Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 06.05.2003

LSG NRW: berufliche tätigkeit, stationäre behandlung, auskunft, entschädigung, anerkennung, zusammenwirken, diagnose, orthopädie, berufskrankheit, unfallversicherung

Landessozialgericht NRW, L 15 U 162/01
Datum:
06.05.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
15. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 15 U 162/01
Vorinstanz:
Sozialgericht Detmold, S 4 U 150/93
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 2 U 247/03 B
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Detmold vom 20. Februar 1995 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu er
statten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten um die Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit
(BK) nach Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).
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Der 1945 geborene Kläger absolvierte von 1960 bis 1963 eine Ausbildung zum
Werkzeugmacher. Anschließend ging er verschiedenen Beschäftigungen nach. Von
1976 bis 1990 übte er eine selbstständige Handelstätigkeit aus, die u.a. den An- und
Verkauf von Klavieren, Standkörben, Antiquitäten und Musikinstrumenten, den An- und
Verkauf sowie die Restaurierung von Automobilen und Oldtimern sowie die Vermietung
und den An- und Verkauf von Drehorgeln und Jukeboxen umfasste.
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Im Juni 1992 wandte er sich mit einem Antrag auf "Erwerbsunfähigkeitsrente" an die
Beklagte. Er legte mehrere Bescheinigungen des Arztes für Orthopädie Dr. X vor und
machte geltend, dass sein Rückenleiden auf das schwere Heben während seiner
Tätigkeit in den letzten 17 Jahren zurückzuführen sei. Seit 1976 habe er fast täglich
Klaviere, Flügel und Orgeln gehoben. Die Beklagte zog von der X1 in Bad P den Bericht
über die stationäre Behandlung des Klägers vom 21.11. bis 19.12.1989 bei und holte
von Dr. X einen Befundbericht ein. Anschließend hörte sie den Orthopäden Dr. U in C,
der in seiner Stellungnahme von 10.08.1993 eine BK 2108 verneinte. Zur Begründung
führte er aus: Beim Kläger liege eine isolierte Bandscheibenschädigung im Bereich L4/5
vor. Bei einer isolierten Bandscheibenschädigung müsse davon ausgegangen werden,
dass es sich um eine typische konstitutionelle Schwäche dieses
Bandscheibengewebes handele. Die Wirbelsäule des Klägers zeige zudem eine
erhebliche Fehlhaltung mit Streckkyphose nach Scheuermannscher Wachstumsstörung.
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Alle Wirbelkörper seien erheblich verändert mit tiefen Einmuldungen, die zwangsläufig
zu Bandscheibenschäden führten. Gestützt auf diese Stellungnahme lehnte die
Beklagte mit Bescheid vom 08.09.1993, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom
15.10.1993 die Anerkennung und Entschädigung der Wirbelsäulenerkrankung des
Klägers als BK ab.
Hiergegen hat der Kläger am 15.11.1993 Klage erhoben. Das Sozialgericht hat von Dr.
X, dem Orthopäden Dr. P1 sowie dem praktischen Arzt Dr. X2 Befundberichte eingeholt.
Mit Gerichtsbescheid vom 20.02.1995 hat es die Klage abgewiesen. Auf die
Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
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Gegen den am 02.03.1995 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 30.03.1995
Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.
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Der Kläger beantragt,
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den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Detmold vom 20.02.1995 zu ändern und die
Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 08.09.1993 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 15.10.1993 zu verurteilen, seine Wirbelsäulenerkrankung
als entschädigungspflichtige Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV
anzuerkennen und dementsprechende Leistungen zu erbringen,
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hilfsweise,
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a) seine Angaben zu den körperlichen Anforderungen seiner Tätigkeiten eidessstattlich
versichern zu lassen,
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b) Frau K N, E und Herrn B X3, L , als Zeugen zu Art, Ausmaß und Schwere der vom ihn
verrichteten Arbeiten zu hören,
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c) die Einholung eines arbeitstechnischen Gutachtens, auch zur Beurteilung von
Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung,
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d) die Einholung einer Auskunft von der Bundeswehr, ob eine zu musternde Person mit
einer Scheuermann schen Erkrankung (laut Dr. T Vollbild) noch dem Tauglichkeitsgrad
2 zugeordnet werden kann und wie die Bundeswehr mit solchen Fällen verfährt,
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e) die Einholung eines radiologischen Gutachtens (siehe Stellungnahmen Dr. I vom
08.08.2002 und Dr. N vom 14.10.2002),
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f) die Einholung eines arbeitsmedizinischen Gutachtens wegen der Auswirkungen
beruflicher Verrichtungen in extremer Rumpfbeugehaltung im Zusammenwirken mit dem
Heben und Tragen schwerer Lasten.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält weder die arbeitstechnischen noch die medizinischen Voraussetzungen der
streitigen BK für gegeben.
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Auf Anforderung des Berufungsgerichts hat die Beklagte einen Bericht ihres
Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) vorgelegt. Darin heißt es, die Angaben des
Klägers bezüglich der Lastenmanipulationen seien - sowohl was die Häufigkeit als auch
die Art anbelange - als außergewöhnlich hoch und nicht nachvollziehbar anzusehen.
Das Berufungsgericht hat außerdem vom Versorgungsamt C die über den Kläger
geführten Schwerbehindertengesetz-Akten beigezogen und von dem Arzt für Orthopädie
Dr. C1 einen Befundbericht eingeholt. Anschließend ist der Orthopäde Dr. T in T1 mit
der Erstattung eines Gutachtens beauftragt worden. Er ist zu folgenden Ergebnis
gelangt: Die bandscheibenbedingte Erkrankung des Klägers sei keine BK 2108. Beim
Kläger liege ein lumbaler Morbus Scheuermann mit ausgeprägten Formveränderungen
der Lendenwirbelkörper vor, der im Hinblick auf die bandscheiben- bedingte Erkrankung
bei weitem im Vordergrund stehe. Auch ohne jegliche berufliche Expodition wäre das
beim Kläger vorliegende Krankheitsbild zu erwarten gewesen.
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Der Kläger hat dieser Beurteilung durch Vorlage einer Stellungnahme des Orthopäden
Dr. I widersprochen, der gemeint hat, es lasse sich nicht schlüssig beweisen, dass die
Hauptursache für die bandscheibenbedingten Veränderungen des Klägers in einem
Morbus Scheuermann liege.
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Das Berufungsgericht hat hierzu Dr. T erneut gehört, der in seiner ergänzenden
Stellungnahme vom 26.08. ausgeführt hat, beim Kläger zeige sich röntgenologisch und
kernspintomographisch das Vollbild einer Scheuermann schen Erkrankung. Am
Vorliegen dieser prädiskotischen Deformität gebe es keinerlei Zweifel.
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Der Kläger hat daraufhin eine Äußerung des Radiologen Dr. N vom 14.10.2002
vorgelegt, der darin die Auffassung vertreten hat, dass es sich bei den Veränderungen
an der Lendenwirbelsäule des Klägers nicht um das Bild eines Morbus Scheuermann
handele. Dr. T ist in der hierzu vom Berufungs gericht eingeholten Stellungnahme vom
26.11.2002 bei seiner Auffassung geblieben.
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Wegen der weiteren Einzelheiten der Sach- und Streitstandes wird auf die
Gerichtsakten, die Verwaltungsakte der Beklagten und den Auszug aus den über den
Kläger geführten Schwerbehindertengesetz-Akten des Versorgungsamtes C verwiesen.
Ihr wesentlicher Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung ist unbegründet.
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Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung seiner
Wirbelsäulenveränderungen als BK nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV. Er leidet nicht
an einer bandscheibenbedingten Erkankung der Lendenwirbelsäule durch längjähriges
Heben und Tragen schwerer Lasten oder langjährige Tätigkeiten in extremer
Rumpfbeugehaltung.
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Das folgt aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens. Dabei kann es offen bleiben, ob der
Kläger im Verlauf seines Berufslebens Belastungen durch schweres Heben und Tragen
oder durch Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung in einem Maße ausgesetzt war,
wie es die umstrittene BK erfordert. Auch wenn man dies unterstellt, ist eine BK 2108 zu
verneinen, weil es an dem erforderlichen rechtlichen wesentlichen
Ursachenzusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit und den
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bandscheibenbedingten Veränderungen an der Lendenwirbelsäule des Klägers fehlt.
Dieser Zusammenhang müßte mindestens wahrscheinlich sein, d. h. es müßte unter
Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein
deutliches Übergewicht zukommen, so dass hierauf die richterliche Überzeugung
gestützt werden kann (vgl. BSGE 45, 285, 286). Dies läßt sich hier nicht feststellen,
wobei es - wie noch näher darzulegen sein wird - nicht auf das tatsächliche Ausmaß der
Exposition ankommt.
Der Senat folgt dabei in erster Linie Dr. T. Dieser Sachverständige hat unter
Berücksichtigung und Abwägung aller relevanten Gesichtspunkte den
Kausalzusammenhang überzeugend verneint. Entscheidend gegen diesen
Zusammenhang spricht die beim Kläger vorliegende lumbale Ausprägung eines Morbus
Scheuermann. Die Wirbelsäule des Klägers zeigt das Vollbild einer Scheuermannschen
Erkrankung, wie Dr. T, der dem Senat als gerade für die Beurteilung von
Wirbelsäulenveränderungen besonders kompetenter Sachverständiger bekannt ist,
unter Auswertung radiologischer Befunde dargelegt hat. Danach finden sich
röntgenologisch an den Abschlußplatten aller Lendenwirbelkörper deutliche
Konturunregelmäßigkeiten mit welliger Deformierung sowie eine keilförmige
Deformierung der Lendenwirbelkörper 1 bis 3. Hierbei handelt es sich - wie Dr. T unter
Hinweis auf entsprechende Literaturangaben erläutert hat - um eindeutige und typische
Veränderungen einer Scheuermannschen Erkrankung. Damit korrespondieren auch die
Befunde der Kernspintomographie der Lendenwirbelsäule vom 31.10.2001, die - so Dr.
T - in der sagittalen Darstellung ausgeprägte Signalunregelmäßigkeiten der
Abschlußplatten im Sinne multipler Scheuermannscher Dysostosen bei keilförmiger
Deformierung der Lendenwirbelkörper aufweisen. Dr. T hat desweiteren die
Einflußnahme der Scheuermannschen Erkrankung auf die Entwicklung des
Bandscheibenleidens des Klägers eingehend dargelegt. Seine Einschätzung, wonach
der Scheuermannschen Erkrankung gegenüber den beruflichen Belastungen eine
überragende Bedeutung zukommt, hat der Sachverständige überzeugend damit
begründet, dass beim Kläger zum einen die lumbale Ausprägung eines Morbus
Scheuermann vorliegt, die regelmäßig zu einer direkten Schädigung der
Lendenwirbelsäule führt, zum anderen sämtliche Segmente der Lendenwirbelsäule von
der Scheuermannschen Erkrankung betroffen sind und außerdem das röntgenologische
Verteilungsmuster mit einer diffusen Beteiligung sämtlicher Segmente der
Lendenwirbelsäule für eine schicksalhafte Erkrankung der Lendenwirbelsäule spricht.
Angesichts dessen leuchtet seine Schlußfolgerung, dass auch ohne jegliche berufliche
Exposition mit der Entstehung eines adäquaten Krankheitsbildes etwa zum gleichen
Zeitpunkt und in gleichem Ausmaß zu rechnen gewesen wäre, ein. Dies stimmt mit der
Beurteilung von Dr. U überein, demzufolge die anlagebedingten Wirbelsäulenschäden
so erheblich sind, dass sie zwangsläufig zu Bandscheibenschäden führen. Wenn aber
der Erkrankungsverlauf unter Berücksichtigung der festgestellten prädisponierenden
Faktoren der zu erwartenden schicksalsmäßigen Entwicklung entspricht, läßt sich eine
wesentliche Teilursächlichkeit der beruflichen Belastungen - unabhängig von ihrem
Ausmaß - nicht wahrscheinlich machen.
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Der Senat hat keine Bedenken, die Feststellungen des Sachverständigen Dr. T seiner
Entscheidung zu Grunde zu legen. Weder die Stellungnahmen von Dr. I und Dr. N noch
die von Dr. U1 und Dr. T2 erstatteten Gutachten geben Anlaß, die Richtigkeit der von Dr.
T erhobenen Befunde und seiner Beurteilung in Frage zu stellen. Die von Dr. I
geäußerten Zweifel am Vorliegen keilförmiger Deformierungen teilt der Senat
angesichts der eindeutigen, auf einer mehrfachen Auswertung der Radiologiebefunde
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beruhenden Äußerungen des Sachverständigen Dr. T nicht, zumal auch Dr. U eine
Scheuermannsche Wachstumsstörung diagnostiziert und Dr. T2 in seinem für die
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte erstatteten Gutachten vom 13.03.2003
ebenfalls eine mäßige Keilform der Wirbelkörper L 1 und L 2 beschrieben hat. Dieses
Gutachten enthält auch ansonsten keine Feststellungen, die geeignet wären, die
Befundung und Beurteilung des Sachverständigen Dr. T in Zweifel zu ziehen. Dies gilt
in gleicher Weise für das von Dr. U1 für das Versorgungsamt C1 erstattete Gutachten
vom 16.11.2001. Bei der darin enthaltenen Feststellung, dass von dem Gesamt-GdB
von 30 20 auf Behinderungen, die auf einer typischen BK beruhen, entfallen, handelt es
sich um eine nicht näher begründete Annahme, die die aufgrund einer sorgfältigen
Abwägung aller relevanten Gesichtspunkte beruhende Beurteilung des
Sachverständigen Dr. T nicht zu widerlegen vermag. Schließlich gibt auch die
Stellungnahme des Radiologen Dr. N vom 14.10.2002 keine Veranlassung, die
Diagnose eines Morbus Scheuermann in Zweifel zu ziehen. Dieser Arzt läßt jegliche
Auseinandersetzung mit der Argumentation des Sachverständigen Dr. T, dass die im
medizinischen Schrifttum als typische Zeichen einer Scheuermannschen Erkrankung
genannten keilförmigen Deformierungen der Wirbelkörper und
Konturunregelmäßigkeiten der Abschlußplatten beim Kläger gegeben sind, vermissen.
Zu weiteren Ermittlungen von Amts wegen bestand kein Anlaß. Da es - wie oben
dargelegt - hier nicht darauf ankommt, ob die sogenannten arbeitstechnischen
Voraussetzungen erfüllt sind und - ihr Vorliegen unterstellt - das tatsächliche Ausmaß
der Exposition nicht entscheidungserheblich ist, brauchte der Senat den vom Kläger
gestellten Hilfsanträgen a) bis c) nicht nachzugehen, weil die darin genannten
Beweismittel sämtlich dem Nachweis von Art, Dauer und Intensität der beruflichen
Belastungen dienen sollen. Der Senat war auch nicht gehalten, ein radiologisches
Gutachten sowie ein arbeitsmedizinisches Gutachten wegen der Auswirkungen
beruflicher Verrichtungen in extremer Rumpfbeugehaltung im Zusammenwirken mit dem
Heben und Tragen schwerer Lasten einzuholen. Denn einer weiteren medizinischen
Sachaufklärung bedurfte es nicht, weil die entscheidungserhebliche Frage, ob die
bandscheibenbedingte Erkrankung des Klägers rechtlich wesentlich ursächlich auf
seine berufliche Tätigkeit zurückzuführen ist, durch die vorliegenden Gutachten
eindeutig geklärt ist. Der Senat hat schließlich auch keine Veranlassung gesehen, dem
weiteren Hilfsantrag des Klägers zu folgen und von der Bundeswehr eine Auskunft zu
der Frage einzuholen, ob eine zu musternde Person mit einer Scheuermannschen
Erkrankung noch dem Tauglichkeitsgrad 2 zugeordnet werden kann und wie die
Bundeswehr mit solchen Fällen verfährt. Eine solche Auskunft wäre nicht geeignet, die
Diagnose eines Morbus Scheuermann zu entkräften. Auch wenn unterstellt wird, dass
eine zu musternde Person, bei der das Vollbild einer Scheuermannschen Erkrankung
vorliegt, nicht dem Tauglichkeitsgrad 2, mit dem der Kläger aus der Bundeswehr
entlassen worden ist, zugeordnet wird, begründet dies angesichts der von Dr. U und Dr.
T beschriebenen Befunde keine Zweifel daran, dass der Kläger tatsächlich an einer
Scheuermannschen Erkrankung leidet.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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Für eine Revisionzulassung (§ 160 Abs. 2 SGG) bestand kein Anlass.
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