Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 04.12.2001

LSG NRW: therapie, fahrrad, versorgung, isolation, behinderung, verordnung, gebrauchsgegenstand, verfügung, fehlbildung, integration

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Vorinstanz:
Nachinstanz:
Sachgebiet:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Rechtskraft:
Landessozialgericht NRW, L 5 KR 17/01
04.12.2001
Landessozialgericht NRW
5. Senat
Urteil
L 5 KR 17/01
Sozialgericht Aachen, S 6 KR 51/00
Bundessozialgericht, B 3 KR 3/02 R
Krankenversicherung
rechtskräftig
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Aachen
vom 15.12.2000 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung der
Bescheide vom 02.03.1999 und 16.11.1999 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 15.06.2000 verurteilt, dem Kläger ein
Therapie-Dreirad zur Verfügung zu stellen. Die Beklagte trägt die
außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen. Die
Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Versorgung des Klägers mit einem behinderten gerechten Dreirad (Therapie-
Dreirad).
Der 1989 geborene Kläger ist bei der Beklagten familienversichert. Nach ehemaliger
Frühgeburt mit Sauerstoffmangel liegt ein multiples Fehlbildungssyndrom vor, u.a. mit einer
Fußfehlstellung links nach angeborenem Klumpfuß, einer Teillähmung der unteren
Gliedmaße und einer Fehlbildung der linken Hand (Syndaktylie). Wegen einer durch eine
Brille weitgehend ausgeglichenen Sehschwäche besucht er eine Sehbehindertenschule.
Geistige Einschränkungen bestehen nicht mehr, eine zunächst noch vorliegende geistige
Retardierung hat er aufgeholt.
Der Kläger beantragte im Februar 1999 die Prüfung, ob und in welcher Höhe die Beklagte
die Kosten eines behindertengerechten Fahrrades übernehme. Die Beklagte lehnte mit
Bescheid vom 02.03.1999 eine Kostenbeteiligung ab, da ein Behindertenfahrrad nach den
Heil- und Hilfsmittelrichtlinien einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen
Lebens darstelle. Auf den Widerspruch des Klägers wies sie mit Schreiben vom 18.03.1999
darauf hin, ein Spastiker-Dreirad, das als Hilfsmittel in Betracht komme, sei nicht verordnet
worden.
Am 04.10.1999 reichte der Kläger bei der Beklagten eine vertragsärztliche Verordnung für
ein Dreirad mit Blinkanzeige, Zentralbremse und Gangschaltung sowie das Angebot eines
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Sanitätshauses für ein behindertengerechtes Dreirad einschließlich Zubehör (Kosten
insgesamt 4.029,83 DM) ein. Zur Prüfung des Antrages holte die Beklagte ein Gutachten
des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ein. Dr. G ... führte in seinem
Gutachten vom 05.11.1999 aus, nach den vorliegenden Gutachten zum Pflegebedarf könne
der Kläger mittlere Wegstrecken bis zwei Kilometer unter Verwendung der vorhandenen
Beinschienen selbständig bewältigen. Es sei möglich, dass er wegen der
Funktionsstörungen der unteren Gliedmaße ein handelsübliches Fahrrad nicht benutzen
könne. Das Dreirad sei angesichts der angebotenen Ausrüstung jedoch als Verkehrsmittel
und Gebrauchsgegenstand gekennzeichnet, das Radfahren sei kein Grundbedürfnis
menschlicher Existenz, für dessen Realisierung die gesetzliche Krankenversicherung
zuständig sei. Das Radfahren bedeute auch keine wesentliche therapeutische Ergänzung
zu der wöchentlich durchgeführten krankengymnastischen Behandlung.
Mit Bescheid vom 16.11.1998 und Widerspruchsbescheid vom 15.06.2000 lehnte die
Beklagte den Antrag ab: Sie wies im Hinblick auf das Gutachten des MDK darauf hin, dass
die Mobilität in ausreichendem Umfang gewährleistet sei.
Im Klageverfahren hat der Kläger vorgetragen, bei dem beantragten Therapie-Dreirad
handele es sich um ein Hilfsmittel. Soweit es ein Fahrrad als allgemeinen
Gebrauchsgegenstand ersetze, sei er zu einer Eigenbeteiligung bereit. Die Sehschwäche
werde durch angepasste Sehhilfen weitestgehend ausgeglichen, so dass er nach
Anweisung das Fahrrad selbst führen könne. Das Radfahren stelle zumindest bei einem
Kind, das gleichaltrigen Kindern beim Fahrrad fahren zusehen müsse, ein elementares
Grundbedürfnis dar. Ferner komme es durch das Radfahren zu einem Muskelaufbau der
unteren Gliedmaße.
Das Sozialgericht hat einen Bericht von der behandelnden Kinderärztin E ... eingeholt
(Bericht vom 05.10.2000), die u.a. ausgeführt hat, wegen der Fehlbildung der linken Hand
könne der Kläger ein zweirädriges Rad nicht führen. Nach seinem sonstigen geistigen und
körperlichen Status sei er zur Teilnahme am Straßenverkehr befähigt.
Mit Urteil vom 15.12.2000 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Mobilität des
Klägers sei sichergestellt, da die Einschränkung der Gehfähigkeit durch die vorhandenen
Hilfsmittel ausgeglichen werde. Die Möglichkeit der schnelleren Fortbewegung mittels
eines Fahrrades stelle kein elementares Grundbedürfnis dar.
Der Kläger hält im Berufungsverfahren an seinem Begehren fest.
Der Kläger stellt nach seinem Vorbringen den Antrag,
das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 15.12.2000 zu ändern und die Beklagte unter
Aufhebung der Bescheide vom 02.03.1999 und 16.11.1999 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 15.06.2000 zu verurteilen, ihm ein Therapie-Dreirad zur
Verfügung zu stellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, das Dreirad sei auch nicht wegen der Notwendigkeit der
sozialen Integration in der Entwicklungsphase erforderlich. Da der Kläger unter
Verwendung der vorhandenen Hilfsmittel gehen könne, bestehe nicht die Gefahr einer
Isolation, denn er habe mehrfache Möglichkeiten, an der üblichen Lebensgestaltung
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Gleichaltriger teilzunehmen und mit ihnen zu spielen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht
abgewiesen, denn die Bescheide, mit denen die Beklagte die Gewährung eines Therapie-
Dreirades abgelehnt hat, sind rechtswidrig. Der Kläger hat einen Anspruch auf die
Versorgung mit einem behindertengerechten Dreirad.
Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte
Anspruch u.a. auf Hilfsmittel, die im Einzelfall erforderlich sind, den Erfolg der
Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die
Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen
oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind.
Die letztgenannten Ausschlussgründe liegen nicht vor. Ein Therapie-Dreirad ist nicht ein
nach der gemäß § 34 Abs. 2 SGB V erlassenen Verordnung vom 13.12.1989 (BGBl. I,
2237) ausgeschlossenes Hilfsmittel. Ein Dreirad der hier benötigten Art ist, wie auch der
eingereichte Kostenvoranschlag des Sanitätshauses zeigt, speziell für Bedürfnisse
behinderter Personen konstruiert und wird auch ganz oder überwiegend von diesem
Personenkreis benutzt, so dass es sich nicht um einen Gebrauchsgegenstand des
täglichen Lebens handelt (vgl. dazu BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 33). Unerheblich für den
Leistungsanspruch ist, ob solche Dreiräder in dem nach § 128 SGB V erstellten
Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt werden (vgl. BSG SozR 3-2500 § 33 Nrn. 27, 28).
Das Dreirad ist auch erforderlich, um die Behinderung des Klägers auszugleichen. Nach
dem Gutachten des MDK und dem Bericht der Kinderärztin E ... steht fest, dass die
Gehfähigkeit des Klägers eingeschränkt ist und er wegen der Behinderung der unteren
Gliedmaße sowie der Fehlbildung der linken Hand ein handelsübliches zweirädriges
Fahrrad nicht führen kann. Ein an die Behinderung des Klägers angepasstes Dreirad ist
daher erforderlich, um ihm das selbständige Radfahren zu ermöglichen.
Soweit ein Hilfsmittel die ausgefallene oder beeinträchtigte Organfunktion nur mittelbar
ersetzt, erstreckt sich die Leistungspflicht der Krankenkasse nach ständiger
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nur auf solche Mittel, deren Einsatz zur
Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird (BSG SozR
3-2500 § 33 Nr. 32 mit Nachweisen zur Rechtsprechung). Die zu diesen
Grundbedürfnissen zählende Mobilität zur Erschließung eines gewissen körperlichen
Freiraums ist zwar bei dem Kläger sichergestellt. Dabei geht der Senat mangels gegen
teiligen Vortrags des Klägers davon aus, dass die Feststellung des MDK, der Kläger könne
mittlere Wegstrecken auch selbständig zu rücklegen, weiterhin zutrifft, obwohl er nach den
Angaben seiner Eltern in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht
zwischenzeitlich operiert worden und nicht mehr mit einer Allgöver-Schiene versorgt ist. Da
es insoweit nur um den Basisausgleich im Sinne der Möglichkeit, kürzere Wegstrecken
zurückzulegen, geht, ist eine ausreichende Mobilität des Klägers mit den vorhandenen
Hilfsmitteln (in Aussicht stand eine Versorgung mit orthopädischen Schuhen und
Stabilisatoren) gegeben.
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Grundsätzlich zählt auch das Radfahren als solches nicht zu den von den Krankenkassen
zu befriedigenden Grundbedürfnissen (BSG a.a.O.). In der Entscheidung vom 16.04.1998
hat jedoch der 3. Senat des BSG (SozR 3-2500 § 33 Nr. 27) bei Kindern und Jugendlichen
ein über die Erschließung des körperlichen Freiraums hinausgehendes Grundbedürfnis in
der Möglichkeit gesehen, zur Vermeidung einer drohenden Isolation am üblichen Leben
ihrer Altersgruppe teilnehmen zu können. Bei Kindern und Jugendlichen zähle auch die
Möglichkeit, zu spielen und allgemein an der üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger
teilnehmen zu können, als Bestandteil der sozialen Lernprozesse zu den
Grundbedürfnissen, weil davon in diesem Lebensabschnitt entscheidend abhänge, ob
gesellschaftliche Kontakte aufgebaut und aufrechterhalten werden könnten. Das BSG hat
daher in der genannten Entscheidung für einen auf einen Rollstuhl angewiesenen
Jugendlichen einen Anspruch auf ein handbetriebenes Zuggerät bejaht, weil dem
Jugendlichen dadurch Möglichkeiten eröffnet würden, die denjenigen nahekämen, die
Jugendliche mit Hilfe eines Fahrrades realisieren könnten. In dem Urteil vom 16.09.1999
(SozR 3-2500 § 33 Nr. 31) hat es klargestellt, dass es um die Integration des Jugendlichen
in den Kreis der laufenden und radfahrenden gleichaltrigen Jugendlichen gegangen sei.
Somit haben nach dieser Rechtsprechung behinderte Kinder und Jugendliche, die kein
handelsübliches Fahrrad führen können, Anspruch auf ein behindertengerechtes Rad,
damit sie an der - nach den genannten Entscheidungen - üblichen Lebensgestaltung
Gleichaltriger teilnehmen können.
Der Auffassung der Beklagten, ihre Leistungspflicht komme nur in Betracht, wenn ohne die
Gewährung des Hilfsmittels dem Versicherten tatsächlich die soziale Isolierung drohe,
kann sich der Senat nicht anschließen. Eine solche Einschränkung kann dem Urteil vom
16.04.1998 (a.a.O.) nicht entnommen werden. Zwar führt das BSG zu nächst aus, aufgrund
der Behinderung könne der Jugendliche nicht oder nur stark eingeschränkt am üblichen
Leben seiner Altersgruppe teilnehmen, wodurch ihm die soziale Isolation drohe. Es zählt
dann aber uneingeschränkt generell die Möglichkeit, spielen bzw. allgemein an der
üblichen Lebensgestaltung Gleichaltriger teilnehmen zu können, als Bestandteil des
sozialen Lernprozesses zu den Grundbedürfnissen eines Kindes oder Jugendlichen. Die
Tatsache, dass das BSG nicht erörtert, welche Kontaktmöglichkeiten für den Jugendlichen
ohne das begehrte Hilfsmittel bestanden haben, zeigt deutlich, dass es nicht darauf
ankommt, ob nur durch das Hilfsmittel einer Isolation entgegengewirkt werden kann. Eine
solche Abgrenzung wäre im Übrigen praktisch nicht möglich, weil keine Maßstäbe dafür
ersichtlich sind, welche Möglickeiten, an der Lebensgestaltung Gleichaltriger teilnehmen zu
können, noch vorhanden sein müssten, um das Drohen einer Isolation zu verneinen. Wenn
die Einbeziehung des behinderten Kindes in den Kreis der laufenden und fahrradfahrenden
Gleichaltrigen wegen der sozialen Integration erforderlich ist, muss dem behinderten Kind
unabhängig von seinen sonstigen Kontaktmöglichkeiten die Möglichkeit verschafft werden,
mit anderen Kindern Rad fahren zu können.
Der Senat verkennt nicht, dass damit den Krankenkassen eine weitgehende
Leistungspflicht auferlegt wird. Wenn man zu den von den Krankenversicherungsträgern zu
befriedigenden Grundbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zählt, an
den üblichen Aktivitäten ihrer Altersgruppe teilnehmen zu können, müssten gegebenenfalls
auch motorgetriebene Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden, wenn mit Körperkraft
betriebene Mittel nicht ausreichen. Ferner ist auch nicht klar, bis zu welchem Alter dieses
Integrationsbedürfnis besteht. Bei einem zwölfjährigen Kind wie dem Kläger kann es
allerdings unbedenklich bejaht werden.
Sonstige Gründe stehen dem Leistungsanspruch nicht entgegen. Soweit im Gutachten des
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MDK wegen der Sehschwäche Zweifel daran geäußert worden sind, ob der Kläger am
öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen kann, sind diese durch den Bericht der
behandelnden Kinderärztin ausgeräumt worden. Sie bejaht uneingeschränkt, dass der
Kläger nach seinen sonstigen geistigen und körperlichen Fähigkeiten in der Lage ist, mit
dem Dreirad (nach Einweisung) sich im Verkehr zu bewegen.
Die Versorgung mit dem Therapie-Dreirad entspricht auch dem Gebot der Wirtschaftlichkeit
(§ 12 Abs. 1 SGB V), denn es ist nicht ersichtlich, dass eine kostengünstigere
Versorgungsmöglichkeit mit der nach der ärztlichen Verordnung erforderlichen Ausstattung
besteht.
Der Senat konnte die Beklagte allgemein zur Versorgung mit einem Therapie-Dreirad ohne
Konkretisierung des Gerätetyps verurteilen, da aus der ärztlichen Verordnung die Art des
begehrten Mittels klar hervorgeht und daher davon auszugehen ist, dass die Parteien nicht
über die Auswahl streiten werden. Ebenso kann offen bleiben, ob die Beklagte den
Sachleistungsanspruch des Klägers dadurch erfüllt, dass sie das Dreirad übereignet oder
leihweise zur Verfügung stellt. In beiden Fällen ist die Beklagte auch befugt, von dem
Kläger wegen der Ersparnis der Anschaffung eines handelsüblichen Fahrrades einen
Eigenanteil zu verlangen (vgl. zu alledem BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 27). Einen
Eigenanteil in der von der Beklagten bei Übereignung des Hilfsmittels üblicherweise
verlangten Höhe hat der Kläger im Übrigen selbst angeboten. Der Senat hat jedoch davon
abgesehen, diesen Eigenanteil in den Tenor aufzunehmen, weil die Beklagte auch die
Möglichkeit hat, bei einer leihweisen Überlassung des Dreirades ein laufendes
Nutzungsentgelt zu verlangen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG)
zugelassen, weil er eine Klarstellung der höchstrichterlichen Rechtsprechung für
erforderlich hält.