Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 21.02.2006

LSG NRW: rechtliches gehör, restriktive auslegung, körperpflege, anhörung, erstellung, einzahlung, meinung, anfang, durchschnitt, gerichtsakte

Landessozialgericht NRW, L 6 (3) P 4/04
Datum:
21.02.2006
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 6 (3) P 4/04
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 39 P 60/02
Sachgebiet:
Pflegeversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 05. November 2003 wird zurückgewiesen. Dem Kläger
werden Kosten in Höhe von 300,00 Euro auferlegt. Im Übrigen haben
die Beteiligten einander auch im Berufungsverfahren Kosten nicht zu
erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Pflegegeld nach Pflegestufe I zu zahlen
ist.
2
Der 1956 geborene Kläger stellte im August 2000 bei der Beklagten einen Antrag auf
Leistungen der Pflegeversicherung. Er verwies auf ein Gutachten von Frau Dr. X vom
Gesundheitsamt E, die einen Grundpflegebedarf von 45 Minuten (Körperpflege 25
Minuten, Mobilität 20 Minuten) festgestellt hatte. Die Beklagte holte ein Gutachten des
Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) vom 23.10.2000 ein. Der
Sachverständige X1 sah einen Grundpflegebedarf von 10 Minuten (Körperpflege 5
Minuten, Mobilität 5 Minuten). Mit Bescheid vom 30.10.2000 lehnte die Beklagte den
Antrag des Klägers ab. Auf den Widerspruch vom 01.12.2000 hin bat sie den Kläger um
die Übersendung eines ausgefüllten Pflegetagebuchs. Dieses gelangte trotz
verschiedener Erinnerungen nicht zu den Akten der Beklagten. Der Kläger vertrat die
Auffassung, er habe das Pflegetagebuch mehrmals eingereicht. Im Januar 2002 erteilte
die Beklagte erneut einen Begutachtungsauftrag an den MDK. Bei einem ersten
angekündigten Termin für die Begutachtung am 08.04.2002 war der Kläger nach
Mitteilung des MDK ebenso wenig zu Hause wie an einem zweiten Termin am
14.06.2002.
3
Bereits am 06.06.2002 hat der Kläger beim Sozialgericht (SG) Düsseldorf Klage wegen
Untätigkeit der Beklagten erhoben. Seiner Meinung nach seien die
Begutachtungstermine nicht ordnungsgemäß angekündigt worden.
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Während des Klageverfahrens ist der Kläger am 04.09.2002 auf Veranlassung der
Beklagten durch den MDK begutachtet worden. Die Ärztin Frau C hat festgestellt, dass
der Grundpflegebedarf 15 Minuten betrage (Körperpflege 9 Minuten, Mobilität 6
Minuten). Auf der Grundlage dieses Gutachtens hat die Beklagte den Widerspruch des
Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 09.12.2002 zurückgewiesen.
5
Der Kläger hat die Untätigkeitsklage daraufhin am 13.01.2003 in eine Anfechtungs- und
Leistungsklage umgestellt und Leistungen der Pflegestufe I begehrt.
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Das SG hat zunächst einen Befundbericht des den Kläger behandelnden Internisten Dr.
N vom 04.04.2003 eingeholt. Anschließend hat es die Sachverständige I mit der
Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Nachdem es zunächst bereits Probleme bei der
Terminsabstimmung gegeben hatte, konnte die Sachverständige den Kläger am
09.07.2003, dem vereinbarten Termin, nicht zu Hause antreffen. Auf weitere Versuche
der Terminsabsprache hat der Kläger nicht reagiert bzw. einer Begutachtung in der
nächsten Zeit nicht zugestimmt. Das SG hat den Bevollmächtigten des Klägers auf
seine Mitwirkungspflichten und die Prozesslage sowie auf die Vorschrift des § 192
Sozialgerichtsgesetz (SGG) hingewiesen. Daraufhin hat der Bevollmächtigte des
Klägers sein Mandat niedergelegt.
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Zum Verhandlungstermin am 05.11.2003 ist der Kläger mit der Begründung nicht
erschienen, dass ihm die Teilnahme ohne Anwalt unzumutbar sei. Das SG hat die
Klage abgewiesen. Der Kläger sei nicht erheblich pflegebedürftig im Sinne von §§ 14,
15 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI), da er nach den übereinstimmenden
Gutachten des MDK keinen Pflegebedarf von mindestens 90 Minuten täglich, dabei
mehr als 45 Minuten in der Grundpflege habe. Dies habe der Bericht des Dr. N bestätigt.
Eine weitergehende Beweisermittlung sei an der mangelnden Mitwirkung des Klägers
gescheitert.
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Gegen das ihm am 10.12.2003 zugestellte Urteil hat der Kläger am 09.01.2004 mit
neuem Bevollmächtigten Berufung eingelegt und sein Begehren, ihm Leistungen der
Pflegestufe I zu gewähren, weiter verfolgt.
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Der Kläger ist ordnungsgemäß zum Termin zur mündlichen Verhandlung am
21.02.2006 geladen worden. Er hat dem Gericht unter Vorlage einer ärztlichen
Bescheinigung von Dr. N mitgeteilt, aus gesundheitlichen Gründen nicht erscheinen zu
können. Auch sein Bevollmächtigter hat nicht am Termin teilgenommen.
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Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
11
das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 05.11.2003 zu ändern und die Beklagte
unter Änderung des angefochtenen Bescheides vom 30.10.2000 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 09.12.2002 zu verurteilen, ihm Pflegegeld nach
Pflegestufe I ab dem 01.03.2001 zu zahlen.
12
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
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die Berufung zurückzuweisen.
14
Zur Begründung verweist sie auf die Ausführungen im Urteil des Sozialgerichts sowie
auf das Ergebnis der Beweiserhebung im Berufungsverfahren.
15
Der Senat hat den Neurologen und Psychiater Dr. A mit der Erstellung eines Gutachtens
beauftragt. Einen für den 30.08.2004 anberaumten Untersuchungstermin hat der Kläger
wegen eines Unfalls vom 15.06.2004 abgesagt. Nach Einholung eines Befundberichtes
von Dr. N vom 22.09.2004 zur Reisefähigkeit des Klägers ist Dr. A um Durchführung
eines Hausbesuchs gebeten worden. In dem am 14.02.2005 erstellten Gutachten hat
der Sachverständige einen Grundpflegebedarf von 37 Minuten festgestellt (Körperpflege
25 Minuten, Mobilität 12 Minuten). Auf Schreiben des Gerichts, dass die Berufung keine
Aussicht auf Erfolg habe, hat der Kläger nicht reagiert. Zu einem auf den 12.07.2005
anberaumten Erörterungstermin ist er nicht erschienen. Vor einem auf den 30.08.2005
anberaumten Verhandlungstermin hat er seinem Bevollmächtigten die Vollmacht
entzogen und um Vertagung gebeten. Vor einem weiteren auf den 25.10.2005
anberaumten Verhandlungstermin hat er am 24.10.2005 mitgeteilt, immer noch keinen
neuen Bevollmächtigten gefunden zu haben. Der Senat hat den Termin vertagt, weil der
Kläger noch nicht auf die Beiziehung der Rentenstreitakten hingewiesen worden war. Er
hat dem Kläger in der diesem zugestellten Sitzungsniederschrift dargelegt, dass bei
weiterer Rechtsverfolgung, die der Senat für rechtsmissbräuchlich halte, Kosten in Höhe
von 300 Euro (§ 192 Abs. 1 S.1 Nr. 2 SGG) auferlegt werden könnten.
16
Anfang November 2005 hat sich ein neuer Bevollmächtigter für den Kläger bestellt.
Dieser hat Akteneinsicht genommen und anschließend für den Kläger am 05.12.2005
einen Antrag gemäß § 109 SGG gestellt. Das Gericht hat dem Kläger Frist zur
Benennung eines Sachverständigen bis zum 09.12.2005 und zur Einzahlung eines
Kostenvorschusses bis zum 19.12.2005 gesetzt. Am 12.12.2005 hat der Kläger den
Sachverständigen Dr. Q benannt. Auf die Zahlungserinnerung des Gerichts hat der
Kläger am 10.01.2006 erklärt, derzeit nicht über die finanziellen Mittel zu verfügen, um
den Vorschuss einzuzahlen. Hierzu werde er Mitte Februar in der Lage sein, da ihm das
Geld dann darlehensweise zur Verfügung gestellt werde. Der Senat hat dem Kläger am
12.01.2006 mitgeteilt, dass er den Antrag auf Anhörung von Dr. Q nunmehr gemäß §
109 Abs. 2 SGG ablehne.
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Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie auf den Inhalt
der von der Beklagten beigezogenen Verwaltungsakten und der Rentenstreitakte des
Klägers (Sozialgericht Düsseldorf, S 27 RA 294/03) verwiesen. Diese Akten waren
Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.
Der angefochtene Bescheid vom 30.10.2000 in der Fassung des
Widerspruchsbescheids vom 09.12.2002 ist nicht rechtswidrig. Der Kläger hat keinen
Anspruch auf Leistungen nach Pflegestufe I. Das Sozialgericht hat die
entscheidungserheblichen Kriterien zutreffend dargestellt. Zur Vermeidung von
Wiederholungen nimmt der Senat auf die Gründe des angefochtenen Urteils Bezug und
sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs.
2 SGG). Das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten von Dr. A hat bestätigt, dass
der Grundpflegebedarf des Klägers das für die Gewährung von Pflegestufe I notwendige
Mindestmaß von 46 Minuten täglich im Durchschnitt nicht erreicht. Die vom Senat noch
beigezogenen Prozessakten des Rentenstreitverfahrens haben weitere Erkenntnisse im
Hinblick auf den Umfang des erforderlichen Hilfebedarfs nicht erbracht.
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Den Antrag des Klägers gem. § 109 SGG auf Anhörung von Dr. Q als Sachverständigen
lehnt der Senat nunmehr wegen Verzögerung des Rechtsstreits gem. § 109 Abs. 2 SGG
ab. Das für das Berufungsziel des Klägers negative Gutachten von Dr. A ist ihm bereits
im Februar 2005 übersandt worden. Seither hat der Kläger das Verfahren dadurch in die
Länge gezogen, dass er auf Schreiben des Gerichts nicht substantiiert geantwortet hat
oder zu anberaumten Terminen nicht erschienen ist. Er hat sich weder mit dem
Gutachten von Dr. A sachlich auseinander gesetzt noch im Einzelnen den seiner
Meinung nach bestehenden Hilfebedarf konkret dargelegt. Zugunsten des Klägers hat
der Senat dennoch den Anfang Dezember 2005 gestellten Antrag des Klägers auf
Einholung eines Gutachtens gemäß § 109 SGG nicht von vornherein abgelehnt,
sondern ihm Gelegenheit gegeben, den Kostenvorschuss bis zum 19.12.2005
einzuzahlen. Dem ist der Kläger nicht nachgekommen. Ein weiteres Zuwarten hätte die
Erledigung des seit einem Jahr entscheidungsreifen Rechtsstreits unvertretbar
verzögert. Dies gilt um so mehr, als das bisherige Prozessgebahren des Klägers die
Gewähr dafür vermissen lässt, dass dieser tatsächlich noch eine Einzahlung vornehmen
und einem Termin des Sachverständigen Folge leisten würde.
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Die Entscheidung über die Auferlegung von Kosten in Höhe von 300 Euro beruht auf
der Vorschrift des § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG in der seit dem 02.01.2002 geltenden
Fassung des Sechsten Gesetzes zur Änderung des SGG vom 17.08.2001 (BGBl. I,
2144, 2151). Der Kläger hat den Rechtsstreit fortgeführt, obwohl der Vorsitzende ihm im
Termin vom 25.10.2005 ausdrücklich die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung
dargelegt und ihn auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des
Rechtsstreits hingewiesen hat. Der Anwendung des § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG steht
nicht entgegen, dass der zu diesem Termin persönlich geladene Kläger unentschuldigt
nicht erschienen ist und den Hinweis daher nicht persönlich entgegen nehmen konnte.
Die Vorschrift setzt nach Auffassung des Senats nicht voraus, dass ein ordnungsgemäß
geladener Kläger in dem Termin, in dem der Vorsitzende den (Warn-)Hinweis erteilt,
persönlich anwesend ist. Es genügt vielmehr, wenn der Hinweis als wesentlicher
Vorgang in die Terminsniederschrift aufgenommen wird und der Beteiligte mit der
Übersendung des Sitzungsprotokolls rechtliches Gehör erhält. Der Senat teilt nicht die
in der Kommentierung zum SGG teilweise vertretene Auffassung, nach der die
Auferlegung von Kosten ausgeschlossen sei, wenn der Beteiligte zu keinem der
anberaumten Termine erscheine (vgl. Zeihe, SGG, § 192 Rz. 16 b). Nach dem
Gesetzeswortlaut ("ihm in einem Termin") kann man annehmen, dass der Vorsitzende
den im Termin anwesenden Beteiligten auf die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung
hinweisen muss.
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Die Formulierung des § 192 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG erfordert die persönliche
Anwesenheit jedoch nicht ausdrücklich. Wäre diese Eingrenzung vom Gesetzgeber
gewollt gewesen, hätte er eine entsprechend klare Formulierung wählen können
("obwohl der Vorsitzende dem persönlich im Termin anwesenden Beteiligten die
Missbräuchlichkeit dargelegt hat"). Eine solch enge Auslegung ergibt sich auch nicht
aus den Gesetzgebungsmaterialien. Dort wird lediglich ausgeführt, dass der Beteiligte
vorab auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung hingewiesen werden solle (BT-Drs.
14/6335, S. 33). Schließlich entspricht eine restriktive Auslegung nicht Sinn und Zweck
der Vorschrift des § 192 SGG. Der Beteiligte, der sich trotz Anordnung des persönlichen
Erscheinens der Erörterung der Sach- und Rechtslage entzieht und von einer weiteren
Prozessführung trotz entsprechender Belehrung in einem Termin nicht Abstand nimmt,
missbraucht den kostenfreien sozialgerichtlichen Rechtsschutz mindestens genau so
weit wie der Beteiligte, der in der mündlichen Verhandlung erscheint und dort auf der
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rechtsmissbräuchlichen Fortführung des Verfahrens beharrt. Eine Bevorzugung des
wenig mitwirkungsbereiten Beteiligten ist erst recht dann sachlich nicht gerechtfertigt,
wenn dieser wie im vorliegenden Fall sogar anwaltlich vertreten ist und auch der
Bevollmächtigte selbst nicht für den persönlich geladenen Beteiligten zum Termin
erscheint.
Nach der wiederholten Erläuterung der Sach- und Rechtslage in einer Vielzahl von
Richterbriefen sowie ausdrücklich gegenüber dem damaligen Prozessbevollmächtigten
des Klägers im Erörterungstermin vom 12.07.2005, schließlich erneut in der mündlichen
Verhandlung vom 25.10.2005 musste der jetzt wieder anwaltlich vertretene Kläger die
Sinnlosigkeit der Aufrechterhaltung der weiteren Rechtsverfolgung ohne Weiteres
erkennen. Wenn er das Verfahren dennoch ohne sachliche Begründung fortführt, so
stellt sich das Weiterprozessieren als Rechtsmissbrauch mit der Kostenfolge des § 192
Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG dar. Die Höhe der auferlegten Kosten bestimmt sich nach §§ 192
Abs. 1 S. 3, 184 Abs. 2 SGG, wobei der Senat die Kosten im Hinblick auf die
Einkommensverhältnisse des Klägers mit 300 Euro am unteren Rahmen angesetzt hat.
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Im Übrigen beruht die Kostenentscheidung auf 193 SGG.
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Der Senat hat die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs.2 Nr.1
oder 2 SGG) nicht als gegeben angesehen.
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