Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 20.04.1999
LSG NRW (diabetes mellitus, nahrung, eltern, sgg, verhandlung, nahrungsaufnahme, aufsicht, zuckerkrankheit, zubereitung, vorbereitung)
Landessozialgericht NRW, L 16 P 163/98
Datum:
20.04.1999
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 16 P 163/98
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 12 (6) P 101/97
Sachgebiet:
Pflegeversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts
Dortmund vom 26. August 1998 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche
Kosten sind auch für das Berufungsinstanz nicht zu erstatten. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
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I. Die 1991 geborene, jetzt acht Jahre alte Klägerin begehrt Pflegegeld nach den
Vorschriften des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs - Soziale Pflegeversicherung -
(SGB XI).
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Sie leidet seit 1994 an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus Typ I. Bei ihr sind eine
Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 sowie die
Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich der Hilfsbedürftigkeit im Sinne des
Steuerrechts (Merkzeichen "H") festgestellt. Die Zuckerkrankheit ist gut eingestellt. Die
Klägerin wird als wißbegieriges, sehr aufgewecktes Kind bezeichnet.
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Den am 25.09.1996 gestellten Antrag auf Zahlung eines Pflegegeldes lehnte die
Beklagte mit Bescheid vom 25.11.1996 und Widerspruchsbescheid vom 10.09.1997 ab,
nachdem der von ihr hinzugezogene ärztliche Gutachter Dr. W. nach einem
Hausbesuch lediglich einen krankheitsbedingten Grundpflegebedarf von 31 Minuten für
die mundgerechte Nahrungszubereitung und den anteiligen Zeitaufwand für einen
vierteljährlichen Arztbesuch ermittelt hatte. Allgemeine krankheitsbedingte Aufsicht, die
erforderlichen Blutzuckermessungen und die Insulininjektionen nebst deren
Vorbereitung rechnete er nicht zum ausgleichspflichtigen Pflegebedarf.
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Mit der am 12.09.1997 beim Sozialgericht (SG) Dortmund erhobenen Klage haben die
Eltern der Klägerin geltend gemacht, der Zeitaufwand für die Blutzuckermessungen, das
Spritzen von Insulin, die Zubereitung der Diätnahrung für die Klägerin sowie die
erforderliche Aufsicht über das Kind und die vermehrte Anleitung, wie die Klägerin mit
ihrer Krankheit umzugehen habe, seien ebenso bei der Bemessung des
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Pflegeaufwandes nach den Vorschriften des SGB XI zu berücksichtigen wie die
erforderlichen zusätzlichen Einkäufe. Dazu haben sie sich auf ein von ihnen
angefertigtes beispielhaftes Pflegeprotokoll für eine Woche gestützt.
Das SG hat die Klage unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
(BSG) - insbesondere Urteile vom 19.02.1998, Az. B 3 P 3/97 R und B 3 P 11/97 R -
durch Urteil vom 26.08.1998 abgewiesen. Nach den glaubhaften Angaben der Mutter
der Klägerin müsse der Klägerin beim Waschen (täglich 5 Minuten), Baden (drei mal
wöchentlich, im Durchschnitt täglich 13 Minuten), bei der Zahnpflege und beim Kämmen
(je einmal täglich 5 Minuten), beim An- und Auskleiden (zweimal täglich insgesamt 15
Minuten) sowie beim Aufstehen und Zubettgehen (zweimal täglich, insgesamt 18
Minuten) geholfen werden. Berücksichtige man, daß Kindern üblicherweise geholfen
werden müsse, verbleibe ein Hilfsbedarf von 30 Minuten. Ob dieser krankheitsbedingt
sei, könne dahinstehen, denn der vom Gesetz für eine Pflegegeldleistung geforderte
Mindestaufwand von mehr als 45 Minuten Grundpflege werde nicht erreicht. Berechnen,
Zusammenstellen, Abwiegen der Nahrung gehöre nicht zum Bereich der Grundpflege,
sondern sei den hauswirtschaftlichen Pflegeverrichtungen zuzuordnen.
Blutzuckermessungen seien weder dem mundgerechten Zubereiten der Nahrung noch
der Nahrungsaufnahme zuzuordnen, sondern stellten eine nicht
berücksichtigungsfähige selbständige Maßnahme der Behandlungspflege dar. Soweit
die Klägerin - insbesondere wegen der Gefahr einer Unterzuckerung - ständiger Aufsicht
bedürfe, sei dies im Rahmen der Pflegeversicherung nicht zu berücksichtigen.
Schließlich sei es nicht verfassungswidrig, daß der Gesetzgeber, daß der Gesetzgeber
den Kreis der leistungsberechtigten Personen auf solche begrenzt habe, bei denen ein
Hilfebedarf entsprechend dem Katalog des § 14 SGB XI festzustellen sei. Wegen der
Einzelheiten nimmt der Senat Bezug auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen
Urteils.
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Auf das ihr am 02.10.1998 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 20.10.1998 Berufung
eingelegt. Sie wiederholt ihren Vortrag aus dem erstinstanzlichen Verfahren und wendet
sich gegen die Rechtsprechung des BSG.
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Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 26.08.1998 abzuändern und die Beklagte
unter Aufhebung ihres Bescheides vom 25.11.1996 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 10.09.1997 zu verurteilen, ihr - der Klägerin - ab
September 1996 Leistungen für häusliche Pflege in der Pflegestufe I nach den
Vorschriften des
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XI. Buchs des Sozialgesetzbuchs zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält das angefochtene Urteil für überzeugend.
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Der Senat hat die Beteiligten mit Schreiben vom 10.03.1999 daraufhingewiesen, daß
beabsichtigt sei, die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen
Beschluss der Berufsrichter zurückzuweisen, und den Beteiligten Gelegenheit zur
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Stellungnahme gegeben.
Wegen aller Einzelheiten des Sach- und Streitstandes bezieht sich der Senat
ergänzend auf den Inhalt der von den Beteiligten gewech selten Schriftsätze und der
über die Klägerin geführten Gerichts- und Verwaltungsakten.
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II. Die Berufung ist unbegründet.
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Der Senat kann diese Entscheidung auch ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter
und ohne mündliche Verhandlung gemäß § 153 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes
(SGG) fällen, weil die Beteiligten auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind und
angesichts der eingehenden Verhandlung im Beisein der Eltern der Klägerin vor dem
SG eine nochmalige mündliche Verhandlung nicht mehr erforderlich erscheint. Die
Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Entscheidung ist einstimmig
ergangen.
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Die Voraussetzungen für die Gewährung eines Pflegegeldes nach §§ 14, 15 und 37
SGB XI sind nicht erfüllt, wie sich aus den überzeugenden Entscheidungsgründen des
SG ergibt. Diesen Ausführungen ist nur wenig hinzuzufügen. Deshalb nimmt der Senat
insoweit auf die zutreffenden Gründe des erstinstanzlichen Gerichts vollinhaltlich Bezug,
§ 153 Abs. 2 SGG.
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Ergänzend weist der Senat zu den Einwendungen der Klägerin gegen die Entscheidung
des SG auf Folgendes hin:
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Das Berechnung, das Zusammenstellen und das Abwiegen von Diätmahlzeiten
beinhaltet Vorgänge, die der unmittelbaren Vorbereitung der Mahlzeit dienen.
Mundgerechtes Zubereiten, wie es etwa die Richtlinien der Spitzenverbände zur
Begutachtung von Pflegebedürftigkeit zutreffend unter Punkt D.5.2. verstehen, erfaßt die
zeitlich direkt vor der Aufnahme der Nahrung liegenden Schritte, die es dem
Pflegebedürftigen ermöglichen, auch ohne weitere fremde Hilfe die Nahrung zu sich zu
nehmen. Dazu zählt etwa das Eingießen eines Getränks oder das Zerkleinern der
Nahrung, wenn diese Verrichtungen dem Pflegebedürftigen etwa deshalb nicht möglich
sind, weil die Hände zu sehr zittern oder seine verbliebenen Kräfte zu schwach sind.,
ein Brot oder Fleisch zu zerteilen. Die Zusammenstellung der Nahrung unter
Diätgesichtspunkten ist ähnlich zu sehen, wie die Zubereitung ausreichender Portionen
bei gesunden Personen.
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Die von der Klägerin herausgestellten Blutzuckermessungen sind typische
Verrichtungen, die der Behandlung der Zuckerkrankheit dienen. Denn es entspricht der
ärztlichen Anweisung, den Zuckerhaus halt entsprechend der Über- oder
Unterzuckerung durch Insulin oder medikamentöse bzw. diätetische Maßnahmen zu
beeinflussen. Dies ist dementsprechend eher der Behandlungspflege als der
Grundpflege zu zuordnen. Soweit diese Maßnahmen im Einzelfall wegen der engen
zeitlichen Verbindung zu der Nahrungsaufnahme diesem Bereich zuzuordnen sein
sollten, läßt die Aufstellung der Eltern im Pflegeprotokoll erkennen, daß dafür nur
jeweils etwa 2 Minuten erforderlich sind, so daß sich eine signifikante Erhöhung des
maßgeblichen Grundpflegebedarfs auf insgesamt mehr als 45 Minuten nicht ergibt.
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Die Gabe von Insulin als Nahrungsaufnahme zu kennzeichnen, verbietet sich. Denn
hierbei handelt es sich um ein typisches Medikament, dessen Verabreichung in den
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Bereich der Behandlungspflege zu rechnen ist.
Unbestritten bleibt, daß der Aufsichts- und Überwachungsbedarf der Klägerin, der von
den Eltern in besonders anerkennenswerter Weise sichergestellt wird, ein Vielfaches
von dem beträgt, der bei gesunden Kindern nötig ist. Indes hat der Gesetzgeber diesen
allgemeinen Überwachungsbedarf nicht bei der Schaffung der Einstufungsvorschriften
der §§ 14 und 15 SGB XI zugrundegelegt. Dies hat das BSG in seinen neueren Urteilen
vom 26.11.1998 - B 3 P 2/98, 12/97 und 20/97 R - nochmals herausgestellt. Derartige
Aufwendungen werden außerhalb des Sozialhilferechts derzeit (nur noch) über die
steuerliche Pauschalregelung des § 33 b Abs. 3 EStG abgegolten, einer Regelung, die
hilfsweise von den Eltern der Klägerin in Anspruch genommen werden kann (§ 33 b
Abs. 5 EStG), nachdem bei der Klägerin die Voraussetzungen für den
schwerbehindertenrechtlichen Nachteilsausgleich "H" festgestellt worden sind.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
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Anlaß, die Revision zuzulassen, hat nicht bestanden, weil die Voraussetzungen des §
160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
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