Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14.07.2004
LSG NRW: commotio cerebri, rechtliches gehör, arbeitsunfähigkeit, gerichtlicher vergleich, psychiatrisches gutachten, höchstpersönliches recht, distorsion, arbeitsunfall, gerichtsverfahren
Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Vorinstanz:
Sachgebiet:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Rechtskraft:
Landessozialgericht NRW, L 2 KN 95/03 U
13.05.2004
Landessozialgericht NRW
2. Senat
Urteil
L 2 KN 95/03 U
Sozialgericht Gelsenkirchen, S 18 KN 54/03 U
Unfallversicherung
rechtskräftig
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts
Gelsenkirchen vom 25.06.2003 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch
im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Entschädigung einer Berufskrankheit (BK) Nr 4111 der Anlage zur
Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).
Der im November 1944 geborene Kläger wurde im April 1959 als Berglehrling im
Deutschen Steinkohlenbergbau angelegt und war als Bergjungarbeiter, ab Oktober 1961
als Schlepper unter Tage, ab Juni 1966 als Lehrhauer unter Tage tätig. Am 13.05.1967
kehrte er ab und arbeitete in der Folgezeit außerhalb des Bergbaus.
Auf Veranlassung der Berufsgenossenschaft (BG) für die Chemische Industrie erstattete
Arzt für Allgemeinmedizin L aus C im April 1996 eine Anzeige über eine Berufskrankheit
("fragliche Silikosestaubbelastung"): Der Kläger leide unter Luftnot, Husten und Auswurf
und werde durch Gabe von Broncholytica therapiert. Der Kläger gab an, er leide seit 1994
unter Hustenanfällen. Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten ermittelte bei
Unterstellung sehr ungünstiger Staubverhältnisse für die Jahre 1961 bis 1967 eine
Feinstaubbelastung von 61,2 Feinstaubjahren (Stellungnahme vom 05.07.1996). Die
Beklagte lehnte die Entschädigung einer chronischen obstruktiven Bronchitis oder eines
Lungenemphysems nach §§ 551 Abs 1 und 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ab
(Bescheid vom 06.08.1996). Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.
Im Februar 2002 stellte der Kläger einen Entschädigungsantrag "wegen beruflicher
Atemwegserkrankung einschließlich der Frage einer Silikose sowie des
Bergarbeiteremphysems" und meinte, bereits 61,2 Feinstaubjahre dürften beachtlich sein.
Die Beklagte lehnte die Rücknahme des Bescheides vom 06.08.1996 ab, weil neue
Tatsachen nicht vorlägen (Bescheid vom 15.04.2002, gestützt auf § 44 Zehntes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB X)). Im Widerspruchsverfahren holte sie eine Auskunft der
Zentralstelle für Arbeitsauskünfte der Deutschen Steinkohle AG (DSK) ein, die weitere 1,39
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Zentralstelle für Arbeitsauskünfte der Deutschen Steinkohle AG (DSK) ein, die weitere 1,39
zu berücksichtigende Feinstaubjahre ermittelte (Stellungnahme vom 22.11.02). Den
Widerspruch wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 06.02.2003).
Mit seiner Klage beim Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen hat der Kläger vorgetragen, 2/3 der
Regelbelastung könnten ebenfalls wesentlich sein. Das folge aus der praktischen
Lebenserfahrung. Bei der Untersuchung der arbeitstechnischen Voraussetzungen sei nicht
hinreichend ermittelt worden. Unter Tage hätten sich verschiedenste Belastungen
einschließlich solcher durch Isocyanate ergeben. Diese seien mit zu berücksichtigen.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 15.04.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides
vom 06.02.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom
06.08.1996 zurückzunehmen und ihm aus Anlass der bei ihm bestehenden
Emphysembronchitis eine Verletztenrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen
zu gewähren.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat ihre Entscheidung für zutreffend gehalten.
Das SG hat die Klage abgewiesen: Die Beklagte habe bei Erlass des Bescheides vom
06.08.1996 das Recht nicht unrichtig angewandt (Urteil vom 25.06.2003).
Mit seiner Berufung trägt der Kläger ergänzend vor, die Beklagte habe die geltende
Kausalitätsnorm verkannt. Außerdem könne die weitere Asbest- und Aluminiumbelastung
aus dem späteren Berufsleben des Klägers im Zusammenhang mit der Feinstaubbelastung
von Bedeutung sein. Er verweise auf den Bericht von Dr. T aus C (24.07.2003).
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 25.06.2003 zu ändern und nach dem
Schlussantrag erster Instanz zu erkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie meint, der Kläger verkenne die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 4111.
Der Senat hat eine Stellungnahme des Prof. Dr. Q, Direktor des Instituts und der Poliklinik
für Arbeits- und Sozialmedizin der Universitätskliniken L, aus einem Parallelverfahren zu
den Akten genommen, und diesen Arzt als Sachverständigen gehört. Er hat ausgeführt,
beim Kläger seien bisher weder eine Obstruktion noch ein Emphysem nachgewiesen. Es
gebe derzeit keinen medizinischen Erfahrungssatz, wonach eine Feinstaubbelastung von
etwa 62 Feinstaubjahren unter den Begriff "in der Regel 100 Feinstaubjahre" der BK 4111
zu subsumieren sei. Es sei außerdem auszuschließen, dass eine maximale Dosis von
etwa 62 Feinstaubjahren die haftungsbegründende Kausalität für die Anerkennung einer
BK 4111 begründe (Gutachten vom 16.03.04).
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands nimmt der Senat auf die Gerichtsakten
sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug. Sämtliche Akten sind Gegenstand der
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mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist unbegründet.
Zu Recht hat das SG die ablehnende Entscheidung der Beklagten bestätigt. Der Kläger ist
durch den Bescheid vom 15.04.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom
06.02.2003 (§ 95 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) nicht beschwert, weil dieser Bescheid nicht
rechtswidrig ist, § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Die Voraussetzungen des Anspruchs auf
Rücknahme des Bescheides vom 06.08.1996 und Zahlung von Verletztenrente wegen
einer chronischen obstruktiven Bronchitis oder eines Emphysems als BK sind nicht erfüllt.
Dies steht zur Überzeugung des Senats als Ergebnis der Beweisaufnahme fest.
Der geltend gemachte materielle Anspruch richtet sich nach dem alten, vor Inkrafttreten des
7. Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 01. Januar 1997 maßgeblichen Recht der RVO,
weil der Kläger einen Anspruch geltend macht, der bereits vor diesem Zeitpunkt - nämlich
spätestens im Jahre 1996 - entstanden sein soll, § 212 SGB VII, Art 36 des Gesetzes zur
Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch
(Unfallversicherungs- Einordnungsgesetz - UVEG). Außerdem ist die zum 01. Dezember
1997 in Kraft getretene neue Fassung der BKV, in deren Anlage die streitige BK 4111 neu
aufgenommen worden ist, maßgeblich, da sie mit Inkrafttreten auch auf zu diesem Zeitpunkt
bereits abgeschlossene Verfahren, die über § 44 SGB X erneut aufgegriffen werden,
anzuwenden ist (BSGE 85, 24ff = SozR3-2200 § 551 Nr. 13).
Ein Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 06.08.1996 und Gewährung von zu
Unrecht nicht erbrachten sozialen Leistungen ab dem 01.01.1998 (§ 44 Abs 4 SGB X)
besteht nicht, § 44 Abs 1 SGB X. Gemäß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt,
auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit
zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsakts das
Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich
als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden
sind. Die Beklagte hat den Antrag des Klägers abgelehnt und - jedenfalls im
Widerspruchsbescheid - die Gründe für ihre ablehnende Entscheidung im Einzelnen
dargelegt. Dadurch hat sie nach außen hin deutlich gemacht, dass sie aufgrund erneuter
Prüfung in der Sache entschieden hat. Dies war auch geboten, da zum einen im
Widerspruchsverfahren neue Tatsachen bekannt geworden waren (Auskunft der DSK vom
22.11.2002), zum anderen - anders als 1996 - nunmehr - auch im Verfahren nach § 44 SGB
X (BSG aaO) - über eine BK 4111 zu entscheiden war. Diese Entscheidung ist gerichtlich
darauf zu überprüfen, ob die Beklagte bei ihrer Überprüfung zu dem Ergebnis hätte
kommen müssen, dass sie mit ihrem früheren, bindend gewordenen Bescheid den
Anspruch zu Unrecht abgelehnt hat (vgl dazu BSG SozR3-2600 § 243 Nr 8 mwN). Dies ist
jedoch nicht der Fall.
Der Träger der Unfallversicherung gewährt nach Eintritt eines Arbeitsunfalls wegen dessen
Folgen Leistungen, insbesondere Verletztenrente, §§ 547, 548, 581 Abs 1 Nr 2 RVO. Als
Arbeitsunfall gilt auch eine Berufskrankheit, 551 Abs 1 Satz 1 RVO. Berufskrankheiten sind
- nur - diejenigen Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung
bezeichnet, wenn sie ein Versicherter bei einer der in den § 539, 540 und 543 bis 545
genannten Tätigkeiten erleidet, § 551 Abs 1 Satz 2 RVO. Eine solche Bezeichnung erfolgt
durch die Aufnahme in die BKV als sog. Listenkrankheit. Zu diesen gehört nach der Nr
4111 der Anlage zur BKV auch die chronische obstruktive Bronchitis oder das Emphysem
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von Bergleuten unter Tage im Steinkohlenbergbau bei Nachweis der Einwirkung einer
kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren [(mg/m³)x Jahre].
Für die Entschädigung von Folgen einer solchen Erkrankung als BK nach Nr 4111 der
Anlage zur BKV müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Es muss eine chronische
obstruktive Bronchitis oder ein Emphysem vorliegen. Der Versicherte muss als Bergmann
unter Tage im Steinkohlenbergbau bei versicherter Tätigkeit der Einwirkung einer
kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren ausgesetzt gewesen sein. Die
Krankheit muss mit Wahrscheinlichkeit durch die Einwirkung der kumulativen Dosis von in
der Regel 100 Feinstaubjahren bei - versicherter - Tätigkeit als Bergmann unter Tage
zumindest wesentlich mitbedingt sein. Versicherte Tätigkeit, schädigende Einwirkung und
Erkrankung müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender,
vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein. Außerdem
müssen die genannten Anspruchsvoraussetzungen ursächlich miteinander verknüpft sein;
insbesondere muss zwischen versicherter Tätigkeit und schädigenden Einwirkungen
einerseits und zwischen schädigenden Einwirkungen und der Erkrankung andererseits ein
ursächlicher Zusammenhang nach der im Sozialrecht geltenden Lehre von der
wesentlichen Bedingung bestehen, wobei für die Bejahung eines solchen
Zusammenhangs die hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt (ständige Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts (BSG): BSGE 45, 285, 286; 58, 76, 79; BSG HVBG - Info 2000,
2811ff, BSG SozR3-5670 Anlage 1, 2108 Nr 2; Brackmann, Handbuch der Versicherung,
11. Auflage, Seite 480 mwN; Hauck in Weiss/Gagel (Hrsg). Handbuch des Arbeits- und
Sozialrechts. Systematische Darstellung Stand Januar 2003; § 22A. Die Unfallrenten, Rdnr
67).
Für die Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen im Einzelnen ist das vom
Bundesministerium für Arbeit- und Sozialordnung herausgegebene Merkblatt zu Nr 4111
der Anlage zur BKV (Bundesarbeitsblatt 1997 Heft 12, Seite 35) als wertvolle
Orientierungshilfe heranzuziehen, das - allerdings rechtlich unverbindliche - Hinweise für
die Beurteilung im Einzelfall aus arbeitsmedizinischer Sicht bietet (vgl BSG, Urteil vom
18.03.2003, Aktenzeichen (Az) B 2 U 13/02 R; BSG SozR3-5670 Anl. 1 Nr 2108 Nr 2; BSG
HVBG - Info 1999, 1373ff).
Nach der Ergebnis der Beweisaufnahme sind die Voraussetzungen des Leistungsfalles
"Nachweis der Einwirkung einer Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren" nicht erfüllt.
Es ist bereits nicht nachgewiesen, dass die in der BK 4111 bezeichneten
Gesundheitsstörungen chronisch obstruktive Bronchitis und/oder Emphysem vorliegen. Der
Sachverständige Prof. Dr. Q hat dargelegt, dass eine Obstruktion bisher nicht erwiesen ist.
Für ein Emphysem bestehen nach Lage der Akten keinerlei Anhaltspunkte. Etwas anderes
folgt auch nicht aus dem Bericht des Pneumologen Dr. T. Danach ergibt der HRCT-Befund
nur "Hinweise auf emphysematöse Veränderungen". Auch die unspezifische Diagnose
"mittelschwere COPD" wird nicht näher begründet. Die von ihm erhobenen
Lungenfunktionsbefunde genügen nicht den von Prof. Dr. Q genannen Anforderungen für
die chronische obstruktive Bronchitis eines Tiffeneau-Index (FEV1/FVC) ( 70% in
Kombination mit einer Erniedrigung der postdilatarorischen FEV1 ( 80%, da der Tiffeneau-
Index 70% deutlich übersteigt.
Zudem fehlt es am Nachweis der sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen, der
"Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren". Diese
normativ festgelegte Grenze ist mit der nachgewiesenen Belastung von 62,6
Feinstaubjahren deutlich unterschritten. Auszugehen ist von einer Dosis von 62,6
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Feinstaubjahren. Der TAD der Beklagten hat - bei Unterstellung ungünstiger
Staubverhältnisse - 61,2 Feinstaubjahre (Stellungnahme vom 05.07.1996) zuzüglich
weiterer 1,39 Feinstaubjahre (Stellungnahme vom 22.11.2002), mithin eine Gesamtdosis
von etwa 62,6 Feinstaubjahren ermittelt. Diese deutliche Unterschreitung erübrigt es, die
genaue Untergrenze der erforderlichen Mindestbelastung zu markieren. Es genügt
festzuhalten, dass die Einwirkung von nachweislich 62.6 Feinstaubjahren in jedem Fall
den tatbestandlichen Voraussetzungen von "in der Regel 100 Feinstaubjahren" nicht
genügt. Anderes verletzte die Regeln zulässiger Auslegung (vgl zu den Grenzen BSG
Urteil vom 09.12.2003, Aktenzeichen (AZ) B 2 U 5/03 R; Urteil vom 06.05.2003, Az B 2 U
35/02 R SozR 4-2700 § 185 Nr 1; Urteil vom 18.03.2003, Az B 2 U 13/02 R, SozR 4-2700 §
9 Nr 1, Urteil vom 13.08.2002, Az B 2 U 30/01 R, SozR 4-2700 § 46 Nr. 1; Urteil vom
04.12.2001, Az B 2 U 37/00 R, SozR 3-5671 Anl 1 Nr 4104 Nr 1, jeweils mwN; Hauck,
Wirtschaftsgeheimnisse - Informationseigentum kraft richterlicher Rechtsbildung? Berlin
1987, § 5 und § 9 II Nr. 1). Ausgangspunkt zulässiger Auslegung unter Beachtung der
normativen Vorgabe insbesondere des Vorbehalts des Gesetzes (§ 31 Erstes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB I)) und des § 2 Abs 2 SGB I ist die Qualität als rechtssatzmäßig
gefasstes generelles Eignungskriterium. Der Verordnungsgeber hat sich bei der Aufnahme
der BK 4111 in die BKV als Listenkrankheit entschieden, die für die BK erforderlichen
beruflichen Einwirkungen in Sinne eines generellen Grenzwertes für die wissenschaftlich
erkannte Dosis- Wirkung-Beziehung in den Text der Verordnung aufzunehmen. Anders als
z.B. bei Berufskrankheiten durch mechanische Einwirkungen (vgl insbesondere zur BK
2108: BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1 mwN) hat er damit die für die Anerkennung der
BK erforderlichen schädigenden beruflichen Einwirkungen - hier in Form einer kumulativen
Feinstaubdosis - durch einen Grenzwert normativ festgelegt (ähnlich bei der 3. Alternative
der BK 4104 zur BKV). Dabei geht er davon aus, dass die von ihm festgelegte Dosis
generell das Risiko verdoppelt, an einer chronischen obstruktiven Bronchitis oder einem
Emphysem zu erkranken (vgl BR-Drucks 642/97, S. 19; siehe zur Datenlage BArBl.
10/1995, S. 39ff., 43; vgl auch Merkblatt für die ärztliche Untersuchung aaO). Die
Grenzwertnormierung erfolgte gezielt. Vor der Aufnahme der BK 4111 in die
Berufskrankheitenliste wurden andere Anerkennungskriterien wie etwa radiologische
Veränderungen des Lungengewebes diskutiert (Prof. Dr. Q). Demgegenüber stellt sich die
kumulative Dosis von 100 Feinstaubjahren "als gut gesicherte Größe für die Verdoppelung
des Erkrankungsrisikos" nach "sorgfältiger Abwägung und Prüfung der Datenlage" dar
(BR-Drucks 642/97, S. 19). "Diese Größe ist ein mittlerer Schätzwert, der einer oberen
Konfidenzgrenze vorgezogen wird, zumal Abweichungen nach oben und unten gleich
verteilt sind" (vgl ebenda). Mit der Entscheidung, die als Einwirkung erforderliche
Feinstaubdosis normativ festzulegen, kommt es aber nur noch darauf an, ob die geforderte
Gesamteinwirkungsdosis nachweislich vorliegt. Das ist beim Kläger nicht der Fall.
Der normativ bestimmte Grenzwert von "in der Regel 100 Feinstaubjahren" lässt allerdings
Abweichungen von der Grenze "100 Feinstaubjahre" im Ausnahmefall zu. Das ergibt sich
bereits aus dem Wortsinn. Die Formulierung "in der Regel" konstituiert ein Regel-
/Ausnahmeverhältnis, nach dem bei typischen Sachverhalten auf den Nachweis der als
Regel festgelegten Dosis nicht verzichtet werden kann und ein Abweichen davon im
Einzelfall lediglich bei Vorliegen besonderer Umstände in Betracht kommt. Dies entspricht
auch der Funktion als mittlerer Schätzwert für eine in aller Regel nur auf der Grundlage
einer Abschätzung ermittelbaren Individualdosis und damit dem historischem Willen des
Verordnungsgebers sowie Sinn und Zweck der Norm. Es erhellt schließlich aus der
Systematik der BK-Tatbestände, die im Übrigen präzise gefasste Mindestdosen (vgl BK Nr
4104 3. Spiegelstrich), durch unbestimmte, aber bestimmbare Rechtsbegriffe umschriebene
Einwirkungsdosen (vgl z.B. BK Nrn. 2108-2111) und dosisunabhängig formulierte
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Umschreibungen der Einwirkungen kennt (vgl z.B. BK Nrn. 1101-1110).
Abweichungen von der Regel der "100 Feinstaubjahre" bedürfen damit als Ausnahmefall
besonderer Begründung. Die Gründe, die den Verordnungsgeber unter Beachtung der
Verordnungsermächtigung (vgl dazu BSG, Urteil vom 04.12.2001, Az B 2 U 37/00 R, aaO)
veranlasst haben, die erforderliche Exposition als Regelmindestdosis zu fassen, begrenzen
zugleich sachlich den Rahmen für die Begründung von Ausnahmefällen:
Einwirkungsdosen in einem Umfang, für den kein in der medizinischen Wissenschaft
gesicherter Erfahrungssatz besteht, der die Eignung für die Mitverursachung einer
chronischen obstruktiven Bronchitis oder eines Emphysems belegt, können keinen
Ausnahmefall begründen. So liegt es hier. Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand der
medizinischen Wissenschaften gibt es keinen Erfahrungssatz, wonach eine
nachgewiesene Feinstaubbelastung von etwa 62 Feinstaubjahren unter den Begriff "in der
Regel 100 Feinstaubjahre" subsumiert werden kann (vgl Sachverständigengutachten Prof.
Dr. Q). Damit harmoniert, dass die wissenschaftlichen Grundlagen für die Aufnahme der BK
Nr 4111 für die vom Verordnungsgeber gewählte Risikoverdoppelung Kumulationswerte
von zwischen 75 und 108 Feinstaubjahren ergaben (Lange, Tischvorlage vom 22.10.1994;
ähnliche Werte bei X. Baur, vgl hierzu BArbBl. 10/1995 S. 43), abweichende Annahmen
aufgrund von Unzulänglichkeiten der verwendeten Daten nicht verwertbar erscheinen
(Stellungnahme der Sachverständigenbeirats zu Seixas et al. 1992, BArbBl. 10/1995, S.
43) und nur Jacobs bei Rauchern von einem Rahmen von 60-200 Feinstaubjahren ausging
(vgl ebenda), allerdings bei bis zu 35 Jahren Exposition (vgl auch Q,
Sachverständigengutachten).
Zu erwägen ist, unter Berücksichtigung der Motive des Verordnungsgebers grundsätzlich
nur in einem Schwankungsbereich von 5% um die geforderten 100 Feinstaubjahre
Abweichungen von der geforderten Exposition zuzulassen.
Die Motive, die Formulierung "in der Regel" zu wählen, waren, dass aus
epidemiologischen Studien grundsätzlich nur "Schätzgrößen" mit einem
Unsicherheitsbereich innerhalb eines Konfidenzintervalls berechnet werden können und
aus den zu Grunde gelegten Studien ein punktueller Expositionswert für eine
Risikoverdopplung nicht präzise abgeleitet werden kann. Deshalb täuschte ein absoluter
Grenzwert eine wissenschaftlich nicht begründbare Sicherheit vor. Unter dieser Prämisse
mag eine Abweichung von weniger als 5 % vom Regelfall keine den Versicherungsfall
grundsätzlich ausschließende Abweichung sein. Denn sie liegt im Unschärfebereich, der
mit der Formulierung "in der Regel" für besonders begründbare Ausnahmefälle einbezogen
werden sollte. Auch bei einer Abweichung innerhalb des Unschärfebereichs 5%iger
Abweichung sind jedoch für die Annahme hinreichender Exposition zusätzliche Kriterien
wie Expositionsdauer, Nikotinkonsum, Zeitintervall zwischen Exposition und konkreter
Erkrankung heranzuziehen. Bei einer Abweichung von mehr als 5 % vom Grenzwert
handelt es sich aber üblicherweise um eine statistisch signifikante Abweichung, die den
Versicherungsfall ausschließt. Dass dies erst recht bei einer Abweichung von etwa 37,4
Prozent gelten muss - wie dargelegt - , liegt auf der Hand.
Erfüllt der Kläger damit schon nicht die normativ festgelegten arbeitstechnischen
Voraussetzungen, bedarf es keines Eingehens auf die vom Kläger zur Begründung seines
Anspruchs angeführten Erwägungen zur Kausalität.
Sonstige schädigende Noxen, denen der Kläger während seines - weiteren - Berufslebens
ausgesetzt gewesen sein mag, sind - nach dem zuvor Gesagten - für die - hier allein
streitige - Entschädigung wegen einer BK 4111 ohne Belang (vgl. sinngemäß auch BSGE
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91,23 = SozR 4-2700 § 9 Nr. 1).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs 1 SGG.
Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs 2 SGG. Die Entscheidung des
Senats besteht, soweit sie auf rechtlichen Erwägungen beruht, in Einklang mit der
höchstrichterlichen Rechtsprechung. Im Übrigen sind für die Entscheidung die besonderen
Umstände des Einzelfalls maßgeblich.