICSI-Behandlung
nicht rechtfertigte.
Die Klägerin hat am 12.04.2002 vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf Klage erhoben.
Sie hat geltend gemacht, eine alleinige Behandlung mittels IVF scheide aufgrund der
begrenzten Anzahl verwendungsfähiger Eizellen in ihrem Fall aus. Die Entscheidung
der Beklagten stelle sich daher auch wirtschaftlich als unsinnig dar. Soweit in den
Richtlinien des Bundesausschusses nur die männliche Fertilitätsstörung als Indikation
für ICSI angegeben werde, verstoße diese Regelung gegen das Willkürverbot des Art. 3
Grundgesetz (GG).
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Mit Urteil vom 26.05.2003 hat das SG die Klage abgewiesen. Auf die
Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
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Gegen das ihr am 02.07.2003 zugestellte Urteil hat die Klägerin am Montag, dem
04.08.2003, Berufung eingelegt. Sie ist der Ansicht, dass sachliche Gründe für einen
Ausschluss der ICSI bei weiblichen Fertilitätsstörungen nicht vorlägen. Es sei ohne
Weiteres erkennbar, dass bestimmte Formen der weiblichen Unfruchtbarkeitsursachen
in diese Behandlungsmethode einbezogen werden müssten. Die bei der Klägerin
bestehende Eizellendeformierung verhindere die einfache Befruchtung im
Reagenzglas, wie sie bei der IVF stattfinde. Ein entsprechender Defekt könne hingegen
mittels ICSI behoben werden, wie die inzwischen eingetretene
Zwillingsschwangerschaft belege. Eine entsprechende Differenzierung nach männlicher
und weiblicher Fertilitätsstörung verstoße im Übrigen gegen Art. 3 GG. Sie widerspreche
auch der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in seinen Urteilen vom
03.04.2001. Schließlich müsste die Beklagte zumindest die Kosten der IVF tragen.
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Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des SG Düsseldorf vom 26.05.2003 zu ändern und die Beklagte unter
Aufhebung des Bescheides vom 03.12.2001 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 21.03.2002 zu verurteilen, ihr 4.230,91 Euro nebst 5 %
Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 12.04.2002 zu erstatten.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie beruft sich auf die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses, wonach die
Endometriose nur eine Indikation für die IVF darstelle.
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Der Senat hat eine Auskunft des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 27.05.2004
eingeholt, auf welche verwiesen wird.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug
genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage im Ergebnis zu Recht
abgewiesen, weil der Klägerin die begehrte Kostenerstattung nicht zusteht.
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Letzterer Anspruch kann sich nur aus § 13 Abs. 3 Satz 1 Zweite Alt. Fünftes Buch
Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) herleiten. Danach sind,
wenn die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und dadurch Versicherten
für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese von der Krankenkasse
in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Diese
Voraussetzungen sind nicht erfüllt, weil die Behandlung der Klägerin mittels ICSI nicht
notwendig und die Ablehnung der Beklagten daher rechtmäßig gewesen ist. Nach § 27a
Abs. 1 SGB V umfassen die Leistungen der Krankenbehandlung auch medizinische
Maßnahmen zur Herbeiführung der Schwangerschaft. Dass die hierfür erforderlichen
Feststellungen und Beratungen im Sinne des § 27 a Abs. 1 Nrn. 2 und 5 SGB V erfolgt
sind, ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus den Bescheinigungen des Dr. H und
Prof. Dr. G, was zwischen den Beteiligten auch nicht streitig ist. An der Erfüllung der
Erfordernisse des § 27 Abs. 1 Nrn. 3 und 4 SGB V bestehen ebenfalls keine Zweifel.
Schließlich bedurfte die Klägerin auch grundsätzlich medizinischer Maßnahmen zur
Herbeiführung einer Schwangerschaft im Sinne des § 27 a Abs. 1 SGB V. Dies jedoch
beschränkt auf die IVF; eine Behandlung mittels ICSI war nicht indiziert.
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Dies folgt allerdings nicht schon aus der Richtlinie des Bundesausschusses der Ärzte
und Krankenkassen (jetzt: Gemeinsamer Bundesausschuss). Die im Zeitpunkt der
Durchführung der streitigen Maßnahme entgegenstehende Richtlinie über ärztliche
Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung, Stand 01.10.1997 (BAnz 1997 Nr. 243), war
wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unwirksam (vgl. BSG SozR 3-2500 § 27
a Nr. 3). Die zum 26.02.2002 in Kraft getretene Richtlinie (BAnz 2002 Nr. 92 S. 10941),
die nur männliche Fertilitätsstörungen als Indikation für ICSI zulässt (Nr. 11.5) und bei
der Endometriose nur IVF vorsieht (Nr. 11.3), galt mangels Veröffentlichung im Zeitpunkt
der Behandlung der Klägerin, die spätestens am 14.02.2002 beendet war, noch nicht
(zum Wirksamkeitszeitpunkt entsprechender Richtlinien vgl. BSG SozR 3-2500 § 135
Nr. 22).
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Daraus folgt jedoch nicht, dass die Klägerin unabhängig von der bei ihr bestehenden
Diagnose Anspruch auf die Behandlung mittels ICSI hatte. ICSI unterfiel als neue
Behandlungsmethode dem Anwendungsbereich des § 135 SGB V, wonach neue
Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen und
vertragszahnärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden
dürfen, wenn der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (Gemeinsamer
Bundesausschuss) hierüber Empfehlungen abgegeben hat (vgl. BSG SozR 3-2500 § 27
a Nr. 2 S. 18 ff.; Nr. 3 S. 28 f.). Der zum 01.10.1997 gefasste Beschluss des
Ausschusses, ICSI nicht zur vertragsärztlichen Versorgung zuzulassen, war unwirksam,
weil im Lichte der Wertentscheidung des Gesetzgebers mit der Einführung des § 27 a
SGB V der Bundesausschuss keine schlüssige Begründung für den Ausschluss für ICSI
gegenüber der Durchführbarkeit der IVF geliefert hat (vgl. dazu ausführlich BSG SozR 3-
2500 § 27 a Nr. 3 S. 28 ff.). Damit bestand seit dem 01.01.1998 eine Lücke im
Leistungssystem (BSG a.a.O. S. 35). Diese kann jedoch zugunsten der Versicherten nur
in dem Umfang geschlossen werden und zu Leistungsansprüchen führen, wie in der
medizinischen Wissenschaft Konsens über den voraussichtlichen Nutzen der
Anwendung von ICSI bestand (so im Ergebnis auch BSG a.a.O., wo unzweifelhaft eine
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Indikation für ICSI wegen schwerwiegender männlicher Infertilisation bestand). An
solchen übereinstimmenden Kenntnissen, bezogen auf den Nutzen von ICSI bei einer
vorrangig weiblichen Infertilität, fehlte es jedoch im Zeitpunkt der Behandlung der
Klägerin (vgl. dazu BSG SozR 3-2500 § 135 Nr. 12), wie auch heute noch.
Nach der damals gültigen Richtlinie zur Durchführung der assistierten Reproduktion der
Bundesärztekammer (Dt Ärztebl. 1998, A-3166 - 3171), bestand eine Indikation zur ICSI
nur dann, wenn bei schwerer männlicher Infertilität oder aufgrund anderer
Gegebenheiten (z.B. erfolglose Befruchtungsversuche), die Herbeiführung einer
Schwangerschaft höchst unwahrscheinlich ist (3.2.1.3 der Richtlinie). Es fehlte jedoch
an einer schweren männlichen Infertilität beim Ehemann der Klägerin, wie auch an
anderen Gegebenheiten im Sinne dieser Richtlinie. Vor Durchführung der streitigen
Behandlung hatte lediglich ein einziger Befruchtungsversuch mittels IVF stattgefunden
und sonstige besondere Umstände waren nicht zu verzeichnen. Auch Dr. C hat solche
nicht aufgezeigt, sondern lediglich allgemein auf die Vermeidung weiterer frustraner
Versuche verwiesen. Dass ein weiterer Versuch mittels IVF völlig aussichtslos gewesen
sei, hat er hingegen nicht aufgezeigt.
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Der Gemeinsame Bundesausschuss hat in seiner Antwort auf die Anfrage des Senats
angegeben, dass die Beschränkung der ICSI auf Fälle der männlichen Infertilität u.a.
das Ergebnis der Befragung zahlreicher Sachverständiger der maßgeblichen
medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften gewesen sei, so dass auch von
daher kein Anhalt für ausreichende wissenschaftliche Erkenntnisse zum Nutzen der
ICSI bei anderen Diagnosen besteht. Unter diesen Umständen entspricht die
Anwendung der ICSI im Fall der Klägerin aber nicht den Anforderungen der §§ 2, 12
SGB V, wonach die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nur im
notwendigen Umfang in Anspruch genommen werden können und dem anerkannten
Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen haben.
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Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten, die bei der hier
indizierten IVF entstanden wären (Medikamente, Eizellenuntersuchung- und entnahme).
Die Behandlung lässt sich nicht in zwei selbständige Teilbehandlungen im Sinne der
IVF und ICSI aufspalten (so im Ergebnis auch BSG SozR 3-2500 § 27 a Nr. 2). ICSI
unterscheidet sich im Wesentlichen von IVF dadurch, dass der Befruchtungsversuch im
Reagenzglas mittels besonders aufbereiteter Samenzellen durch deren unmittelbare
Injektion in die Eizelle erfolgt. Die in gleicher Weise wie bei der IVF dabei erforderliche
vorherige medikamentöse Behandlung der Frau und Eizellenentnahme sind nicht als
selbständige Behandlungsteile anzusehen, sondern unverzichtbarer Bestandteil der
Behandlung mittels ICSI, so dass infolge dieser Behandlungseinheit die
Einstandspflicht der Krankenkasse auch nur insgesamt oder überhaupt nicht gegeben
ist (vgl. dazu BSG SozR 3-2500, § 135 Nr. 4 S. 11; 14 S. 63 f.).
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Diese Betrachtungsweise verletzt die Klägerin nicht in ihren Grundrechten aus Art. 3
GG. Die Klägerin wird nicht wegen ihres Geschlechtes benachteiligt, sondern sie kann
die geltend gemachte Leistung allein deshalb nicht beanspruchen, weil es an
wissenschaftlichen Erkenntnissen über den Nutzen der Anwendung von ICSI bei
weiblicher Infertilität mangelt. Der Einwand der Klägerin, die Überlegenheit und
Notwendigkeit der Behandlung mittels ICSI sei durch deren schließlich erfolgreiche
Anwendung bei ihr belegt, überzeugt schon deshalb nicht, weil hierdurch nicht belegt
wird, dass auch die Wiederholung der IVF ein entsprechendes Ergebnis nicht erbracht
hätte.
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Die Berufung war daher mit der aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beruhenden
Kostenentscheidung zurückzuweisen.
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Der Senat hat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache die Revision
zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
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