Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 08.02.2010
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Landessozialgericht NRW, L 19 AL 22/09
Datum:
08.02.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 19 AL 22/09
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 1 AL 22/08
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Köln
vom 23.04.2009 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung des
Bescheides vom 05.12.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 14.01.2008 verurteilt, dem Kläger Insolvenzgeld dem Grunde nach
zu zahlen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen
Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten um den Anspruch auf Insolvenzgeld eines bei einer inländischen
Zweigstelle eines ausländischen Unternehmens beschäftigten Arbeitnehmers.
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Am 07.03.2006 wurde in Bosnien-Herzegowina die Q GmbH nach bisnischem Recht (im
Folgenden GmbH) in das Gerichtsregister in A eingetragen. Firmensitz war die
Wohnung des Direktors (Geschäftsführers), eines 21-jährigen Studenten. Die GmbH
meldete am 05.10.2006 in der Q-straße 0, N, einen Betrieb für Maurer- und
Betonbauarbeiten an, der nicht in das Handelsregister eingetragen wurde. Mit letzterem
Betrieb schloss der Kläger am 04.12.2006 einen Arbeitsvertrag als Einschaler ab. Der
Betrieb stellte zum 30.03.2007 seine Tätigkeit vollständig ein, nachdem sein einziger
Auftraggeber in Deutschland das Vertragsverhältnis gekündigt hatte. Nachdem am
26.04.2007 die GmbH und am 05.07.2007 die AOK Rheinland/Hamburg Antrag auf
Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der GmbH gestellt hatten,
bestellte das Amtsgericht N mit Beschluss vom 29.06.2007 einen vorläufigen
Insolvenzverwalter. Die Generalbevollmächtigte der GmbH gab im Insolvenzverfahren
an, bei der Niederlassung N handele es sich um den Hauptsitz der Verwaltung der
Firma. Diese habe in Bosnien-Herzegowina im Jahr 2006 nur wenige, vollkommen
untergeordnete Aufträge abgewickelt, für die es keiner Organisation und Verwaltung
bedurft hätte. Da der Geschäftsführer keine Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik
Deutschland gehabt habe, seien die Geschäfte dort von Herrn F L geführt worden.
Dieser habe sich abgesetzt, nachdem ihm die Abwicklung der Geschäfte über den Kopf
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gewachsen sei. Die Verwaltungsunterlagen befänden sich vollständig in der
Bundesrepublik Deutschland. Die Verbindlichkeiten wurden auf ca. 500.000,- EUR
beziffert. Nachdem der vorläufige Insolvenzverwalter zu dem Ergebnis gelangt war, dass
das Amtsgericht N für das Verfahren nicht zuständig sei, da auch ein Partikularverfahren
aufgrund der vollständigen Betriebseinstellung vor Eingang der Insolvenzanträge
ausscheide, wies das Amtsgericht N mit Beschluss vom 13.09.2007 den Antrag auf
Eröffnung des Insolvenzverfahrens als unzulässig zurück und hob seinen Beschluss
vom 29.06.2007 auf.
Den Antrag des Klägers auf Insolvenzgeld, den dieser bereits am 23.03.2007 gestellt
hatte, lehnte die Beklagte ab, weil ein Insolvenzereignis nicht festgestellt werden könne.
Eine offensichtliche Masselosigkeit der GmbH liege mangels Eröffnung des
Insolvenzverfahrens in Bosnien-Herzegowina nicht vor (Bescheid vom 05.12.2007,
Widerspruchsbescheid vom 14.01.2008).
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Der Kläger hat am 18.02.2007 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Köln erhoben. Er hat
geltend gemacht, es sei offenkundig, dass die Firma wegen Zahlungsunfähigkeit ihren
Betrieb eingestellt habe, so dass die Voraussetzungen für den Anspruch auf
Insolvenzgeld erfüllt seien.
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Die Beklagte hat eine Auskunft der Agentur für Arbeit und Beschäftigung Bosnien-
Herzegowina vom Januar 2008 vorgelegt, wonach die Geschäftstätigkeit der Firma nicht
eingestellt, aber vermindert worden sei, die Firma über kein Kapital verfüge und kein
Antrag auf ein Insolvenzverfahren in Bosnien-Herzegowina gestellt worden sei.
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Mit Urteil vom 23.04.2009 hat das SG die Klage abgewiesen, weil sich eine
offensichtliche Masselosigkeit der GmbH nicht feststellen lasse. Wegen der Einzelheiten
wird auf die Entscheidungsgründe Bezug genommen.
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Gegen das ihm am 07.05.2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 28.05.2009 Berufung
eingelegt. Er macht geltend, entgegen der Beurteilung des SG stehe die offensichtliche
Masselosigkeit der Arbeitgeberin fest. Aus dem Fehlen eines Insolvenzantrages in
Bosnien-Herzegowina könne nichts Gegenteiliges gefolgert werden. Das Grundkapital
der Gesellschaft habe lediglich 2000 KM (Konvertible Mark) betragen, was einen Betrag
von weniger als 1000,- EUR ausmache. Insbesondere aufgrund der Angaben der
Generalbevollmächtigten sei auszuschließen, dass die GmbH noch über
nennenswertes Vermögen verfüge. Der vorliegende Sachverhalt zeichne sich auch
nicht dadurch aus, dass der Arbeitgeber Schulden gemacht und sich in das Ausland
abgesetzt habe. Vielmehr sei die Firma gegründet worden, um als Subunternehmen im
Baugewerbe im Inland tätig zu werden.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 23.04.2009 zu ändern und die Beklagte unter
Aufhebung des Bescheides vom 05.12.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 14.01.2008 zu verurteilen, ihm Insolvenzgeld dem Grunde nach zu bewilligen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Akten der Beklagten Bezug genommen, die
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung ist zulässig, insbesondere übersteigt die streitige Forderung den für eine
zulassungsfreie Berufung nach § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
erforderlichen Betrag von 750,- EUR.
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Die Berufung ist auch begründet.
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Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Insolvenzgeld dem Grunde
nach im Hinblick auf das Vorliegen eines Insolvenzereignisses im Sinne des § 183
Drittes Buch Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung - (SGB III). Da Zeitraum und Höhe des
ausgefallenen Arbeitsentgelts, das als Insolvenzgeld zu zahlen ist, zwischen den
Beteiligten unstreitig sind, macht der Senat von der Möglichkeit eines Grundurteils
gemäß § 130 Abs. 1 S. 1 SGG Gebrauch.
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Anspruch auf Insolvenzgeld haben nach § 183 Abs. 1 S. 1 in der Fassung des Job-
AQTIV-Gesetzes vom 10.12.2001 (BGBl I 3443) Arbeitnehmer, wenn sie im Inland
beschäftigt waren und bei 1. Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen
ihres Arbeitgebers, 2. Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens
mangels Masse oder 3. vollständiger Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn
ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt worden ist und ein
Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt,
(Insolvenzereignis) für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch
Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. Da weder die Voraussetzungen nach Nr. 1 noch
nach Nr. 2 der genannten Bestimmung hinsichtlich des Vermögens der GmbH erfüllt
sind, kann vorliegend allein Maßstab § 183 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB III sein, wovon auch
das SG zu Recht ausgegangen ist. Der Kläger war Beschäftigter bei der
Betriebsniederlassung der GmbH in Deutschland, da für diese das Arbeitsverhältnis am
04.12.2006 durch den Arbeitsvertrag begründet worden ist.
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Die inländische Niederlassung der GmbH, bei der der Kläger beschäftigt gewesen ist,
war einem Insolvenzverfahren im Inland zugänglich. Dies ist nach der bisherigen
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) der Fall, wenn die äußeren Umstände
für die beteiligten Verkehrskreise ergeben, dass der Schuldner auf seinen Namen und
Rechnung an einem bestimmten inländischen Ort ein Gewerbe im weitesten Sinne in
der Weise dauerhaft betrieben hat, dass durch die Art der Geschäftsausstattung, der
Organisation und der Tätigkeit ein gewerblicher Mittelpunkt mit einer im Wesentlichen
selbstständigen Leitung besteht (BSG Urt. v. 08.02.2001 - B 11 AL 30/00 R =
www.juris.de Rn 18, BSG Urt. v. 29.06.2000 - B 11 AL 75/99 R = www.juris.de Rn 19).
Ob in Ansehung der Bestimmung hinsichtlich des Partikularverfahrens über das
Inlandsvermögen (§ 354 Insolvenzordnung - InsO) und des Art. 2 lit. h der Europäischen
Insolvenzordnung (EuInsVO) es schon als ausreichend angesehen werden kann, dass
der Schuldner im Inland einer wirtschaftlichen Aktivität von nicht vorübergehender Art
nachgeht, die den Einsatz von Personal- und Vermögenswerten voraussetzt (zum
Meinungsstand vgl. Reinhard in Münchener Kommentar zur InsO, § 354 Rn 7) kann
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dahin stehen, weil auch die Voraussetzungen in ersterem Sinne offensichtlich erfüllt
sind.
Die Betriebsniederlassung war zwar nicht im Handelsregister eingetragen, das
Gewerbe war jedoch angemeldet. Die Geschäftstätigkeit war auf einen dauerhaften
Betrieb im Inland mit namhafter wirtschaftlicher Bedeutung ausgerichtet. Der Betrieb ist
in erheblichem Umfang am Baumarkt aufgetreten. Die wesentlichen betrieblichen und
personellen Mittel des Unternehmens befanden sich in Deutschland. Dies gilt auch für
die Verwaltungsorganisation. Der Direktor der GmbH war gehindert, nach Deutschland
zu reisen und hat nach den Erklärungen seiner Generalbevollmächtigten auch keinerlei
Einfluss auf das Unternehmen genommen. Dieses wurde vielmehr ausschließlich vor
Ort geführt. Insbesondere waren sämtliche Beschäftigte (mehr als 30) in Deutschland
angestellt und ausschließlich dort beschäftigt. Davon gehen auch die Beteiligten
übereinstimmend aus.
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Die Betriebstätigkeit der Niederlassung ist spätestens am 31.03.2007 vollständig
eingestellt worden. Dies folgt zur Überzeugung des Senats aus den Ermittlungen im
Insolvenzverfahren und den Erklärungen der Beteiligten. Nach den Erkenntnissen des
vorläufigen Insolvenzverwalters hatte die Niederlassung bereits Ende März 2007
jegliche wirtschaftliche Tätigkeit vollständig eingestellt. Nach den Angaben der
Generalbevollmächtigten sind lediglich die Büroräume erst Ende Juni 2007 aufgegeben
worden. Sämtlichen Beschäftigten ist zum 31.03.2007 gekündigt worden.
Vermögensgegenstände, Personal und Betriebsmittel, die eine Fortsetzung des
Betriebs ermöglicht hätten, waren nicht mehr vorhanden, der Betriebsleiter hatte sich in
das Ausland abgesetzt. Danach besteht kein Zweifel, dass die Betriebstätigkeit der
Niederlassung im Inland vollständig am 31.03.2007 beendet worden war.
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Anträge auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Sinne des § 183 Abs. 1 S. 1 Nr. 3
SGB III sind nicht gestellt worden. Hierunter fallen nur solche Anträge, über die das
Insolvenzgericht noch nicht entschieden hat oder denen es gefolgt ist oder die es
mangels Masse abgewiesen hat, nicht aber solche Anträge, die weder zur Eröffnung
des Insolvenzverfahrens noch zur Abweisung der Eröffnung mangels Masse geführt
haben (BSG SozR 3-4100 § 141b Nr. 3; BSG SozR 3-4100 § 141b Nr. 7). Daher sind
die von der GmbH und der AOK Rheinland/Hamburg im April und Juli 2007 gestellten
Anträge auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ohne Bedeutung, weil sie das
Insolvenzgericht als unzulässig im Hinblick auf das seiner Meinung nach
ausgeschlossene Partikularverfahren und die Unzuständigkeit der deutschen
Gerichtsbarkeit abgelehnt hat.
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Schließlich kam auch ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in
Betracht. Offensichtlichkeit in diesem Sinne verlangt nicht die zweifelsfreie Feststellung
der Masseunzulänglichkeit, vielmehr genügt der aus äußeren Tatsachen resultierende
Eindruck eines unvoreingenommenen Betrachters, d.h. wenn alle äußeren Tatsachen
(und insofern der Anschein) für Masseunzulänglichkeit sprechen (vgl. BSG Urt. v.
04.03.1999 - B 11/10 AL 3/98 R; BSG SozR 3-4100 § 141b Nr. 7; BSG SozR 4100 §
141b Nr. 21; Krodel in Niesel, SGB III, 4. Aufl., Rn 47 mwN). Ob bei einem
ausländischen Unternehmen insoweit allein auf die Vermögensverhältnisse im Inland
oder auf sein gesamtes Vermögen abzustellen ist (in letzterem Sinne BSG SozR 4100 §
141a Nr. 6), kann dahinstehen, weil auch unter Berücksichtigung der
Gesamtverhältnisse der GmbH alle Tatsachen für eine Masseunzulänglichkeit
sprechen.
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Die Schulden der GmbH im Inland sind mit etwas mehr als 500.000,- EUR beziffert
worden. Die Gegenforderungen, die sich nach der Aufstellung der GmbH auf ca.
200.000,- EUR beliefen, waren nach den Feststellungen des vorläufigen
Insolvenzverwalters nicht realisierbar. Relevantes Betriebsvermögen in Gestalt von
sächlichen Betriebsmitteln oder in anderer Form war nicht vorhanden. Auch im Ausland
verfügte die GmbH über keinerlei Kapital, wie die dortige Arbeitsagentur bzw. die
Polizeiverwaltung auf Nachfrage der Beklagten bescheinigt hat. Anhaltspunkte für das
Vorhandensein nennenswerter Betriebsmittel in Bosnien-Herzegowina liegen nicht vor.
Die Betriebstätigkeit ist nach den entsprechenden Mitteilungen nur noch in
vermindertem Umfang in Bosnien-Herzegowina aufrechterhalten worden. Berücksichtigt
man die Angaben der Generalbevollmächtigten der Gmbh im Insolvenzverfahren, an
deren Richtigkeit zu zweifeln kein Anlass besteht, dass schon während der
Betriebstätigkeit in Deutschland kaum Geschäfte in Bosnien-Herzegowina und nur
solche von völlig untergeordneter Bedeutung getätigt worden sind, folgt daraus, dass die
aufrechterhaltene Geschäftstätigkeit in Bosnien-Herzegowina nach dem 31.03.2007
gegen Null tendiert. Angesichts dieser Verhältnisse fehlt jeglicher Anhaltspunkt dafür,
dass die GmbH im Ausland noch über ausreichende Mittel verfügte, um eine
Massezulänglichkeit anzunehmen. Allein der Umstand, dass überhaupt noch eine
Betriebstätigkeit stattfindet, worauf das SG abgestellt hat, ist angesicht dieser
Verhältnisse nicht geeignet, Zweifel an der Masseunzulänglichkeit aufkommen zu
lassen.
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Da dem Kläger für die letzten beiden Monate seiner Beschäftigung bei der
Betriebsniederlassung der GmbH (Februar und März 2007) vor der vollständigen
Einstellung der Betriebstätigkeit zum 31.03.2007 noch Lohnansprüche zustehen, ist
insoweit sein Anspruch auf Insolvenzgeld nach § 183 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB III
begründet.
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Demzufolge ist das Urteil des SG zu ändern und die Beklagte antragsgemäß zu
verpflichten.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Anlass für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) besteht nicht.
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