Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 06.08.2007

LSG NRW: innere medizin, umzug, wohnraum, heizung, depression, miete, mangel, senkung, facharzt, debatte

Landessozialgericht NRW, L 19 AS 35/06
Datum:
06.08.2007
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 19 AS 35/06
Vorinstanz:
Sozialgericht Münster, S 16 AS 27/05
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Münster vom 01. Februar 2006 aufgehoben. Der
Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das
Sozialgericht zurückverwiesen. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Gewährung von
Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe
seiner tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU).
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Der Kläger bezog unter anderem im Jahr 2004 Leistungen nach dem
Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Zu diesem Zeitpunkt bewohnte er eine Wohnung von
82,10 m² Größe, bezugsfertig seit dem Jahr 1937. Die Miete betrug 493,40 Euro, die
Heizkosten 63,33 Euro. Der zuständige Sozialhilfeträger kürzte die Leistungen für KdU
ab April 2004 auf 354,26 Euro (Miete) und 40,14 Euro (Heizung), weil die Wohnung
unangemessen groß sei. Die im Anschluss hieran geführten Verfahren vor dem
Verwaltungsgericht Münster (Az.: 35 K 3015/04; 11 K 2233/04; 11 K 2537/04) endeten
vergleichsweise bzw. durch Klagerücknahme mit dem Ergebnis, dass dem Kläger für
den Zeitraum vom 01.07. bis 30.09.2004 die tatsächlichen Kosten der KdU gewährt
wurden, weil der Kläger insoweit ausreichende Eigenbemühungen um angemessenen
Wohnraum belegt haben könnte.
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Im September 2004 beantragte der Kläger die Bewilligung von
Grundsicherungsleistungen bei unveränderten Wohnverhältnissen. Er legte eine
ärztliche Bescheinigung des Internisten, Diabetologen und Sportmediziners Dr. O vom
20.12.2004 vor, wonach er unter anderem an einer chronischen Depression, begleitet
von einer dauerhaften ausgeprägten psychischen und physischen Labilität, leide. Aus
medizinischer Sicht sei ein Umzug und Wechsel des Wohn- und Lebensumfeldes
aufgrund des schlechten Krankheitszustandes mit einer ganz erheblichen
Gesundheitsgefahr für Leib und Leben des Klägers verbunden.
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Mit Bescheid vom 21.12.2004 bewilligte die Beklagte für die Zeit von Januar bis Mai
2005 monatliche Grundsicherungsleistungen in Höhe von 759,20 Euro, wobei sie die
KdU mit 414,20 Euro (354,26 Euro Miete + 59,94 Euro Heizpauschale) ansetzte. Der
Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 14.02.2005).
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Der Kläger hat am 24.02.2005 vor dem Sozialgericht (SG) Münster Klage erhoben, die
zunächst gerichtet war gegen den Oberbürgermeister der Stadt N. Er hat geltend
gemacht, der Regelsatz sei nicht ausreichend, um zusätzliche Kosten - etwa für nicht
verschreibungsfähige Medikamente - zu decken. Die Beklagte sei des Weiteren
verpflichtet, die tatsächlichen KdU zu tragen, weil er aus krankheitsbedingten Gründen
zu einem Umzug nicht in der Lage sei.
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Ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren des Klägers blieb erfolglos (Beschluss des
erkennenden Senats vom 24.09.2004 - L 19 B 28/05 AS ER).
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Mit Gerichtsbescheid vom 01.02.2006 hat das SG die Klage unter Bezugnahme auf die
angefochtenen Bescheide, insbesondere den Widerspruchsbescheid und den
Beschluss des erkennenden Senats im einstweiligen Rechtsschutzverfahren - L 19 B
28/05 AS ER - abgewiesen. Die Höhe des Regelsatzes hat es als verfassungsgemäß
angesehen.
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Gegen den ihm am 02.02.2006 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am
24.02.2006 Berufung eingelegt, mit der er zunächst sein Vorbringen wiederholt hat. Des
Weiteren vertritt er die Auffassung, er sei nicht ordnungsgemäß auf die Notwendigkeit
einer Herabsetzung seiner KdU auf angemessene Höhe hingewiesen worden.
Mitteilungen des Sozialamts seien insoweit ohne Belang. Dies gelte zumindest deshalb,
weil noch bis zum 31.12.2004 die tatsächlichen KdU den Leistungen zugrunde gelegt
worden seien.
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Der Kläger hat des Weiteren ein Attest der Psychiaterin/Psychotherapeutin Dr. P vom
30.05.2005 vorgelegt.
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Der Kläger beantragt,
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den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Münster vom 01.02.2006 zu ändern und die
Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 21.12.2004 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 14.02.2005 zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 01.01. bis
31.05.2005 weitere Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von
695,70 Euro zu bewilligen.
12
Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
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Der Senat hat Befundberichte von Dr. O und Dr. P eingeholt. Auf die Auskünfte vom 14.
und 20.05.2007 wird Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
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Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die Akten des
Verwaltungsgerichts Münster - 35 K 3015/04; 11 K 2233/04 und 11 K 2537/04) sowie die
beigezogenen Akten des früher für den Kläger zuständigen Sozialhilfeträgers
verwiesen.
Entscheidungsgründe:
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Die Berufung ist zulässig und i.S.d. Zurückverweisung der Sache an das SG begründet.
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Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Landessozialgericht
durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG
zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Der
angefochtene Gerichtsbescheid beruht auf einem solchen Mangel, weil das SG keinen
Beweis darüber erhoben hat, inwieweit der Kläger die Voraussetzungen für den
Anspruch auf die Übernahme der tatsächlichen KdU durch die Beklagte im Zeitraum
Januar bis Mai 2005 erfüllt hat, was allein noch im Berufungsverfahren streitig geblieben
ist. Die Bezugnahme des SG auf die angefochtenen Bescheide sowie den Beschluss
des Senats vom 24.09.2004 - L 19 B 28/05 AS ER - können die notwendigen
Feststellungen nicht ersetzen, denn auch diese enthalten keine ausreichenden
Darlegungen, um über den Anspruch des Klägers abschließend befinden zu können
(bezüglich des Beschlusses des Senats ist dies evident, da er lediglich wegen fehlender
Mitwirkung des Klägers eine vorläufige Entscheidung zu seinen Gunsten abgelehnt hat).
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Der Anspruch des Klägers richtet sich nach § 22 Zweites Buch Sozialgesetzbuch -
Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende - (SGB II). Danach werden Leistungen
für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit
diese angemessen sind (§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Soweit die Aufwendungen für die
Unterkunft den der Besonderheiten des Einzelfalls angemessenen Umfang übersteigen,
sind sie als Bedarf des alleinstehenden Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft
so lange zu berücksichtigen, wie es dem alleinstehenden Hilfebedürftigen oder der
Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen
Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu
senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate (§ 22 Abs. 2 Satz 2 SGB II [seit
01.08.2006 Satz 3]). Die Prüfung der Angemessenheit verlangt die Feststellung der
Wohnungsgröße und, ob diese im Rahmen der landesrechtlich anerkannten Größen
nach dem Wohnungsförderungsgesetz (WoFG) liegt, des Wohnungsstandards sowie
des räumlichen Vergleichsmaßstabs und schließlich des Umstands, ob nach der
Struktur des Wohnungsmarktes am Wohnort des Klägers tatsächlich auch die konkrete
Möglichkeit besteht, eine abstrakt als angemessen eingestufte Wohnung tatsächlich auf
dem Wohnungsmarkt anmieten zu können (BSG Urt. v. 07.11.2006 - B 7b AS 18/06 R -
unter 2.) Hierzu fehlen jegliche Feststellungen in dem angefochtenen Bescheid sowie
dem Gerichtsbescheid des SG. Ersterer hat lediglich darauf verwiesen, dass dem Kläger
schon im Rahmen seines früheren Leistungsbezugs nach dem Bundessozialhilfegesetz
(BSHG) eine Senkung seiner KdU oblegen hätte.
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Darüber hinaus hat das SG nicht geprüft, ob dem Kläger im streitigen Zeitraum ein
Wohnungswechsel zuzumuten war. Zwar ist ein Umzug zur Senkung unangemessener
KdU regelmäßig - auch bei hoher affektiver Bindung an eine bestimmte Unterkunft -
zuzumuten (vgl. Berlit in LPK-SGB II, 2. Aufl., § 22 Rn. 45); hier haben aber die den
Kläger behandelnden Ärzte eine mit dem Umzug verbundene Gefahr von
Gesundheitsbeeinträchtigungen und eines Suizids bescheinigt, woraus sich
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Gegenteiliges ergeben könnte. Das SG hat die Bescheinigungen des Dr. O ohne
Angabe von Gründen übergangen. Sie ist aber ebensowenig wie das Attest der Dr. P
vernachlässigbar. Auch erlauben die Ausführungen dieser Ärzte allein keine
Entscheidung zu Gunsten des Klägers.
Dr. O ist schon als Facharzt für innere Medizin, spezielle Diabetologie und Sportmedizin
nicht der zur Beurteilung von Erkrankungen des psychotherapeutischen Fachgebietes
berufene Spezialist. Wenn die von ihm schon 1995 diagnostizierte Depression des
Klägers so schwerwiegend war bzw. sich entwickelt hat, wie von ihm bescheinigt, ist die
unterbliebene frühere Überweisung an einen entsprechenden Facharzt/entsprechende
Fachärztin nicht nachvollziehbar. Des Weiteren hat Dr. O dem Kläger eine "als
fundamental bedrohlich empfundene Angst vor Obdachlosigkeit" bescheinigt. Da eine
solche Obdachlosigkeit aber nie zur Debatte stand, kann nicht ausgeschlossen werden,
dass der Kläger gegenüber Dr. O unwahre Angaben gemacht und so dessen
Beurteilung zu seinen Gunsten beeinflusst hat. Dabei kann nicht außer Betracht bleiben,
dass der Kläger in der Lage war und ist, sehr präzise die behördlichen und gerichtlichen
Entscheidungen zu durchdringen und entsprechende Eingaben zu machen, wie der
gesamte Akteninhalt zeigt.
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Allerdings hat auch die Psychiaterin/Psychotherapeutin Dr. P dem Kläger eine schwere
Depression attestiert. Die mit diesem Krankheitsbild (ICD 10 F 32.2) beschriebenen
gesundheitlichen Beeinträchtigungen hat sie jedoch nicht dargelegt. Insbesondere hat
sie auf Anfrage des Senats nicht bestätigt, dass der Kläger aufgrund der von ihr
festgestellten Erkrankung außerstande gewesen wäre, einen Umzug durchzuführen.
Dagegen spricht im Übrigen, dass der Kläger schon 2006 hierzu in der Lage war,
obwohl weder Dr. P noch Dr. O Umstände aufgezeigt haben, die eine drastische
Verbesserung des Gesundheitszustands des Klägers begründen könnten, noch sich die
finanziellen Verhältnisse des Klägers und der auf ihm lastende Druck, wie ihn Dr. O
bescheinigt hat, verändert hatten.
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Bei dieser Sachlage bedarf es weiterer Ermittlungen über die gesundheitlichen
Verhältnisse des Klägers im streitrelevanten Zeitraum. Da insoweit eine weitere
Befragung der behandelnden Ärzte, die zudem besser vor Ort durchgeführt werden
kann, unverzichtbar erscheint, ist die Zurückverweisung an das SG angemessen. Zur
Sachverhaltsklärung bietet sich des Weiteren die Beiziehung der beim Versorgungsamt
geführten Akte des Klägers an.
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Sollte das SG zu dem Ergebnis gelangen, der Kläger habe im Zeitraum Januar bis Mai
2005 unangemessenen Wohnraum i.S.d. § 22 Abs. 1 SGB II genutzt und ein Umzug sei
zumutbar und möglich gewesen, kann sich der Kläger nicht darauf berufen, er sei
hierüber bisher nicht ausreichend informiert gewesen, so dass ihm gemäß § 22 Abs. 1
Satz 2 (jetzt Satz 3) SGB II noch für einen Zeitraum von sechs Monaten die Übernahme
der tatsächlichen KdU zustünden. Der Kläger ist bereits während des Bezugs von
Sozialhilfe Anfang des Jahres 2004 vom zuständigen Sozialhilfeträger über die
Unangemessenheit seiner Unterkunft hingewiesen worden. Dies ist ausreichend, um
den Schutzzweck des § 22 Abs. 1 Satz 2 (jetzt Satz 3) SGB II - keine sofortige Aufgabe
der Wohnung bei erstmaligem Eintritt von Hilfebedürftigkeit - Genüge zu tun (BSG Urt. v.
07.11.2006 - B 7b AS 18/06 R - unter 3.). Daran ändert auch der Umstand nichts, dass
der Kläger noch (zeitweise) bis Ende 2004 die tatsächlichen KdU durch den
Sozialhilfeträger erhalten hat. Dies beruhte erkennbar auf der vergleichsweisen
Regelung vor dem Verwaltungsgericht, weil sich der Kläger in diesem Zeitraum
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möglicherweise ausreichend erfolglos um angemessenen Wohnraum bemüht hatte, und
nicht auf der Annahme des Sozialhilfeträgers, der Wohnraum sei angemessen. Dies
musste auch für den Kläger offenkundig sein.
Das SG wird auch über die Kosten des Verfahrens einschließlich derjenigen des
Berufungsverfahrens zu entscheiden haben.
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Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision sind nicht erfüllt (§ 160 Abs. 2
SGG).
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