Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 25.08.1999

LSG NRW: innere medizin, rechtliches gehör, schweigepflicht, schuppenflechte, steuer, befreiung, gleichstellung, beweisanordnung, chefarzt, wohnung

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Vorinstanz:
Sachgebiet:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Rechtskraft:
Landessozialgericht NRW, L 10 SB 82/97
25.08.1999
Landessozialgericht NRW
10. Senat
Urteil
L 10 SB 82/97
Sozialgericht Detmold, S 6 Vs 1/97
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
rechtskräftig
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold
vom 18.08.1997 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist noch streitig, ob bei dem Kläger die gesundheitlichen
Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich der außergewöhnlichen Gehbehinderung
(aG) vorliegen.
Bei dem am xx.xx.1938 geborenen Kläger stellte das Versorgungsamt Bielefeld mit
Bescheid vom 04.09.1996 als Behinderungen im Sinn des Schwerbehindertengesetzes
(SchwbG):
1. Schuppenflechte 2. Funktionsminderung der Wirbelsäule 3. Funktionsstörung re.
Hüftgelenk 4. Funktionsstörung re. Schultergelenk mit einem GdB von 50 fest.
Auf den Widerspruch des Klägers zog das Versorgungsamt einen Befundbericht des
Orthopäden R ... vom 20.09.1996 bei, ließ diesen versorgungsärztlich auswerten und
erteilte sodann unter dem 12.11.1996 einen Abhilfebescheid. Als Behinderungen wurden
nunmehr
1. Schuppenflechte 2. Funktionseinschränkung der Wirbelsäule 3. Funktionseinschränkung
der Hüftgelenke 4. Funktionsstörung der Schultergelenke mit einem Gesamt-GdB von 70
unter Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "G" (erhebliche Gehbehinderung) festgestellt.
Die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "aG" wurden verneint.
Den weitergehenden Widerspruch des Klägers, mit dem dieser die Feststellung eines
höheren GdB sowie des Merkzeichens "aG" begehrte, wies der Beklagte durch
Widerspruchsbescheid vom 05.12.1996 zurück.
Am 06.01.1997 hat der Kläger Klage erhoben. Er hat vorgetragen, er strebe einen Gesamt-
GdB von 80 an, um die Befreiung von der KfZ-Steuer zu erreichen. Der Nachteilsausgleich
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"aG" sei von seinem Arzt ins Spiel gebracht worden; nach dem angefochtenen
Widerspruchsbescheid möge der Antrag nicht zutreffend sein; er verzichte auf den
Antragspunkt, der also nicht Klagegegenstand sei (Schriftsatz vom 03.01.1996). Eine
Untersuchung durch einen neutralen Arzt sei notwendig.
Der Kläger hat beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 12.11.1996 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 05.12.1996 zu verurteilen, bei ihm einen GdB von 80 und
das Merkzeichen "aG" festzustellen; hilfsweise, ein weiteres Gutachten zu Lasten der
Staatskasse einzuzuholen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat sich auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides bezogen und darauf
hingewiesen, daß das Begehren des Klägers widersprüchlich sei. Eine völlige Freistellung
von der KfZ- Steuer komme allenfalls dann in Betracht, wenn der Nachteilsausgleich "aG"
festgestellt wer de. Hierauf wiederum habe der Kläger verzichtet.
Das Sozialgericht Detmold hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens von Dr.
T ..., Arzt für Orthopädie in Bielefeld. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom
05.05.1997
- Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule mit Drehseitverbiegung und muskulären
Verspannungen
- eine stärkergradige Funktionseinschränkung des rechten Hüftgelenks bei Degeneration,
beginnend links
- stärkergradige Funktionseinschränkung des rechten Schultergelenks bei Degeneration
der Rotatorenmanschette, beginnend links
- Schuppenflechte mit besonderer Betonung der Arme und Beine und vermutlich hierdurch
bedingte entzündliche Veränderungen der Kreuzdarmbeinfugen im Endzustand
beschrieben.
Den Gesamt-GdB hat der Sachverständige mit 60 eingeschätzt. Die Voraussetzungen für
die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG" hat er verneint. Der Kläger sei in der Lage,
regelmäßig Wegstrecken von 300-500 m ohne Pause zurückzulegen; öffentliche
Verkehrsmittel könne er benutzen; es sei ihm zuzumuten, einen Handstock links zur
Entlastung des rechten Hüftgelenks zu verwenden.
Mit Urteil vom 18.08.1997 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt,
der von dem Beklagten festgestellte Gesamt-GdB von 70 sei nach der Einschätzung des
Sachverständigen Dr. T ... zu hoch. Die bei dem Kläger festgestellten Behinderungen
würden schon angesichts Art und Umfang begrifflich nicht die gesundheitlichen
Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens erfüllen.
Diese Entscheidung greift der Kläger mit seiner fristgerecht eingelegten Berufung an. Er
macht geltend: Das Gutachten des Dr. T ... habe er offiziell für unrichtig erklärt. Das
Sozialgericht hätte ein zweites Gutachten einholen und seine behandelnden Ärzte als
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Zeugen hören müssen. Diese seien der Auffassung, daß sein Antrag begründet sei. Ein
Neuantrag auf Höherbewertung komme nicht in Betracht, denn abgesehen vom
Meniskusschaden habe sich seine Lage nicht verschlechtert. Die schwerste Behinderung
bringe das rechte Kniegelenk mit sich. Seine behandelnden Ärzte würden darin
übereinstimmen, daß das Gelenk Verschleißerscheinungen zeige, ein Innenmeniskusriß
bestehe und die Kniescheibe "kaputt" sei. Die Schmerzen an der Wirbelsäule seien auf
zeitlich begrenzte Entzündungen zurückzuführen; dann sei an Gehen überhaupt nicht zu
denken. Der Kläger hat seinem Berufungsvorbringen eine Bescheinigung der Ärztin für
Innere Medizin Dr. T ... vom 27.08.1997 sowie einen Auszug aus dem Kurbericht der Ärztin
für Allgemeinmedizin Dr. R ... vom 08.08.1997 beigefügt. Mit Schriftsatz vom 22.05.1998
verweist der Kläger darauf, daß nunmehr schmerzhafte Durchblutungsstörungen in beiden
Unterschenkeln hinzugekommen seien. Selbst kürzeste Strecken könne er nicht mehr
gehen. Der rheumatische Vorgang habe sich erst nach der Untersuchung bei Dr. T ...
entwickelt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 18.08.1997 abzuändern und den Beklagten
unter Aufhebung der Bescheide vom 04.09.1996 und 12.11.1996 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 05.12.1996 zu verurteilen, die gesundheitlichen
Voraussetzungen für den Nach teilsausgleich "aG" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Beiziehung eines Befundberichts des Orthopäden R
... vom 13.11.1997, dem beigefügt war ein Behandlungsbericht des Radiologen Dr. L ...
vom 05.11.1997, sowie eines Befundberichts der Ärztin für Innere Medizin Dr. T ... vom
14.11.1997. Sodann hat der Senat mit Beweisanordnung vom 23.12.1997 in der Fassung
vom 12.01.1998 Dr. W ..., Chefarzt der Orthopädischen Abteilung der Kliniken am B. in B.
S., zum Sachverständigen bestellt. Unter dem 04.03.1998 hat der Senat die
Beweisanordnung ergänzt und zum weiteren Sachverständigen für das rheumatologische
Fachgebiet Prof. Dr. B ..., Chefarzt der Orthopädischen Abteilung der S.-Krankenanstalten
B.-M., ernannt. Unter dem 08.03.1998 erklärte der Kläger den Sachverständigen B ... für
befangen, da dieser seine Frau 1989 fehlerhaft behandelt habe. Der Senat hat hierauf
durch Beweisanordnung vom 11.03.1998 Prof. Dr. H ..., Arzt für Orthopädie, zum
Sachverständigen für das rheumatologische Fachgebiet ernannt. Dieser hat in seinem
Gutachten nach Aktenlage vom 16.03.1998 ausgeführt, daß die Veränderungen der
Wirbelsäule nicht ausschließlich degenerativen Ursprungs seien, sondern auch durch die
Psoriasisspondylitis bedingt würden. Der Sachverständige Dr. W ... hat im Gutachten vom
26.05.1998 einen Ge samt-GdB von 80 vorgeschlagen. Die Schuppenflechte führe immer
wie der zu entzündlichen und besonders schmerzhaften Schüben. Zum Zeitpunkt des
Schubes sei der Kläger nicht in der Lage, sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges ohne
fremde Hilfe bzw. nur mit großer Anstrengung zu bewegen. In freien Intervallen könne er
dagegen die von ihm bestätigten 100 bis 200 m problemlos außerhalb eines Fahrzeuges
zurücklegen. Auf den Inhalt dieser Gutachten wird im weiteren verwiesen.
Nachdem der Beklagte aufgrund versorgungsärztlicher Stellungnahme die
Voraussetzungen für "aG" weiterhin nicht als gegeben ansah und der Kläger eine
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neuerliche Verschlechterung geltend machte, hat der Senat nochmals einen Befundbericht
des Orthopäden R ... vom 02.11.1998 eingeholt. Unter dem 03.11.1998 hat der Kläger
sodann er klärt, daß die Befreiung von der ärztlichen Schweigepflicht gegen über allen
behandelnden Ärzten und Gutachtern wegen Vetrauensmißbrauchs durch das LSG
aufgehoben werde. Auf Aufforderung des Senats hat der Kläger sodann nochmals
bekräftigt, daß er den "Widerruf der Befreiung von der Schweigepflicht" nicht zurückziehen
werde.
Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im übrigen nimmt der Senat Bezug auf die
Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten, deren Inhalt
Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
1.
Die Klage war zulässig. Nachdem die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vor dem
Senat einen Teilvergleich geschlossen haben, so weit es um die Feststellung eines
Gesamt-GdB von 80 geht, ist Streitgegenstand nur noch die Zuerkennung des
Nachteilsausgleichs "aG". Insoweit mag zunächst zweifelhaft sein, ob die vor dem
Sozialgericht anhängig gemachte Klage zulässig war. Zwar hat der Beklagte im
Abhilfebescheid vom 12.11.1996 erstmals - negativ - über den Nachteilsausgleich "aG"
entschieden. Der Kläger hatte diesen Nachteilsausgleich ausweislich seines Antrags vom
03.06.1996 zu nächst nicht beantragt, vielmehr nur die Feststellung der
Schwerbehinderteneingenschaft und des Nachteilsausgleichs "G" begehrt. Auch aus dem
vom Versorgungsamt beigezogenen Bericht des Orthopäden R ... vom 09.07.1996 ergab
sich keinerlei Hinweis darauf, daß eine außergewöhnliche Gehbehinderung vorliegen
könnte. Demgemäß verhält sich der Bescheid vom 04.09.1996 hierzu nicht. Erst im
Widerspruchsverfahren hat der Kläger den Nachteilsausgleich "aG" beantragt (vgl.
Antragsvordruck vom 26.09.1996). In seiner Klageschrift vom 03.01.1996 (richtig wohl:
03.01.1997) hat der Kläger hierzu ausgeführt, er strebe einen Behinderungsgrad von 80 an,
um die Befreiung von der KfZ-Steuer zu erreichen; die Forderung des Eintrags "aG" sei
vom Arzt ins Spiel gebracht worden und nach dem hiermit angefochtenen
Widerspruchsbescheid möge der Antrag nicht zutreffend sein; er verzichte auf den
Antragspunkt, der also nicht Klagegegenstand sei. Diese Äußerung des Klägers kann so
verstanden werden, daß er den Streitgegenstand auf die Feststellung eines GdB von 80
beschränkt und die ablehnende Entscheidung des Beklagten zum Nachteilsausgleich "aG"
nicht angefochten hat. Frühestens die Stellungnahme des Klägers zum Gutachten des
Sachverständigen T ... kann bei - großzügiger Auslegung - dahin interpretiert werden, daß
sich die Klage nunmehr auch auf Zuerkennung des Nachteilsausgleich "aG" richten soll.
Diese wäre dann allerdings verfristet, da sie insoweit nicht innerhalb von vier Wochen nach
Zustellung des Widerspruchsbescheides erhoben worden ist (§ 87 Abs. 1 SGG). Das
Sozialgericht hat sich hiermit nicht auseinandergesetzt, ist vielmehr unbesehen davon
ausgegangen, daß der Kläger durch die Klageschrift vom 06.01.1977 auch den
Nachteilsausgleich "aG" zum Streitgegenstand gemacht hat.
Nach § 92 Satz 1 SGG soll die Klage die Beteiligten und den Streitgegenstand bezeichnen
und einen bestimmten Antrag enthalten. Bei der Auslegung des Antrags ist der gesamte
Klagevortrag heranzuziehen, außerdem auch die Verwaltungsvorgänge (hierzu Meyer-
Ladewig, SGG, 6. Auflage, § 92 Rdn. 5 mwN). Bleibt das Klageziel dennoch unklar, weil
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der Kläger nichts darüber sagt, in welchem Umfang er den Verwaltungsakt angreifen will,
den er für teilweise falsch hält, ist die Klage unzulässig (vgl. Frehse in SGb 1989, 9 ff) und
kann auch über eine Klageänderung (§ 99 SGG) nicht mehr in das Verfahren ein bezogen
werden (vgl. Meyer-Ladewig, aaO, § 99 Rdn. 13a).
Vorliegend kommt der Senat bei großzügiger Auslegung des klägerischen Antrags zum
Ergebnis, daß er mit seiner Klageschrift vom 03.01.1996 auch die negative Entscheidung
des Beklagten zum Nachteilsausgleich "aG" angreift. Der Senat hält eine solche
Interpretation für vertretbar, weil der Kläger ausweislich Satz 1 seiner Klageschrift die
Befreiung von der KfZ-Steuer begehrt. Da ihm der Nachteilsausgleich "aG" bereits
zuerkannt war, kann hiermit nur die völlige Freistellung gemeint sein; diese setzt eine
außergewöhnliche Gehbehinderung voraus (§ 3a Abs. 1 Kraftfahrzeugsteuergesetz idF
vom 24.05.1994). Zwar erklärt der Kläger im nächsten Satz ausdrücklich und insoweit
unmißverständlich, daß er auf den Antrags punkt "aG" verzichte. Der Senat unterstellt in
diesem Zusammenhang zu Gunsten des rechtsunkundigen Klägers, daß ihm die
rechtlichen Voraussetzungen für die völlige Freistellung von der KfZ-Steuer nicht bekannt
waren und er das eigentlich Klageziel (GdB 80 und völlige Freistellung) mit Satz 1 seiner
Klageschrift formuliert hat. Bestätigt wird ein solches Verständnis durch den Inhalt des
Widerspruchsverfahren; auch dabei ging es u.a. um die Zuerkennung des
Nachteilausgleichs "aG".
Die Klage war sonach zulässig. Auf die nachrangige Frage, ob der Nachteilsausgleich
"aG" über eine spätere Klageänderung in das Verfahren einbezogen werden konnte,
kommt es nicht an.
2.
Die Berufung ist unbegündet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der
angefochtene Bescheide vom 04.09.1996 und 12.11.1996 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 05.12.1996 beschweren den Kläger nicht im Sinn des § 54
Abs. 2 SGG. Diese Bescheide sind rechtmäßig.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung des Nachteilsausgleichs
außergewöhnliche Gehbehinderung.
Nach § 4 Abs. 4 SchwbG hat das Versorgungsamt die Voraussetzungen für diesen
Nachteilsausgleich festzustellen und das Merkzeichen "aG" in den
Schwerbehindertenausweis einzutragen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 der Ausweisverordnung
Schwerbehindertengesetz - SchbAwV-). Wer als außergewöhnlich gehbehindert
anzusehen ist, legt das Schwerbehindertenrecht nicht fest. Es verweist hierzu auf den
durch straßenverkehrsrechtliche Vorschriften definierten Begriff (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 SchAwV
iVm § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG). Danach ist außergewöhnlich geh behindert, wer sich wegen
der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung
außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte,
Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüft exartikulierte und
einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen
oder nur eine Beckenkorbprotese tragen können oder zugleich Unterschenkel- oder
Armamputiert sind sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher
Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend aufgeführten
Personenkreis gleichzustellen sind (§ 11 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift - VV - zu §
46 StVG).
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a) Der Kläger gehört nicht zu dem vorgenannten Personenkreis. Es besteht bei ihm weder
eine Gliedmaßenamputation noch eine Querschnittslähmung.
b) Er ist diesem Personenkreis auch nicht gleichzustellen. Die Gleichstellung erfordert, daß
in funktioneller Hinsicht Auswirkungen vorhanden sind, die der Einschränkung
entsprechen, die bei dem ausdrücklich bezeichneten Personenkreis der außergewöhnlich
Gehbehinderten regelmäßig vorliegt, d.h. die Gehfähigkeit muß gleichermaßen
eingeschränkt, die Fortbewegung also auf das Schwerste dauernd eingeschränkt sein (
BSG vom 13.12.1994 - 9 RVs 3/94 -). Bei dem Vergleich kommt es allein auf den
Schweregrad der Beeinträchtigung beim Gehen an, und zwar soweit die Gehfähigkeit
durch Gesundheitsstörungen bzw. Behinderungen im Bereich der unteren Extremitäten und
der Wirbelsäule beeinträchtigt ist (BSG vom 17.12.1997 - 9 RVs 16/96 -; std.
Rechtsprechung des Senats, vgl. Urteil vom 12.05.1999 - L 10 SB 100/98 -).
Daran fehlt es. Eine derartige gleichstellende Einschränkung ist nicht nachgewiesen. Dies
folgt aus den schlüssigen Darlegungen der Sachverständigen W ... und H ..., die mit den
Vorgaben der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz von 1996 (AHP)
übereinstimmen.
Danach liegen beim Kläger folgende Gesundheitsstörungen vor:
1. Funktionseinschränkung der Wirbelsäule in allen drei Abschnitten - bedingt durch
degenerative Veränderungen, Wirbelsäulenseitverbiegung und psoriarisch entzündliche
Veränderungen im LWS-Bereich und Kreuz-Darmbein-Bereich (GdB 50)
2. Funktionseinschränkung, insbesondere des rechten, leichteren Grades auch des linken
Hüftgelenkes bei degenerativen Veränderungen (GdB 30)
3. Funktionseinschränkung des rechten Schultergelenkes, leichteren Grades auch des
linken Schultergelenkes bei degenerativen Veränderungen der das Gelenk führenden
Muskelmanschette (GdB 20)
4. Funktionseinschränkung des rechten Kniegelenkes bei degenerativen Veränderungen
der Gelenkknorpelflächen und Innenmeniskusschädigungen bei leichter 0-Beinachse (GdB
10)
5. Schuppenpflechte an den Prädilektionsstellen der Haut (GdB 30).
In funktioneller Hinsicht rechtfertigen die Auswirkungen dieser Behinderungen keine
Gleichstellung. Die Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule, der Hüftgelenke und der
Schultergelenke beeinträchtigen zwar die Gehfähigkeit. Im Gegensatz zu dem
Personenkreis der Doppel unterschenkelamputierten und insbesondere der
Doppeloberschenkelamputierten verfügt der Kläger indessen über beide unteren
Extremitäten. Trotz der unzweifelhaft vorhandenen erheblichen Beeinträchtigung der
Gehfähigkeit übertrifft das ihm verbliebene Maß an Beinfunktion naturgemäß das Maß an
Beinfunktion eines Doppeloberschenkelamputierten und geht auch über das Ausmaß der
Funktionsbeeinträchtigung eines Doppelunterschenkelamputierten deutlich hin aus. Die
Funktionseinschränkungen der Schultergelenke und die Hautveränderungen infolge der
Schuppenflechte führen zu keiner anderen Beurteilung. Der Kläger kann das rechte
Schultergelenk nicht mehr über die Horizontale abspreizen. Die Gehfähigkeit wird
hierdurch allenfalls minimal erschwert. Die Hautveränderungen bewirken nach den
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Erkenntnissen des Sachverständigen W ... keine Funktionseinschränkung.
Auch bei zusätzlicher Berücksichtigung der mit den funktionellen Beeinträchtigungen
einhergehenden starken Beschwerden liegen die Voraussetzungen für eine Gleichstellung
nicht vor. Außergewöhnlich gehbehindert ist nämlich nur derjenige, der sich wegen seines
Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines
Fahrzeugs bewegen kann. Daran fehlt es. Die Schuppenflechte führt zu entzündlichen und
besonders schmerzhaften Schüben. Der Kläger ist zu solchen Zeiten nach Einschätzung
des Sachverständigen W ... nicht in der Lage, sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges ohne
fremde Hilfe bzw. nur mit großer Anstrengung zu bewegen. In freien Intervallen hingegen
kann er 100 bis 200 m problemlos außerhalb seines Fahrzeuges zurücklegen. Seit 1996
sind psoriatische Schübe vom 09.04.1996 - 24.04.1996, 26.11.1996 - 17.12.1996,
30.01.1997 - 02.04.1997, 29.09.1997 - 30.10.1997 und 22.12.1997 - 26.03.1998 belegt. Der
Senat geht mit dem Sachverständigen davon aus, daß der Kläger in diesen Zeiten an seine
Wohnung gebunden war. Angesichts der in zeitlicher Hinsicht deutlich überwiegenden
freien Intervalle kann von einer dauernden und schwersten Einschränkung der Mobilität
allerdings keine Rede sein.
c) Die Ausführungen der behandelnden Ärzte des Klägers führen nicht weiter.
Im Befundbericht vom 13.11.1997 beschreibt der Orthopäde R ... eine Verschlimmerung; in
Zeiten eines akuten Schubes sei der Kläger lediglich in der Lage, sich innerhalb seines
häuslichen Bereich über kürzere Strecken fortzubewegen. Dies entspricht den Wertungen
des Sachverständigen W ..., der hierzu die Unterlagen des Orthopäden R ... ausgewertet
hat. Eine dauernde schwerste Mobilitätseinschränkung ist hiernach nicht erwiesen. Dies
gilt umsomehr, als der Kläger nach Mitteilung des Orthopäden R ... die Gehstrecke selbst
mit 100 bis 200 m angegeben hat. Auch die Ärztin für Innere Medizin Dr. Tellmann konnte
keine zuverlässigen Auskünfte über das Gehvermögen des Klägers geben. Die
entsprechende Frage des Senats hat sie ausdrücklich verneint und nur erklärt, der Kläger
bewege sich in der Wohnung ohne Gehhilfe. Soweit der Kläger behauptet, nach der
Untersuchung durch den Sachverständigen W ... sei es zu einer deutlichen
Verschlechterung gekommen, mag dies so sein, die Voraussetzungen für den
Nachteilsausgleich "aG" sind dennoch nicht nachgewiesen. Der Orthopäde R ... hat in
seinem Befundbericht vom 02.11.1998 mitgeteilt, daß die Befunde sich seit Februar 1998
weiter verschlechtert hätten; in Zeiten eines akuten Psoriasis-Schubes sei der Kläger in der
Gehfähigkeit ähnlich gehindert wie jemand mit Doppeloberschenkel- bzw.
Doppelunterschenkelamputation; in freien Intervallen könne der Kläger 100-200 m ohne
fremde Hilfe zurücklegen. Er sei mit einem Rollstuhl versorgt und benutze diesen während
eines akuten Schubes.
Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteislausgleichs "aG" sind hiermit
entgegen der Auffassung des Klägers nicht dargetan. Die Auskunft des Orthopäden R ...
führt, soweit es die Mobilität anlangt, über die Erkenntnisse, die der Sachverständige W ...
bereits bei der Untersuchung vom 26.02.1998 gewonnen hat, nicht hinaus.
Eine weitere Sachaufklärung, die der Senat zugunsten des Klägers beabsichtigt hatte,
kommt nicht mehr in Betracht. Der Kläger hat die Entbindung seiner behandelnden Ärzte
von der Schweigepflicht widerrufen. Der Senat hat den Kläger mit Verfügung vom
22.12.1998 darauf hingewiesen, daß eine weitere Sachverhaltsaufklärung dadurch
unmöglich wird. Der Kläger hat an seiner Auffassung festgehalten und die der Verfügung
vom 22.12.1998 nochmals vorsorglich beigefügte Erklärung über die Entbindung von der
ärztlichen Schweigepflicht unausgefüllt zurückgesandt. Zwar vermittelt der Kläger den
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Eindruck, die Erfolgsaussichten seiner Berufung durchgängig falsch einzuschätzen.
Indessen kann er sich nicht darauf berufen, der Senat hätte ihn hierüber unterrichten
müssen, um ihm Gelegenheit zu geben, seine Ärzte doch wieder von der Schweigepflicht
zu entbinden. Daß die vielfältigen Bemühungen des Senats, den Sachverhalt weiter
aufzuklären, allein den Zweck hatten, die noch fehlenden tatsächlichen Voraussetzungen
für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG" zu ermitteln, ist offenkundig und hätte
auch der Kläger erkennen müssen. Spätestens nach dem Schreiben seines
Bevollmächtigten vom 30.06.1999 mußte ihm im übrigen klar sein, daß die
Erfolgsaussichten der Berufung gering sind.
Dem wiederholten Begehren des Klägers, seine behandelnden Ärzte als Zeugen zu hören,
brauchte der Senat nicht nachgehen. Wie der Sachverhalt aufzuklären ist, unterliegt
grundsätzlich allein der Entscheidung des Gerichts (§ 106 SGG). Zwar haben
Verfahrensbeteiligte grundsätzlich ein Recht auf Befragung eines Sachverständigen, der
ein (schriftliches Gutachten) erstattet hat (§§ 116 Abs. 2, 118 Abs. 1 SGG). Das
Fragegerecht ist Ausfluß des Anspruchs auf rechtliches Gehör und darf nur bei Mißbrauch
ausgeschlossen werden (hierzu BSG vom 03.03.1999 - B 9 VJ 1/98 B -). Ungeachtet der
Frage, ob das Fragegerecht gleichermaßen besteht, wenn die behandelnden Ärzte als
sachverständige Zeugen gehört werden sollen, ist dem Kläger dies wegen Mißbrauchs
verwehrt. Da der Kläger seine behandelnden Ärzte nicht von der Schweigepflicht
entbunden und mehrfach erklärt hat, dies auch nicht zu machen, erschließt sich dem Senat
nicht, wie diese Ärzte als (sachverständige) Zeugen gehört werden sollen. Im übrigen hat
der Kläger nicht nachvollziehbar dargelegt, welcher zusätzliche Aufklärungsbedarf besteht,
der nicht durch schriftliche Beantwortung der vom Senat gestellten Fragen mittels
Befundberichten befriedigt werden könnte.
Einen Antrag nach § 109 SGG, einen bestimmten Arzt gutachtlich zu hören, hat der Kläger
nicht gestellt.
Sollte eine weitere Verschlechterung eingetreten sein, kann dies sonach nicht
berücksichtigt werden. Die Folgen der Beweislosigkeit trägt der beweisbelastete Kläger.
Die Berufung konnte nach alledem keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183 und 193 SGG. Sie berücksichtigt, daß der
Beklagte bereits mit Schriftsatz vom 07.09.1998 seine Bereitschaft erklärt hat auf der
Grundlage des Gutachtens des Sachverständigen W ... einen Gesamt-GdB von 80
festzustellen.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).