Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 10.07.2003

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Landessozialgericht NRW, L 16 B 35/03 KR ER
Datum:
10.07.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 16 B 35/03 KR ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Aachen, S 6 KR 56/03 ER
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den ihr einstweiligen
Rechtsschutz versagenden Beschluss des Sozialgerichts (SG) Aachen
vom 6. Mai 2003 wird zurückgewiesen, nachdem das SG der
Beschwerde nicht abgeholfen hat (Entscheidung vom 4.6.2003). Kosten
sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
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Der Senat weist die Beschwerde aus den Gründen der angefochtenen Entscheidungen
zurück. Das Vorbringen der Antragstellerin konnte demgegenüber nicht überzeugen:
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I.
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1. Das SG geht aaO davon aus, daß zZt keine hinreichende Wahrscheinlich keit dafür
besteht, daß die intravenöse Verabreichung von Immunglobulinen (IVIG) zu Lasten der
gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bei schubförmig remittierend verlaufender
Erkrankung an MS im Wege eines nur ausnahmsweise zulässigen off-label-use
(Bundessozialgericht (BSG) Urt.v. 19.3.02 B 1 KR 37/00 R = BSGE 89,184 = SozR 3-
2500 § 31 Nr 8 - "Sandoglobulin gegen chronisch progrediente MS") bei einer
Entscheidung der Hauptsache (hier wohl anhängig unter dem Aktenzeichen S 6 KR
61/03 SG Aachen) für zulässig erklärt werden kann. Das SG fußt dabei wesentlich auf
einer Auskunft, die ihm das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)
auf Anfrage vom 9.9.2002 mit Datum des 22.1.2003 in einer anderen Streitsache erteilt
hat (S 6 KR 105/02 SG Aachen).
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2. Die Interpretation dieser Auskunft des BfArM durch die Bevollmächtig ten der
Antragstellerin ist falsch, soweit diese ausführen, das BfArM habe ausdrücklich
bestätigt, daß in den einschlägigen Fachkreisen Konsens bestehe, daß die Therapie mit
Immunglobulinen als Heilversuch (also unter den Voraus setzungen der off-label-use-
Rechtsprechung) einzusetzen sei, wenn Kontraindi kationen für Interferone und
Glatimeracetat (Copaxone) vorlägen. Wenn das BfArM aaO erklärt, aus regulatorischer
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Sicht könne eine Behandlung dann al lerdings nur im Rahmen eines Heilversuchs
erfolgen, dann konnte damit nach den vorangegangenen und auch nach den späteren
Ausführungen ersichtlich nur gemeint sein, daß die streitige Behandlung nur als von der
Leistungspflicht der GKV ausgeschlossener "individueller Heilversuch" (vgl. BSGE
81,182 = SozR 3-2500 § 109 Nr 5) in Betracht kommt. Das BfArM hat auch aaO keinen
"Konsens in den einschlägigen Fachkreisen" im Sinne des o.a. Sandoglobulin- Urteils
des BSG bestätigt, sondern nur, daß "klinische Experten" die streitige Behandlung "für
gerechtfertigt" halten bei Kontraindikation zugelassener Mittel und bei einem Erfolg im
Einzelfall (wie er für die Frage der Lei stungspflicht der GKV ohne Belang ist). Konsens
im hier maßgeblichen Sinn spricht auch der die Antragstellerin behandelnde Nervenarzt
Dr. D ... nicht an, wenn er mit Schreiben vom 3.7.2002 erklärt, er habe die Behandlung
für notwendig erachtet entsprechend den neuen Empfehlungen der Konsensusgruppe
(immunmodulatorische Stufentherapie der MS - neue Aspekte und praktische Um
setzung - 2. Ergänzung März 2002) - will wohl heißen entsprechend dem von den
Bevollmächtigten der Antragstellerin erwähnten "Konsensuspapier" der Deutschen
Multiple-Sklerose-Gesellschaft, abgedruckt in "Der Nervenarzt", 1999, S. 371-386 sowie
2001, S. 150-157). Konsens im hier maßgeblichen Sinn aus drücklich verneint hat sogar
der Arzt, der die Klägerin in einem beim erken nenden Senat zur Hauptsache
anhängigen gleichgelagerten Fall (dort mit Kon traindikation wegen Kinderwuchs)
behandelt (L 16 KR 96/03 LSG NW). Es recht fertigt schließlich nicht schon die
Kontraindikation zugelassener Mittel den an sich ausgeschlossenen off-label-use, sie ist
dafür vielmehr nach dem o.a. Sandoglobulin-Urteil weitere Voraussetzung neben u.a.
der aaO unter Nummer 3 vom BSG geforderten Datenlage zur Frage der Wirksamkeit
und Unschädlichkeit des zulassungsfremden Einsatzes des Mittels.
3. Es stimmt überdies die Auskunft des BfArM vom 22.1.2003 aus der Streitsache S 6
KR 105/02 in wesentlichen Dingen überein mit einer Auskunft, die das für die Zulassung
von Immunglobulinen zuständige ...- ...-Insti tut (PEI) dem SG Düsseldorf in dem beim
Senat anhängigen Hauptsacheverfahren (L 16 KR 96/03 LSG NW = S 4 KR 182/01 SG
Düsseldorf) auf Anfrage vom 5.9.2001 mit Datum des 28.9.2001 gegeben hat, in der es
abschließend heißt, es bleibe festzustellen, daß die derzeitig vorliegenden Studien und
Fallberichte noch nicht die Anforderungen erfüllten, die an Studien zum Nachweis der
Wirksam keit und Sicherheit der Immunglobulin-Anwendung bei MS gestellt würden;
eine Vielzahl von Fragen sei noch offen, zu deren Klärung kontrollierte Studien
durchgeführt würden.
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II.
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Zu Unrecht lasten die Bevollmächtigten der Antragstellerin dem SG an, es habe die
Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in seiner Ilomedin-
Entscheidung (v. 22.11.2002 1 BvR 1586/02 = NZS 2003,253 = NJW 2003,1236)
außeracht gelassen. Es habe vielmehr die Bevollmächtigten im Anordnungsver fahren
hinreichend weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht, daß hier die vom BVerfG aaO
vorausgesetzten tatsächlichen Gegebenheiten wie das Vorliegen ei ner
lebensbedrohlichen Situation anzunehmen wären, zu denen das Bundesinsti tut für
Arzneimittel und Medizinprodukte BfArM auf Befragung durch das SG aaO u.a. mitgeteilt
hat, es könne heute nicht mehr davon ausgegangen werden, daß die schubförmig
remittierend verlaufende Erkrankung an MS lebensverkürzend sei und (nur) in einem
Drittel der Fälle komme es zu einem ungünstigen Ver lauf mit deutlichen Behinderungen
im privaten und beruflichen Umfeld. Die Folge der Entscheidung des BVerfG ist, wäre
sie einschlägig, auch nicht die, daß dem Versicherten ggf. trotz Fehlens einer
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entsprechenden Datenlage zur Wirksamkeit bei Kontraindikation zugelassener Mittel
der Einsatz gebräuchli cher, aber vom maßgeblichen Konsens einschlägiger Fachkreise
(noch ?) nicht erfaßter nichtzugelassener Mittel zu Lasten der GKV zugebilligt werden
müßte. Das BVerfG verlangt vielmehr aaO im wesentlichen lediglich (und nur, wenn die
Gerichte sich im Verfahren wegen der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes, wie
hier das SG, an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren) eine besonders
intensive anstatt der sonst im Eilverfahren gebotenen summarischen Betrachtung und
die Beachtung bestimmter Grundsätze.
III.
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Wollte man insoweit allen Hinweisen zu Erkenntnissen über die Wirksamkeit und
Unschädlichkeit des streitigen off-label-use nachgehen, würde dies den Erlaß einer
einstweiligen Anordnung auf nicht absehbare Zeit unmöglich ma chen. Was dem Senat
insoweit bislang an Erkenntnisquellen vorliegt, erlaubt es hingegen nicht, die eindeutig
ablehnende Sicht d e r beiden Institute in Frage zu stellen, die am ehesten dazu
aufgerufen sind, sich einen Überblick über den Datenstand im Sinne der Forderungen
des BSG zu Nummer 3 im Sando globulin-Urteil zu verschaffen.
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So ist durchaus nicht offensichtlich, was die Bevollmächtigten der Antrag stellerin ohne
nähere Darlegungen mutmaßen, daß in die Bewertung des BfArM vom 22.1.2003 die im
November 2002 veröffentlichen Ergebnisse einer randomi sierten und kontrollierten
Studie von Lewanska et al. zum Einsatz von Immun globulinen nicht eingeflossen seien.
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So gründet der Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 12.9.2002 (L 4 KR
148/02 ER = S 11 KR 492/02 ER SG Hannover) auf der aaO nichtspezifi zierten
Behauptung des vom SG hinzugezogenen Sachverständigen vom 24.7.2002, es lägen
umfangreiche Studienergebnisse vor, die eindeutig belegten, einen Benefit der
intravenösen Behandlung mit Immunglobulin bei Müttern in der Postpartalphase und
auch in der Stillzeit, daß während der Stillzeit andere Therapien zur Schubprophylaxe
nicht zur Verfügung ständen, daß nach allen in ternational und national konzipierten
Studien ein Wirksamkeitsnachweis er bracht sei, und daß die zur Zeit laufende GAMPP-
Studie zur Zulassung von Im munglobulinen in der Postpartalzeit führen würden.
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So scheinen sich das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht, das die streitige
Behandlung zu Lasten der GKV in seinem Urteil vom 8. Oktober 2002 L 1 KR 5/02 für
zulässig erachtet, und der von ihm am 10.7.2001 als Sachver ständige gehörte Arzt für
Neurologie und Psychiatrie Dr. K ... auf eben die Studie von F ... u.a. in Österreich zu
beziehen, die das BfArM in seiner Antwort vom 22.1.2003 ausführlich gewichtet und für
zu "leicht" befunden hat.
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Die Entscheidung über die Kosten folgt § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
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Die Beschwerde zum BSG ist nicht gegeben (§ 177 SGG).
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