Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 16.07.2003

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Landessozialgericht NRW, L 11 KA 66/02
Datum:
16.07.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
11. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 11 KA 66/02
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 14 (25) KA 107/01
Sachgebiet:
Vertragsarztrecht
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Düsseldorf vom 29.04.2002 wird zurückgewiesen. Die
Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im
Berufungs- und Klageverfahren. Der Bescheid der Beklagten vom
30.04.2003 wird aufgehoben. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit von Aufhebungs- und
Rückforderungsbescheiden betreffend die Quartale IV/1981 bis I/1985.
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Der Kläger ist als Orthopäde im R ... zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. In
den Jahren ab 1980 war er gemeinsam mit den Kassenärzten Dr. K ... und Dr. T ... tätig,
ob im Rahmen einer Gemeinschaftspraxis oder Praxisgemeinschaft ist offen. Er wurde
durch Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 19.02.1992 wegen Betruges in vierzehn
Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 350 Tagessätzen verurteilt. Die gegen das Urteil
eingelegte Revision wurde vom Bundesgerichtshof mit Urteil vom 10.03.1993 - 3 StR
461/92 - verworfen. Wegen betrügerischer Abrechnungen der Praxis Dres. K ..., B ... und
T ... wurden von den Primärkassen gegenüber der Beklagten mehrere Millionen
Deutsche Mark an Gesamtvergütung für nachfolgende Quartale einbehalten. Die
diesbezüglichen Rechtstreitigkeiten S 25 KA 73/92, S 25 KA 81/92 und S 25 KA 150/92
wurden durch die vergleichsweise Vereinbarung einer Einbehaltung in Höhe von
500.000,- DM am 08.06.1994 beendet.
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Auch zwischen dem Kläger, vertreten durch seinen jetzigen Prozeßbevollmächtigten,
und der Beklagten, vertreten durch Herrn Rechtsanwalt Dr. R ..., fanden
Vergleichsverhandlungen statt. Mit Schreiben vom 08.03.1994 teilte der
Prozeßbevollmächtigte des Klägers mit, seine Mandanten - Dres. K ..., B ... und T ... -
seien bereit, 100.000,- DM an die Beklagte zu zahlen. Mit Schreiben vom 20.05.1994
bat Rechtsanwalt Dr. R ... um verbindliche Bestätigung, dass die Zahlungen binnen
eines Monats nach Vergleichsabschluss erfolgen würden. Der Prozeßbevollmächtigte
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bestätigte daraufhin mit Schreiben vom 06.06.1994, dass seine Mandanten je 33.333,33
DM binnen eines Monats nach Vergleichsabschluss zahlen würden. Die Zahlung werde
mit der Maßgabe erfolgen, dass damit alle gebührenordnungsmäßigen Unrichtigkeiten
im Hinblick auf die Quartale, die Gegenstand der obengenannten Rechtsstreite waren,
erledigt seien. Dr. R ... antwortete mit Schreiben vom 09.06.1994, dass unzweifelhaft
eine gesamtschuldnerische Haftung der Dres. K ..., B ... und T ... gegeben sei. Die
Beklagte sei nicht bereit, sich lediglich auf die Zahlungsansprüche gegen die einzelnen
Ärzte verweisen zu lassen. Der Vorgang könne möglicherweise dadurch erledigt
werden, dass die Mandanten veranlaßt würden, den Betrag von 100.000,- DM
insgesamt an die Beklagte zu zahlen. Ferner könnten nur die Ansprüche erledigt
werden, die Gegenstand der bisherigen Rechtsstreite gewesen seien. In seinem
Schreiben vom 28.07.1994 stimmte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers der
vorgeschlagenen Erledigungsklausel zu und teilte ferner mit, dass er davon ausgehe,
dass die 100.000,- DM getilgt würden, so dass sich die Frage der
gesamtschuldnerischen Haftung erledige. Er gehe davon aus, dass gegenüber Dres. K
... und B ... eine Verrechnung erfolge und Dr. T ... den ausstehenden Betrag überweise.
In der Folgezeit wurde der Betrag von 100.000,- DM von den drei Ärzten insgesamt
beglichen.
Mit angefochtenem Bescheid vom 28.02.1996 hob die Beklagte die
Abrechnungsbescheide für die Quartale IV/1981 bis I/1985 im Bereich der Primärkassen
auf. Das Honorar für die genannten Quartale werde vermindert um jeweils 1/14 von
500.000,- DM in jedem Quartal neu festgesetzt. Das zuviel gezahlte Honorar in Höhe
von 500.000,- DM werde zurückgefordert. Die Beklagte bezog sich dabei auf die durch
Urteil des BGH vom 10.03.1993 nunmehr rechtskräftig festgestellten
Falschabrechnungen sowie darauf, dass ihr Schaden 500.000,- DM betrage. Der
gezahlte Betrag in Höhe von 33.333,33 DM werde als Teilleistung auf den zu zahlenden
Betrag von 500.000,- DM angerechnet. Der Kläger sei verpflichtet, den Betrag von
466.666,67 DM zurückzuzahlen.
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Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und trug vor, dass durch die
vergleichsweise Vereinbarung der Zahlung von 100.000,- DM alle Ansprüche erledigt
sein. Die Beklagte habe die Zahlung auch widerspruchslos entgegengenommen. Die
Höhe der Rückforderung sei nicht nachvollziehbar, weil er nur einer von drei Beteiligten
sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 16.10.1997 wies die Beklagte den Widerspruch
zurück.
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Dagegen richtete sich die Klage, zu deren Begründung der Kläger sich im wesentlichen
auf sein Vorbringen im Widerspruchsverfahren bezog. Es sei ein Vergleich mit der
Beklagten abgeschlossen worden, der in der Folgezeit auch vollzogen worden sei. Die
Berufung darauf, dass der Vergleich nicht wirksam sei, verstoße gegen Treu und
Glauben, denn die Zahlungen seien von der Beklagten unwidersprochen
entgegengenommen worden. Der Betrag von 500.000,- DM sei von der Beklagten
gegenüber den Krankenkassen nur akzeptiert worden, weil ihr durch die hohen
Einbehaltungen der Primärkassen Zinsverluste gedroht hätten. Gegenüber Dr. T ... habe
die Beklagte keine Maßnahme ergriffen.
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Der Kläger hat beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 28.02.1996 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 16.10.1997 aufzuheben.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 29.04.2002 den Bescheid der
Beklagten aufgehoben und zur Begründung - wie der erkennende Senat zum Urteil vom
07.03.2001 - L 11 KA 77/99 - ausgeführt, dass der Abschluss eines Vergleichsvertrages
hier dem Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid entgegenstehe. Die Beteiligten
hätten sich außergerichtlich darauf geeinigt, dass die Dres. T ..., B ... und K ... insgesamt
100.000,- DM an die Beklagte zahlen sollten. Zwar habe man zunächst über die Frage
der gesamtschuldnerischen Haftung gestritten, die Beteiligten hätten sich aber
letztendlich dahingehend geeinigt, dass im Fall der tatsächlichen Zahlung von 100.000,-
DM eine Einigung über die gesamtschuldnerische Haftung nicht erforderlich sei. Da alle
Ärzte ihren Anteil an die Beklagte gezahlt hätten, sei der Vergleich vollzogen und die
Einigung wirksam geworden. Den Schriftformer- fordernissen sei genügt. Eine
Urkundeneinheit sei nicht erforderlich.
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Mit Bescheid vom 30.04.2002 hat die Beklagte unter Abänderung des Erstbescheides
vom 28.02.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.1997 die
Honorarbescheide für die Quartale IV/1981 bis I/1985 für den Bereich der RVO-
Krankenkassen teilweise aufgehoben und Honorar in Höhe von 204.516,75 Euro
zurückgefordert.
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Zur Begründung der Berufung trägt die Beklagte vor, es fehle für die Annahme eines
Vergleichsvertrages an übereinstimmenden Willenserklärungen. Die Beklagte habe das
Angebot im Schreiben vom 06.06.1994 nicht angenommen, sondern klargestellt, dass
der Kläger sich mit einer gesamtschuldnerischen Haftung über 100.000,- DM sowie mit
einer Änderung der Erledigungserklärung einverstanden erklären müsse. Hinsichtlich
der gesamtschuldnerischen Haftung sei jedoch keine Einverständniserklärung
abgegeben worden. Eine Einigung darüber, dass im Fall der Zahlung von 100.000,- DM
eine Einigung über die gesamtschuldnerische Haftung nicht mehr erforderlich sei, sei
nie erzielt worden. In der Entgegennahme von Geldbeträgen könne keine Zustimmung
zum Abschluss eines entsprechenden Vergleichs gesehen werden. An die Schriftform
seien nicht deshalb geringere Anforderungen zu stellen, weil beide Beteiligte anwaltlich
vertreten gewesen seien. Die Rückforderung scheitere auch nicht an der Frist in § 45
Abs. 4 S. 2 SGB X, da die Beklagte aufgrund der vertragsärztlichen Sondervorschriften
im Wege der sachlich-rechnerischen Richtigstellung das Honorar noch neu berechnen
könne.
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Die Beklagte beantragt,
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den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 29.04.2002 abzuändern und
die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen und den Bescheid der Beklagten vom 30.04.2002
aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage gegen den Bescheid vom 30.04.2002 abzuweisen.
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Er weist demgegenüber darauf hin, dass der Rückforderungsbescheid zu einem
Zeitpunkt ergangen sei, als bereits 100.000,- DM gezahlt worden seien. Ein Drittel der
Summe sei von ehemaligen Praxisgemeinschaftspartner Dr. T ... gezahlt worden, die
restliche Summe sei von der Bezirksstelle gegenüber Dr. B ... und dem Kläger
verrechnet worden. Da sowohl die Voraussetzungen der gesamtschuldnerischen
Haftung als auch die der Änderung der Erledigungsklausel vorgelegen hätten, habe für
den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid kein Raum mehr bestanden. Im Falle
ihres Obsiegens sei die Beklagte unrechtmäßig bereichert, weil sie sowohl von Dr. B ...
als auch vom Kläger 500.000,- DM fordere. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach-
und Streitstandes, auch des Vorbringens der Beteiligten, wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Akten S 26 Ka 81/92, S 25 Ka 150/92, S 25 Ka
73/93 verwiesen, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung war. Er trägt
weiter vor, die Beklagte besitze für die Berufung kein Rechtsschutzbedürfnis, da sie
durch den Erlass des Zweitbescheides die Rechtswirdrigkeit des Erstbescheides
anerkannt habe; die erneute Honoraraberichtigung sei im Übrigen wegen Verfristung
ausgeschlossen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht
den angefochtenen Bescheid der Beklagten aufgehoben. Der Bescheid der Beklagten
vom 30.04.2002 ist ebenfalls rechtswirdrig und beschwert den Kläger im Sinne von § 54
SGG. Der Bescheid vom 30.04.2002 ist gemäß § 96 SGG Gegenstand des
Berufungsverfahrens geworden, da er den Ausgangsbescheid vom 28.02.1996
ausdrücklich abändert. Denn die Beklagte hat die Honorarrückforderung in diesem
Bescheid neu berechnet und auf 204.516,75 Euro reduziert.
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Der Senat hat im Urteil vom 07.03.2001 - L 11 KA 77/99 - im Verfahren des Orthopäden
Dr. K ... gegen die Beklagte ausgeführt:
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"Das Sozialgericht hat zutreffend ausgeführt, dass dem angefochtenen Bescheid bereits
der zwischen den Beteiligten geschlossene Vergleichsvertrag entgegensteht. Zwar hat
der Bevollmächtigte des Klägers in seinem Schreiben vom 28.07.1994 dem allein noch
streitigen Punkt einer gesamtschuldnerischen Haftung nicht zugestimmt. Gleichzeitig
wurde aber mitgeteilt, dass die Forderung von 100.000,- DM durch Zahlung von je
33.333,- DM getilgt werde. Diese praktische Möglichkeit, die Festschreibung einer
gesamtschuldnerischen Haftung zu umgehen, hatte der Bevollmächtigte der Beklagten
im Schreiben vom 09.06.1994 ausdrücklich aufgezeigt. Einigkeit bestand damit
jedenfalls darin, dass die Frage der gesamtschuldnerischen Haftung nach der
Befriedigung der Forderung keine Rolle mehr spielen sollte. Es bestand dann
offensichtlich auch nicht mehr das Sicherungsbedürfnis, dem die Forderung nach einer
gesamtschuldnerischen Haftung der Beklagten entsprang. Der Betrag von 100.000,- DM
wurde in der Folgezeit von den drei Ärzten gezahlt. Für eine weitere Rückforderung
bestand damit kein Raum mehr. Der Senat ist mit dem Sozialgericht der Auffassung,
dass eine Urkundeneinheit nicht erforderlich ist. Unabhängig von der Frage, ob ein
solches Erfordernis überhaupt besteht (offen gelassen von BSGE 69, 238, 241), kann
jedenfalls davon abgesehen werden, wenn es dieses besonderen Schutzes angesichts
der anwaltlichen Vertretung der Beteiligten nicht bedarf.
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Selbst wenn man aber den Vergleichsvertrag außer acht läßt, kann der angefochtene
Bescheid keinen Bestand haben. Sofern es sich bei der Aufhebung und Rückforderung
der Beklagten um eine sachlich-rechnerische Richtigstellung handeln sollte, fehlt es an
einer nachvollziehbaren Darlegung zur Höhe der Rückforderung und Neufestsetzung.
Die Beklagte hat sich bei ihrer Schätzung erkennbar nicht daran ausgerichtet, in
welchem Umfang abgerechnetes Honorar tatsächlich nicht erwirtschaftet wurde,
sondern am Ergebnis des Vergleichs mit den Primärkassen orientiert. Dass dieser
Vergleich jedoch vor allem dem Bestreben entsprach, drohende Zinsverluste zu
verhindern, ergibt sich u.a. aus dem Schreiben des Bevollmächtigten der Beklagten vom
30.11.1995. Ein Bezug zum Umfang der Falschabrechnung, der vom Landgericht für
den Kläger auf ca. 17.000,- DM geschätzt wurde, ist nicht erkennbar. Der Kläger weist
zudem zutreffend darauf hin, dass die Beklagte sowohl von ihm als auch von Dr. B ...
500.000,- DM zurückfordert. Die Beklagte geht aber selbst davon aus, dass allenfalls
eine gesamtschuldnerische Haftung in Betracht kommt. Hierzu fehlt es in dem Bescheid
an jedem Hinweis. Es müßten im übrigen den Gesamtschuldnern sämtliche Zahlungen,
d.h. insgesamt 100.000,- DM, jeweils angerechnet werden. Offen läßt der Senat dabei,
ob überhaupt im Hinblick auf den Zeitablauf - seit März 1993 stand die rechtskräftige
Verurteilung des Klägers fest - hier nicht auch ein sachlich-rechnerische Berichtigung
ausgeschlossen ist.
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Sofern es sich um eine sonstige Rückforderung handelt, wofür die angegebene
Rechtsgrundlage des § 45 SGB X und die Anknüpfung an den durch den Vergleich
entstandenen Schaden sprechen, scheitert die Rückforderung der Beklagten an der
Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X. Danach war die Aufhebung nur ein Jahr,
nachdem die Beklagte Kenntnis von den Falschabrechnungen bekommen hatte,
möglich. Das Urteil des BGH datiert aber aus März 1993. Ein Rückforderungsbescheid
konnte 1996 hierauf nicht mehr gestützt werden."
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Dieser Entscheidung schließt sich der Senat nach nochmaliger eingehender Prüfung
der Sach- und Rechtslage an.
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Aus den gleichen Gründen ist der Bescheid der Beklagten vom 30.04.2002 rechtswidrig.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183 und 193 SGG in der Fassung bis zum
01.01.2002.
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Anlass für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG besteht nicht.
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