Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 12.06.1997

LSG NRW (kläger, hilfsmittel, 1995, versorgung, teilnahme, behinderung, funktion, leben, leistung, stellungnahme)

Landessozialgericht NRW, L 2 Kn 134/95
Datum:
12.06.1997
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 2 Kn 134/95
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 24 Kn 123/93
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, 8 RKn 13/97
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts
Dortmund vom 24. Oktober 1995 geändert. Die Beklagte wird unter
Aufhebung des Bescheides vom 17. Juni 1993 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 07. September 1993 verurteilt, dem
Kläger einen Betrag von 4.426,20 DM zu zahlen. Sie trägt die Kosten
des Klägers aus beiden Rechtszügen. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger die Kosten für ein
selbstbeschafftes Tandem-Therapiefahrrad in Höhe von 4426,20 DM zu erstatten hat.
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Der am 00.00.1984 geborene Kläger ist bei der Beklagten familienversichert. Er leidet
an einer geistigen Behinderung und einer alternierenden Hemiplegie. Diese Erkrankung
ist mit unvorhersehbaren wechselnden Halbseitenlähmungen sowie einer
durchgehenden Beeinträchtigung des Gleichgewichts und der Körperkoordination
verbunden. In den zumeist mehrere Tage andauernden Schwächezuständen findet sich
in schweren Fällen eine völlige Lähmung einer Körperseite. Leichtere Fälle sind mit
einer erheblichen Beeinträchtigung des Gangbildes sowie der Fein- und Grobmotorik
des betroffenen Armes verbunden. Der Kläger ist von der Beklagten bisher mit zwei
Faltrollstühlen, von denen sich einer in der von dem Kläger besuchten
Behindertenschule befindet, versorgt worden.
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Der den Kläger langjährig behandelnde und an der vertragsärztlichen Versorgung
teilnehmende Leiter der Neuropädiatrischen Abteilung der Kinderklinik der Städtischen
Kliniken E, Dr. T, verordnete dem Kläger unter dem 10.03.1993 neben einem
Faltrollstuhl ein individuell angefertigtes Therapiefahrrad und übersandte der Beklagten
einen von der Fa. "tri-mobil" erstellten Kostenvoranschlag über ein Sesselradtandem. Er
hielt es für dringend erforderlich, mit diesem Hilfsmittel die Selbständigkeitsentwicklung
und die psychomotorische Entwicklung des Klägers zu unterstützen und zu verstärken.
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Bei dem von der Fa. "tri-mobil" angebotenen Tandem-Therapiefahrrad findet der
Behinderte auf einem niedrigeren Sitz vor dem Nichtbehinderten Platz. Der Sitz für den
Behinderten hat eine große Unterstützungsfläche und eine hohe, breite Rückenführung,
die zusätzlich zur Entlastung des Rumpfes nach hinten geneigt ist. Die Ausstattung mit
einem Frontverlauf ermöglicht es dem vorne Sitzenden unabhängig von dem
Hintermann in die Pedale zu treten. Die hinten sitzende Person lenkt das Tandem. Der
vorne sitzende Beifahrer hat Haltegriffe. Der Rahmen ist so konstruiert, daß der
Hintermann bei richtig eingestelltem Sattel im Stand mit beiden Füßen fest auf dem
Boden steht. Die Rahmengröße läßt sich verstellen, so daß Personen mit einer Größe
von 1,30 m bis 2,00 m auf dem Therapiefahrrad fahren können. Die Aufnahme des
Tandem- Therapiefahrrades "Persikop-Sesselradtandem" in das Hilfsmittelverzeichnis
der gesetzlichen Krankenversicherung ist nicht beantragt worden.
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Die Beklagte lehnte den Antrag auf Bereitstellung eines Tandem-Therapiefahrrades mit
Bescheid vom 17.06.1993 ab. Bei dem beantragten Therapiefahrrad handele es sich um
einen Freizeit- und Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, dessen Anschaffung
in die Eigenverantwortung des Versicherten falle. Mit Widerspruchsbescheid vom
07.09.1993 wurde der Widerpruch vom 08.07.1993 zurückgewiesen und ausgeführt,
unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes sei die Ausstattung mit dem begehrten
Therapiefahrrad abzulehnen, da der mit dem Hilfsmittel verfolgte Zweck auf andere
Weise mit geringerem finanziellen Aufwand ebenso wirksam erreicht werden könne.
Eine Beseitigung von Ausfallerscheinungen oder Behinderungen könne nicht erreicht
werden, da die bei dem Kläger im Vordergrund stehenden Schwächeanfälle nur
zeitweise bzw. unwillkürlich aufträten.
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Hiergegen hat der Kläger am 27.09.1993 Klage zum Sozialgericht Dortmund (SG)
erhoben und sich auf eine weitere Stellungnahme von Dr. T vom 18.10.1993 bezogen.
Dieser hat betont, das Therapiefahrrad diene dazu, die Bewegungskoordination der
Beine des Klägers, den Haltungs- und Bewegungstonus der Muskulatur sowie seine
Spastizität zu mindern und seine Gleichgewichtsprobleme zu verbessern.
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Der Kläger hat das Angebot der Beklagten vom 04.07.1995, die Kosten für ein sog.
"Rollfiets" abzüglich eines Eigenanteils von 500,- DM zu übernehmen (Herstellerpreis
nach dem Hilfmittelverzeichnis 6300,- DM) abgelehnt und geltend gemacht,
wesentliches Merkmal des begehrten Tandems sei seine aktive Teilnahme an der
Fortbewegung.
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Die Beklagte hat eine Stellungnahme des Ltd. Arztes ihres Sozialmedizinischen
Dienstes in N, Dr. L, vom 08.09.1994 vorgelegt. Dieser hat ausgeführt, bei dem
beschriebenen Krankheitsbild halte er es für undenkbar, daß das beantragte Tandem-
Therapiefahrrad dem Kläger eine wirkliche Rehabilitation oder therapeutische Hilfe
biete. Eher müsse mit einer erhöhten Unfallgefährdung gerechnet werden, da eine
seitliche Abstützung auf dem Therapierad nicht in ausreichender Weise gegeben sei.
Bei den von der Kinderklinik geschilderten plötzlichen Schwächezuständen seien eine
einseitige Gewichtsverlagerung und ein Umkippen des Therapierades denkbar.
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Dr. T hat auf Anfrage des SG unter dem 08.11.1994 ausgeführt, eine Heilung der
chronischen Erkrankung des Klägers sei nicht möglich. Die Behandlung müsse dessen
Selbständigkeit fördern und darauf ausgerichtet sein, daß Kind und Familie mit der
Behinderung leben und umgehen könnten. Mit dem Tandem-Therapiefahrrad sei es der
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Familie möglich gemeinsame Unternehmungen durchzuführen. Zudem werde die
körperliche Entwicklung des Klägers gefördert. Dr. L sei zuzustimmen, daß die
Unfallgefährdung bei der zweirädrigen Variante größer als bei der dreirädrigen Variante
des "Rollfiets" sei. Hier sei allerdings die aktive Beteiligung des Kindes nicht möglich.
Mit Urteil vom 24.10.1995 hat das SG die Klage abgewiesen und ausgeführt, das
Tandem-Therapiefahrrad "Periskop" sei nicht erforderlich, da es zu einer erhöhten
Unfallgefährdung des Klägers führe.
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Gegen das am 29.11.1995 zugestellte Urteil hat der Kläger am 06.12.1995 Berufung
eingelegt und geltend gemacht, eine erhöhte Unfallgefahr bestehe nicht. In einer von
ihm eingereichten weiteren Stellungnahme von Dr. T vom 28.05.1997 führt dieser aus,
wegen seiner Erkrankung könne der Kläger nicht selbständig am Straßenverkehr
teilnehmen. Er beherrsche die Verkehrsregeln nicht und sei außerdem aufgrund seiner
motorischen Entwicklung auch mit einem dreirädrigen Therapiefahrrad im
Straßenverkehr zu sehr gefährdet. Durch die Bauweise des Tandem-Therapiefahrrades
werde weitestgehend verhindert, daß der aktivere Partner die Kontrolle über das
Fahrzeug verliere. Die Unfallgefährdung sei mit der jedes anderen Fahrrades
gleichzusetzen.
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Der Kläger hat im Januar 1996 das Tandem-Therapiefahrrad "Periskop
Sesselradtandem" der Fa. "tri-mobil" angeschafft. Diese hat dem Kläger für das Tandem
in straßentauglicher Ausstattung mit Zweibeinständer, Hosenträgergurt, Tacho und
Kettenführung in einem Kunststoffrohr einen Betrag einschl. MwSt i.H.v. 4926,28 DM in
Rechnung gestellt.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 24. Oktober 1995 abzuändern und die
Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 17. Juni 1993 sowie des
Widerspruchsbescheides vom 07. September 1993 zu verurteilen, ihm einen Betrag in
Höhe von 4426,20 DM zu erstatten.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie entgegnet, das in Frage stehende Produkt habe keine Aufnahme in das
Hilfsmittelverzeichnis der Spitzenverbände der Krankenkassen gefunden. Dies sei
jedoch Voraussetzung für eine Leistungsgewährung. Das begehrte Therapiefahrrad
könne nicht die geforderten hohen therapeutischen Anforderungen erfüllen, wie sie z.B.
bei zielgerichteten Behandlungsmethoden im Rahmen der physikalischen Therapie
oder durch den Einsatz von therapeutischen Bewegungsgeräten gewährleistet seien.
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Der Senat hat Dr. X, Kinderärztin im Kinderneurologischen Zentrum der Kliniken der
Stadt E1, zur Sachverständigen bestellt. Dr. X hält die Versorgung des Klägers mit
einem Tandem-Therapiefahrrad für erforderlich. Wegen der Einzelheiten ihres
Gutachtens vom 20.01.1997 wird auf die Gerichtsakte verwiesen. Schließlich hat der
Senat in der mündlichen Verhandlung vom 12.06.1997 eine ausführliche Befragung der
Eltern des Klägers vorgenommen. Insofern wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug
genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Verwaltungsakte der Beklagten und der Gerichtsakte verwiesen. Diese Unterlagen
haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist begründet. Das Urteil des SG vom 24.10.1995 ist
abzuändern. Der Kläger hat Anspruch auf Erstattung der Kosten für das von ihm
selbstbeschaffte Tandem-Therapiefahrrad "Periskop-Sesselradtandem" in der
beantragten Höhe.
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Nach § 13 Abs. 3 des Sozialgesetzbuchs - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V)
sind dem Versicherten die Kosten für eine notwendige selbstbeschaffte Leistung zu
erstatten, wenn die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat. Ein
Kostenerstattungsanspruch nach § 13 SGB V ist gegeben, wenn die Beklagte
verpflichtet wäre, eine entsprechende Sachleistung zu gewähren (vgl. § 13 Abs 1 SGB
V). Mit dem angefochtenen Bescheid vom 17.06.1993 i.d.F. des
Widerspruchsbescheides vom 07.09.1993 hat es die Beklagte zu Unrecht abgelehnt,
dem Kläger ein Tandem-Therapiefahrrad als Sachleistung zu gewähren. Der Anspruch
des Klägers auf Versorgung mit diesem Hilfmittel ergibt sich aus dem materiellen
Leistungs- und Leistungserbringungsrecht des SGB V.
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Die Entstehung eines gesetzlichen Anspruchs auf Verschaffung einer Sachleistung
setzt zunächst voraus, daß ein an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmender Arzt
in Wahrnehmung kassenärztlicher Pflichten eine medizinisch nach Zweck oder Art
bestimmte Sachleistung verordnet (BSG SozR 3-2500 § 13 Nr. 4; BSG, Urteil vom
18.01.1996 - 1 RK 8/95 -). Der nach §§ 115 ff. SGB V zur vertragsärztlichen Versorgung
auch von Mitgliedern der Beklagten zugelassene Dr. T hat dem nach § 10 SGB V bei
der Beklagten versicherten Kläger in seiner Funktion als Kassenarzt ein individuelles
Therapiefahrrad verordnet und dies durch die Übersendung des Kostenvoranschlages
der Fa "tri-mobil" auf ein Tandem-Therapiefahrrad konkretisiert. Das Tandem-
Therapiefahrrad wird hier in seiner Funktion als Hilfsmittel von der gesetzlichen
Leistungspflicht der Beklagten erfaßt.
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Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung,
wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre
Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die
Krankenbehandlung umfaßt gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 die Versorgung mit Arznei-,
Verband-, Heil- und Hilfsmitteln. Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V besteht ein Anspruch
der Versicherten auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzsstücken,
orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den
Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit
die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens
anzusehen oder nach § 34 SGB V ausgeschlossen sind. Ein Anspruchsausschluß nach
§ 34 Abs. 4 SGB V greift nicht ein. In der aufgrund dieser Ermächtigung erlassenen
Verordnung über Hilfsmittel von geringem therapeutischen Nutzen oder geringem
Abgabepreis sind Tandem-Therapiefahrräder nicht erfaßt.
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Allgemeine Gebrauchsgegenstände sind Gegenstände, die allgemein im täglichen
Leben verwendet, d.h. üblicherweise von einer großen Zahl von Personen regelmäßig
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benutzt werden (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 5, 7, 16). Hierzu zählt das Tandem-
Therapiefahrrad entgegen der offenbar von der Beklagten vertretenen Auffassung nicht,
da es bauartbedingt zur gemeinsamen Fortbewegung einer gesunden mit einer
behinderten Person bestimmt ist. Zwei gesunde Personen kommen nicht auf die Idee,
ein Zweirad mit den Funktionsverteilungen des Tandem-Therapiefahrrades
anzuschaffen und zu gebrauchen (s.a. Urteil des erkennenden Senats vom 22.08.1996 -
L 2 Kn 6/96). Ein Gegenstand ist ein Hilfsmittel, wenn er den Ausgleich der körperlichen
Behinderung selbst bezweckt, also unmittelbar gegen die Behinderung gerichtet ist. Die
gebotene Unmittelbarkeit ist vor allem gegeben, wenn das Hilfsmittel die Ausübung der
beeinträchtigten Funktion ermöglicht, ersetzt, erleichtert oder ergänzt (BSG, Urteil vom
18.01.1996 - 1 RK 8/95 m.w.N.). Das Tandem-Therapierad hat demgemäß den Zweck,
die durch Einschränkungen des Bewegungsapparates beeinträchtigten
Fortbewegungsmöglichkeiten auszugleichen.
Unter Berücksichtigung der subjektiven Verhältnisse des Klägers und seinem
individuellen Bedarf - auf diese Gesichtspunkte kommt es für die Beurteilung der
Hilfmitteleigenschaft wesentlich an (BSGE 51, 268, 270; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 16)
- ist das Tandem-Therapiefahrrad erforderlich im Sinne der 2. Alternative des § 33 Abs 1
Satz 1 SGB V. Sein Einsatz wird zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen
Grundbedürfnisse benötigt. Zu den allgemeinen Grundbedürfnissen ist auch ein
gewisser körperlicher und geistiger Freiraum zu rechnen, der allgemein die Teilnahme
am gesellschaftlichen Leben umfaßt (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 1, 5, 16). Dies schließt
die Erweiterung der Bewegungsmöglichkeiten des Klägers sowie seine Teilnahme an
familären Aktivitäten ein.
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Die bei dem Kläger vorliegende Krankheitsform der alternierenden Hemiplegie bedingt
während häufig auftretender und über längere Zeiträume andauernder
Schwächezustände erhebliche Einschränkungen seiner Bewegungsmöglichkeiten und
Fortbewegungsfähigkeit bis hin zur Gehunfähigkeit. Auch in dem für ihn besten Zustand
mit freier Beweglich-keit der Arme und Beine besteht eine Einschränkung des
körperlichen Freiraumes durch eine Störung des Gleichgewichtsempfindens und der
Körperkoordination sowie den Umstand, daß die Lähmungen plötzlich und
unvorhersehbar eintreten können. Den mit diesen Behinderungen verbundenen
Einschränkungen wirkt der Gebrauch des Tandem-Therapiefahrrades insofern
entgegen, als der Kläger seine in gleicher Weise wie bei gesunden Kindern vorhandene
Bewegungsfreude erleben kann und über die gemeinsamen Familienausflüge
umfassende Umwelterfahrungen machen kann. Es ermöglicht ihm zudem das Erleben
von Geschwindigkeit und Raumorientierung. Hinsichtlich dieser Feststellungen folgt der
Senat der Sachverständigen Dr. X, deren Gutachten auf sorgfältigen Befunderhebungen
beruht und schlüssig begründet ist. Dem Umstand, daß das Tandem-Therapiefahrrad im
Gegensatz zu dem von der Beklagten angebotenen Rollfiets dem Kläger (auch in
seinen Schwächezuständen) die aktive Teilhabe am Fortbewegungsprozeß ermöglicht,
kommt entscheidende Bedeutung zu. Der Kläger kann so praktisch erleben, daß sein
körperliches Handikap nicht mit Unbeweglichkeit gleichzusetzten ist. In größerem
Umfang als bei gleichaltrigen gesunden Kindern steht bei ihm aufgrund seiner
Behinderungen zudem nicht die soziale Einbindung in eine Gruppe gleichaltriger
Kinder, sondern (anstelle der Teilnahme am gesellschaftlichem Leben) die Teilnahme
am familiären Leben im Vordergrund. Der Senat folgt damit der Sachverständigen Dr. X
und dem behandlenden Arzt Dr. T hinsichtlich ihrer Einschätzung des sozial-
integrativen Nutzens des Tandem-Therapiefahrrades. In der konkreten Familiensituation
des Klägers kommt den gemeinsamen Fahrradausflügen eine große Bedeutung zu. Der
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Vater des Klägers hat in der mündlichen Verhandlung ausführlich und den Senat
überzeugend dargelegt, daß der Kläger an den Tandemfahrten mit großem Interesse
teilnehme und er ihm Erläuterungen zum Fahrweg und zur Umgebung geben könne.
Das Tandem-Therapiefahrrad ermögliche dem Kläger die Teilhabe an dieser
regelmäßigen Famlienaktivität, von der er ansonsten ausgenommen wäre.
Ein Ausschluß des Tandem-Therapiefahrrades aus der Leistungspflicht der Beklagten
ergibt sich auch nicht aus den Vorschriften zum Hilfsmittelverzeichnis. Diese
ermächtigen nicht dazu, den gesetzlichen Leistungsanspruch des Versicherten
einzuschränken, sondern nur dazu, eine für Gerichte unverbindliche Auslegungshilfe zu
schaffen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 16, 19). Nach § 128 SGB V erstellen die
Spitzenverbände der Krankenkassen ein Hilfsmittelverzeichnis (Satz 1), in dem die von
der Leistungspflicht umfaßten Hilfsmittel aufzuführen sind (Satz 2). Mit ihrem Angebot,
dem Kläger das in das Hilfmittelverzeichnis aufgenommene Rollfiets zur Verfügung zu
stellen, geht auch die Beklagte offenbar davon aus, daß die bei dem Kläger
behinderungsbedingten Einschränkungen der Beweglichkeit durch ein entsprechendes
Hilfsmittel ausgeglichen werden sollen. Nicht ersichtlich ist, warum das Rollfiets hierfür
besser geeignet sein soll. Die Argumentation, es handele sich bei dem Tandem-
Therapiefahrrad um ein Hilfmittel mit einer erhöhten Unfallgefährdung kann nach dem
Ergebnis der Sachaufklärung nicht überzeugen. Dem Kläger wird von der
Sachverständigen Dr. X ein sehr dizipinierter Umgang mit seiner Erkrankung
bescheinigt. Dies ermögliche es ihm, rechtzeitig vor Eintritt eines Schwächezustandes
hiervon Mitteilung zu machen, so daß der Fahrer entsprechend hierauf eingehen könne.
Unter weiterer Berücksichtigung der entsprechen den Sicherheitsvorkehrungen an dem
Tandem-Therapiefahrrad sei die Unfallgefahr nicht erhöht. Der Senat macht sich diese
Feststellungen zu eigen, zumal auch Dr. T in seiner letzten Stellungnahme vom
28.05.1997 nicht mehr von einer erhöhten Unfallgefahr ausgeht.
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Die begehrte Leistung entspricht dem Gebot der Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und
Notwendigkeit (§ 12 Abs. 1 SGB V). Das Tandem-Therapiefahrrad ist wirtschaftlich im
Sinne einer begründbaren Relation zwischen den Kosten und dem Gebrauchsvorteil
des Hilfsmittels (vgl. BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 20). Der Senat geht entsprechend den
Angaben der Eltern des Klägers gegenüber der Sachverständigen Dr. X und im
Verhandlungstermin vom 12.06.1997 davon aus, daß die Tandem-Fahrten regelmäßig
stattfinden. Entgegen den Ausführungen der Beklagten im Widerspruchsbescheid ist
auch davon auszugehen, daß ein Bedarf zum Ausgleich der behinderungsbedingten
Defizite durchgehend vorhanden ist, da nach den ärztlichen Feststellungen die
Lähmungszustände meist über längere Zeit fortbestehen und jederzeit mit ihrem Eintritt
gerechnet werden muß. Der Umstand, daß dem Käger entsprechend den Angaben von
Dr. T eine selbständige Teilnahme am Straßenverkehr nicht möglich ist, erhöht die
Bedeutung der gemeinsamen Tandemfahrten. Das Tandem-Therapiefahrrad erweist
sich auch deshalb als wirtschaftlich, weil seine Bauweise einen Gebrauch auch noch im
Erwachsenenalter des Kranken ermöglicht. Der Einwand der Beklagten, das
Hilfsmittelverzeichnis enthalte weniger aufwendigere Hilfsmittel in Form von
therapeutischen Bewegungshilfen zum Durchbewegen der Extremitäten, betrifft lediglich
preiswertere Varianten zum Tandem-Therapiefahrrad in seiner gleichfalls vorhandenen
Funktion als Heilmittel zur Förderung des Gleichgewichts, der Körperkoordination und
des Haltungs- und Bewegungstonus der Muskulatur. Nach dem oben Ausgeführten
benötigt der Kläger das Tandem-Therapiefahrrad indes schon in seiner Funktion als
Hilfsmittel zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse.
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Liegen nach allem die Voraussetzungen der Umwandlung des Sachleistungsanspruchs
in einen Kostenerstattungsanspruch vor, erstreckt sich dieser grundsätzlich auf die
Erstattung der dem Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung entstandenen Kosten
(Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, Stand: Dezember 1996, § 13 SGB V Rdnr.
21; Hauck/Haines, Gesetzliche Krankenversicherung, Stand: April 1997, § 13 Rdnr. 21).
Es ist nicht ersichtlich, daß die entstandenen Kosten überhöht sind, zumal der Kläger in
der mündlichen Verhandlung vom 12.06.1997 dargelegt hat, daß die Anschaffung im
Januar 1996 wegen eines besonders hohen Preisrabattes erfolgt sei und er vor
Beschaffung des Gerätes Preisvergleiche angestellt habe. Es gibt keinen Hinweis
darauf, daß der Vater des Klägers bei der Beschaffung unseriös verfahren wäre. Die
neben dem Tandem-Therapiefahrrad im einzelnen in Rechnung gestellten Kosten
betreffen das von der Ausstattung mit dem Hilfsmittel umfaßte notwendige Zubehör i.S.v.
§ 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Auf die Verpflichtung des Klägers, einen Eigenanteil zu
tragen, ist nicht näher einzugehen, da der Kläger einen solchen bereits bei der Fassung
des Klageantrages im Berufungsverfahren berücksichtigt hat.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
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Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
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