Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14.07.2010
LSG NRW: befragung von zeugen, gebühr, vergütung, vergleich, abschlag, toleranzgrenze, hauptsache, vertretung, rechtsmittelbelehrung, existenzminimum
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen
Beschluss vom 14.07.2010 (rechtskräftig)
Sozialgericht Detmold S 21 AS 395/08 ER
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen L 19 B 349/09 AS
Die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Detmold vom 21.09.2009 wird
zurückgewiesen.
Gründe:
Der Beschwerdeführer ist im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens, gerichtet auf die vorläufige
Gewährung von Grundsicherungsleistungen für Erwerbsfähige nach dem Zweiten Buch Sozalgesetzbuch (SGB II), im
Wege der Prozesskostenhilfe als Rechtsanwalt beigeordnet worden. Im Sitzungstermin am 01.12.2008 ist das
Verfahrens vergleichsweise beigelegt worden. Der Beschwerdeführer hat daraufhin je in Höhe der Mittelgebühr eine
Verfahrens-, Termins- und Einigungsgebühr (250,00 EUR, 200,00 EUR, 190,00 EUR) zzgl. Auslagenpauschale (20,00
EUR), Fahrtkosten (33,00 EUR), Abwesenheitsgeld (20,00 EUR) und Umsatzsteuer (135,47 EUR), insgesamt 848,47
EUR, abgerechnet. Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle hat die Gebühren jeweils um 30 % gekürzt, weil dem
einstweiligen Anordnungsverfahren lediglich eine unterdurchschnittliche Bedeutung für den Antragsteller zukomme.
Die dagegen gerichtete Erinnerung hat das angerufene Sozialgericht Detmold mit Beschluss vom 21.09.2009
zurückgewiesen.
Die dagegen gerichtete Beschwerde ist zulässig, auch wenn sie nicht innerhalb der durch die §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33
Abs. 3 S. 3 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) vorgesehenen Frist von zwei Wochen eingelegt worden ist, denn
die Rechtsmittelbelehrung nennt fehlerhafterweise eine Monatsfrist. Der Beschwerdewert übersteigt auch die
erforderliche Grenze von 200,00 EUR (§§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 3 S. 1 RVG), da die Mehrwertsteuer insoweit mit zu
berücksichtigen ist (vgl. Beschluss des Senats vom 04.06.2008 - L 19 B 5/08 AS.
Die Beschwerde ist aber nicht begründet.
Dem Beschwerdeführer steht gegenüber der Staatskasse keine höhere Vergütung als die festgesetzte Vergütung aus
§ 48 Abs. 1 S. 1 RVG zu.
Nach § 45 Abs. 1 S. 1 RVG erhält der im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnete Rechtsanwalt die gesetzliche
Vergütung von der Staatskasse, soweit in Abschnitt 8 des RVG nichts anderes bestimmt ist. Er kann nach § 48 Abs.
1 S. 1 RVG sämtliche Gebühren und Auslagen beanspruchen, die sich aus seiner Tätigkeit ab Wirksamwerden seiner
Beiordnung ergeben.
Der sich aus Nr. 3102 VV RVG ergebende Gebührenrahmen der Verfahrensgebühr beträgt grundsätzlich 40,00 EUR
bis 460,00 EUR. Innerhalb dieses Rahmens bestimmt der Beschwerdeführer als beigeordneter Rechtsanwalt nach §
14 Abs. 1 RVG die Höhe der Verfahrensgebühr unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Bedeutung
der Angelegenheit, des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Vermögens- und
Einkommensverhältnisse des Auftraggebers und seines besonderen Haftungsrisikos (§ 14 Abs. 1 Satz 3 RVG). Die
von einem beigeordneten Rechtsanwalt im Verfahren nach § 55 RVG getroffene Bestimmung ist nicht verbindlich,
wenn sie unbillig ist (§ 14 Abs. 1 Satz 4 RVG). Deshalb ist der Urkundsbeamte bzw. das Gericht verpflichtet, die
Billigkeit der Gebührenbestimmung durch den Rechtsanwalt zu prüfen. Bei Angemessenheit der angesetzten Gebühr
hat der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle bzw. das Gericht den Kostenansatz zu übernehmen, bei Unbilligkeit die
Höhe der Betragsrahmengebühr festzusetzen.
Vorliegend ist der Ansatz einer Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV RVG von 250,00 EUR durch den
Beschwerdeführer unbillig. Bei der Bestimmung der Betragsrahmengebühr im konkreten Einzelfall ist von der
Mittelgebühr auszugehen, die bei einem Normal-/Durchschnittsfall als billige Gebühr zu Grunde zu legen ist. Unter
einem "Normalfall" ist ein Fall zu verstehen, in dem sich die Tätigkeit des Rechtsanwalts unter Beachtung der
Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG nicht nach oben oder unten vom Durchschnitt aller sozialrechtlichen Fälle abhebt (BSG
Urteil vom 01.07.2009 - B 4 AS 21/09 R= juris Rn 24). Ob ein Durchschnittsfall vorliegt, ergibt sich aus dem Vergleich
mit den sonstigen bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit anhängigen Streitsachen (BSG Urteil vom 01.07.2009 -
B 4 AS 21/09 R = juris Rn 24; vgl. zur Vorgängervorschrift des § 12 BRAGO: BSG Urteile vom 29.02.1992 - 9a RVs
3/90 und vom 22.03.1984 - 11 RA 58/83 = SozR 1300 § 63 Nr. 4). Nach wertender Gesamtbetrachtung handelt es sich
zur Überzeugung des Senats nicht um einen Normal-/Durchschnittsfall, sondern um einen unterdurchschnittlichen
Fall, der den vorgenommenen Abschlag von 30 v.H. der Mittelgebühr, die 250,00 EUR beträgt, rechtfertigt.
Der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit im Klageverfahren ist als unterdurchschnittlich zu bewerten. Bei der Beurteilung
des Umfangs der anwaltlichen Tätigkeit ist der Arbeits- und Zeitaufwand, den der Rechtsanwalt tatsächlich in der
Sache betrieben hat und den er objektiv auch auf die Sache verwenden musste, zu würdigen. Dabei ist der gesamte
Arbeits- und Zeitaufwand, den der Beschwerdeführer im Verfahren aufgewendet hat, in die Beurteilung mit
einzubeziehen. Die Dauer des gerichtlichen Verfahrens stellt dabei kein geeignetes Kriterium dar, um den vom
Rechtsanwalt betriebenen Aufwand in die Bewertungsskala - unterdurchschnittlich, durchschnittlich und
überdurchschnittlich - einzuordnen (vgl. zum Widerspruchsverfahren BSG Urteil vom 01.07.2009 - B 4 AS 21/09 R =
juris Rn 29). Vorliegend hat der Beschwerdeführer eine kurze Antragsschrift gefertigt. Weitere Tätigkeiten - wie etwa
das Lesen und Auswerten von medizinischen Gutachten, das Verfassen von Schriftsätzen, die sich mit komplexen
tatsächlichen oder rechtlichen Fragen auseinandersetzen, die Sichtung und Auswertung von Rechtsprechung, eine
Akteneinsicht -, die den Rückschluss auf einen erheblichen Zeit- und Arbeitsaufwand zulassen, sind nicht angefallen
bzw. nicht belegt.
Die Schwierigkeit der Tätigkeit des Beschwerdeführers ist ebenfalls als unterdurchschnittlich einzustufen. Im
konkreten Verfahren ist sie im Vergleich zu Tätigkeiten in sonstigen Verfahren vor den Gerichten der
Sozialgerichtsbarkeit zu beurteilen. Dabei sind die qualitativen Anforderungen an die Tätigkeit im konkreten Fall zu
berücksichtigen, wobei nicht auf die subjektive Einschätzung des Rechtsanwaltes, insbesondere nicht auf dessen
Vorkenntnisse, abzustellen ist (BSG Urteil vom 01.07.2009 - B 4 AS 21/09 R = nach juris Rn 32, 35), sondern es ist
eine objektive Betrachtungsweise vorzunehmen.Vorliegend beschränkte sich der Vortrag des Beschwerdeführers auf
die Darlegung der Gründe, die zur Nichteinreichung der von der Antragsgegnerin geforderten Unterlagen geführt hatte.
Eine Auseinandersetzung mit Rechtsfragen/ -problemen hat nicht stattgefunden und brauchte auch nicht geleistet zu
werden. Auch die Klärung des Sachverhalts bot nach den Ausführungen des Beschwerdeführers in der Sache
offensichtlich keine Schwierigkeiten.
Die Bedeutung der Angelegenheit ist für den Antragsteller allenfalls als durchschnittlich zu bewerten. Bei der
Beurteilung der Bedeutung der Angelegenheit ist auf die unmittelbare tatsächliche, ideelle, gesellschaftliche,
wirtschaftliche oder rechtliche Bedeutung für den Auftraggeber, nicht aber für die Allgemeinheit abzustellen. Dabei
wird Streitigkeiten über Leistungen, die das soziokulturelle Existenzminimum des Auftraggebers sichern, wie die
Streitigkeiten nach dem SGB II, in der Regel überdurchschnittliche Bedeutung beigemessen, unabhängig davon, ob
die Leistung dem Grunde nach oder lediglich die Höhe der Leistung umstritten ist (BSG Urteil vom 01.07.2009 - B 4
AS 21/09 R = nach juris Rn 37).Hier ist jedoch zu berücksichtigen, dass nur eine vorläufige Leistungsverpflichtung im
Streit stand, die die Bedeutung der Angelegenheit mindert. Dabei kann offen bleiben, ob dies grundsätzlich für
einstweilige Rechtsschutzverfahren gilt. Wenn aber keine Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren zu besorgen ist und wie hier der endgültige Verbleib der begehrten Leistungen beim
Antragsteller offen bleibt, ist eine unterdurchschnittliche Bedeutung für den Auftraggeber anzunehmen.
Der durchschnittlichen Bedeutung der Angelegenheit für den Auftraggeber stehen jedoch dessen
unterdurchschnittliche Einkommensverhältnisse gegenüber(vgl. zu dem Verhältnis BSG Urteil vom 01.07.2009 - B 4
AS 21/09 R = juris Rn 38). Da der Antragsteller auf den Bezug von Leistungen nach dem SGB II zur Sicherung seines
sozio-kulturellen Existenzminimums angewiesen gewesen und ihm deshalb auch Prozesskostenhilfe bewilligt worden
ist, sind seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse als erheblich unterdurchschnittlich zu bewerten. Ein
besonderes Haftungsrisiko des Beschwerdeführers ist nicht erkennbar.
Bei Abwägung aller Kriterien des § 14 RVG, insbesondere auch der Tatsache, dass allein unterdurchschnittliche
Einkommens- und Vermögensverhältnisse die Herabbemessung der Mittelgebühr rechtfertigen können (vgl. BSG
Urteil vom 01.07.2009 - B 4 AS 21/09 R = nach juris Rn 38), kommt dem konkreten Verfahren eine
unterdurchschnittliche Bedeutung zu, so dass nur der Ansatz einer Gebühr von 175,00 EUR gerechtfertigt ist. Damit
hat der Beschwerdeführer die Toleranzgrenze von bis zu 20% (vgl. BSG Urteil vom 01.07.2009 - B 4 AS 21/09 R =
juris Rn 19 m. w. N.) beim Ansatz einer Gebühr von 250,00 EUR überschritten, so dass der Ansatz seiner Gebühr
unbillig ist.
Des Weiteren ist eine Terminsgebühr nach Nr. 3106 W RVG als Anwesenheitsgebühr in einem gerichtlichen Termin
entstanden, die dem Beschwerdeführer nach § 48 Abs. 1 Satz 1 RVG zu vergüten ist. Die vom Beschwerdeführer
angesetzte Mittelgebühr von 200,00 EUR ist ebenfalls unbillig. Nr. 3106 VV RVG sieht einen Rahmen von 20,00 bis
380,00 EUR vor. Grundsätzlich sind bei jeder Betragsrahmengebühr die Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG gesondert zu
prüfen. Bei der Beurteilung des Umfangs der anwaltlichen Tätigkeit ist hier maßgebend auf den tatsächlichen Arbeits-
und Zeitaufwand für die Terminsteilnahme, der auch wesentlich durch die Anzahl und die Dauer der anberaumten
Termine bestimmt wird, abzustellen. Der Arbeits- und Zeitaufwand für die Vorbereitung eines anberaumten
gerichtlichen Termins ist nicht zu berücksichtigen (vgl. Beschluss des Senats vom 16.12.2009. L 19 B 180/09 AS -;
a. A. LSG NRW Beschluss vom 31.05.2007 - L 10 B 6/07 SB), da mit der Terminsgebühr nur die Tätigkeit des
Rechtsanwalts während eines gerichtlichen Termins - Vertretung des Mandanten im Termin - abgegolten wird. Die
übrigen prozessualen Tätigkeiten werden, abgesehen von dem besonderen Mitwirken i.S.v. Nr. 1006 VV RVG, durch
die Verfahrensgebühr abgegolten. Vorliegend ist lediglich ein Termin mit einer Dauer von 34 Minuten durchgeführt
worden, was allenfalls einem durchschnittlichen Umfang gleichkommt. Da jedoch auch insoweit die weiteren Kriterien
überwiegend entsprechend Vorstehendem zur Verfahrensgebühr als unterdurchschnittlich anzusehen sind, ist auch
insoweit der vom Sozialgericht vorgenommene Abschlag von 30 % nicht zu beanstanden. Es sind nach Aktenlage
Unterschiede nicht erkennbar und auch nicht vorgetragen worden, die eine unterschiedliche Bewertung dieser Kriterien
rechtfertigten. Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass zum Zeitpunkt des Erörterungstermins tatsächliche
Schwierigkeiten für die anwaltliche Tätigkeit im Termin, wie z. B. die Teilnahme an einer Beweisaufnahme mit
Befragung von Zeugen und Sachverständigen, nicht entstanden sind. Bei Abwägung aller Kriterien des § 14 RVG
kommt der Teilnahme an dem Erörterungstermin daher eine unterdurchschnittliche Bedeutung zu, die den Ansatz
einer Gebühr von 140,00 EUR rechtfertigt.
Letzteres gilt auch für die Erledigungsgebühr nach Nr. 1006 VV RVG, die zwischen 30,00 und 350,00 EUR,
Mittelgebühr 190,00 EUR, beträgt. Auch insoweit liegt gemessen an sonstigen sozialgerichtlichem Verfahren eine
unterdurchschnittliche Bedeutung hinsichtlich Schwierigkeit und Umfang der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der
Angelegenheit und der Vermögensverhältnisse des Antragstellers vor, so dass auch insoweit lediglich eine um 30 v.H.
unter der Mittelgebühr liegende Gebühr, entsprechend 133,00 EUR, gerechtfertigt ist.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig (§ 56 Abs. 2 Satz 3 RVG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).