Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 26.02.2010

LSG NRW (bundesrepublik deutschland, ast, eugh, vertrag von lissabon, arbeitsmarkt, hauptsache, berlin, beitragsunabhängige sonderleistung, verhältnis zu, leistungsausschluss)

Landessozialgericht NRW, L 6 B 154/09 AS ER
Datum:
26.02.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 6 B 154/09 AS ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 14 AS 413/09 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des
Sozialgerichts Dortmund vom 13.11.2009 geändert. Die
Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig für die Zeit
ab dem 26.02.2010 bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über
den Widerspruch des Antragstellers vom 24.09.2009 gegen den
Bescheid der Antragsgegnerin vom 14.09.2009, längstens jedoch bis
zum 26.08.2010 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
einschließlich Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von
monatlich 687,00 Euro (359,00 Euro Regelbedarf und 328,00 Euro
Kosten der Unterkunft und Heizung) zu gewähren. Im Übrigen wird die
Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die
erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in
beiden Rechtszügen.
Tatbestand:
1
Der am 00.00.1955 geborene Antragsteller (ASt) ist italienischer Staatsangehöriger. Ab
1994 lebte er in der Dominikanischen Republik und war auch dort berufstätig. Mit der
Absicht, seinen Lebensmittelpunkt hierhin zu verlegen, reiste er am 05.09.2009 in die
Bundesrepublik Deutschland ein und sucht seitdem einen Arbeitsplatz. Am Tag der
Einreise gab er in der Aufenthaltsanzeige nach § 5 des Gesetzes über die allgemeine
Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) die Arbeitsplatzsuche als Grund seines
Aufenthaltes an.
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Am 10.09.2009 beantragte der ASt bei der Antragsgegnerin (AG) Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Den Antrag lehnte die AG durch Bescheid vom 14.09.2009 unter Hinweis auf § 7 Abs. 1
S. 2 Nr. 2 SGB II ab. Nach dieser Vorschrift sei der ASt, der zum Zwecke der
Arbeitssuche eingereist sei, nicht leistungsberechtigt. Hiergegen legte der ASt am
24.09.2009 Widerspruch ein, der noch nicht beschieden ist.
3
Einen vom ASt ebenfalls gestellten Antrag auf Gewährung von Sozialhilfe nach dem
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) lehnte der Bürgermeister der Stadt X durch
Bescheid vom 29.09.2009 mit der Begründung ab, der ASt sei wegen des vorrangigen
Anspruchs auf Leistungen nach dem SGB II aus dem Leistungssystem des SGB XII
ausgeschlossen. Er sei nicht erwerbsunfähig und habe auf Nachfrage selbst erklärt, es
lägen keine körperlichen Beschwerden oder Einschränkungen vor. Über den hiergegen
gerichteten Widerspruch des ASt ist bislang nicht entschieden worden.
4
Am 20.10.2009 hat der ASt beim Sozialgericht Dortmund (SG) beantragt, die AG und
den Bürgermeister der Stadt X im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten,
ihm Leistungen nach dem SGB II bzw. SGB XII zu gewähren.
5
Das SG hat durch Beschluss vom 12.11.2009 das Verfahren abgetrennt, soweit sich der
Antrag gegen den Bürgermeister der Stadt X gerichtet hat und Leistungen nach dem
SGB XII geltend gemacht worden sind. Den Antrag im Übrigen hat es durch Beschluss
vom 13.11.2009 abgelehnt. Es hat seine Entscheidung auf § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II
gestützt, der systematisch vor dem von der AG herangezogenen Ausschlusstatbestand
des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II anzuwenden sei. Nach dieser Vorschrift erhalten
Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer oder
Selbstständige noch auf Grund des § 2 Abs. 3 FreizügigG/EU freizügigkeitsberechtigt
sind, in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts keine Leistungen. Der Gesetzgeber
habe mit der Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II die durch Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie
des Rates 2004/38/EG vom 29.04.2004 (Abl. Nr. L 158, S. 77, im Folgenden:
Unionsbürgerrichtlinie) eingeräumte Möglichkeit umsetzen wollen, Leistungen unter
bestimmten Voraussetzungen auszuschließen. Der Leistungsausschluss betreffe vor
allem Unionsbürger auf Arbeitssuche, die von ihrem voraussetzungslosen
Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 5 FreizügG/EU Gebrauch machten. Der in der Literatur
vertretenen Ansicht, wonach Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie wegen eines
Verstoßes gegen Art. 12 und 18 des EG-Vertrages europarechtswidrig sei, habe sich
der Europäische Gerichtshof (EuGH) nicht angeschlossen (vgl. EuGH, Urteile vom
04.06.2009, C-22/09 und C-23/08). Der EuGH halte es in dieser Entscheidung für
zulässig, dass Beihilfen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates
erleichtern sollen, vom Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitssuchenden
zum Arbeitsmarkt des Mitgliedslandes abhängig gemacht würden. Eine Verbindung des
ASt zum deutschen Arbeitsmarkt sei weder vorgetragen noch sonst erkennbar.
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Mit seiner hiergegen am 07.12.2009 eingelegten Beschwerde verfolgt der ASt sein
Begehren einer vorläufigen Gewährung von Leistungen zum Lebensunterhalt und für
Kosten der Unterkunft und Heizung weiter. Er ist der Auffassung, er könne hinreichende
Verbindungen zum deutschen Arbeitsmarkt aufweisen, da er bereits vor der Einreise
über Sozialkontakte und über die sprachlichen Voraussetzungen verfügt habe, die es
ihm sogar trotz Mittellosigkeit ermöglicht hätten, unverzüglich eine Wohnung
anzumieten. Mit seinem Hintergrundwissen habe er Kontakte zum Arbeitsmarkt
aufgebaut, sich wegen fehlender finanzieller Mittel bislang jedoch nur mündlich bei
potentiellen Arbeitgebern bewerben können. In einem Fall habe er auch - allerdings
letztlich ohne Erfolg - "zur Probe" gearbeitet. Er bringe entsprechende Fähigkeiten mit,
um eine Arbeitsstelle zu erlangen, denn er spreche fließend deutsch, habe eine
Ausbildung als Verkäufer durchlaufen und besitze umfassende berufliche Erfahrungen
im Hotel- und Gaststättenbereich. In rechtlicher Hinsicht habe das SG verkannt, dass
Art. 24 der Unionsbürgerrichtlinie Leistungen nach dem SGB II nicht betreffe. Vielmehr
erlaube die Vorschrift dem Aufnahmemitgliedstaat nur, Arbeitssuchende von
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Sozialhilfeleistungen auszuschließen, nicht aber von Leistungen bei Arbeitslosigkeit.
Das Arbeitslosengeld II sei als beitragsunabhängige Sonderleistung im Sinne des Art. 4
II a der Verordnung 1408/71 im Anhang II a eingestuft und damit deutlich von der
Sozialhilfe unterschieden worden. Diese Rechtsauffassung habe auch der EuGH in
seinem Urteil vom 04.06.2009, C-22/08 so bestätigt. Der Ausschluss von
freizügigkeitsberechtigten Arbeitsuchenden wie dem Kläger verletze
Gemeinschaftsrecht, insb. Art. 39 Abs. 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen
Gemeinschaft, konsolidierte Fassung (Amtsblatt Nr. C 325 vom 24.12.2002, im
Folgenden: "EG"). Nach den Maßstäben, die der EuGH in den Rechtsstreiten "Collins"
und "Ioannidis" aufgezeigt habe, eröffne Art. 39 Abs. 2 EG den zur Arbeitssuche in einen
anderen Mitgliedstaat einreisenden EU-Bürgern einen diskriminierungsfreien Zugang zu
allen Leistungen, welche die Integration in den Arbeitsmarkt erleichtern sollen. Damit sei
die starre Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II nicht vereinbar. Im Übrigen bestehe im
konkreten Fall gerade die erforderliche Verbindung mit dem hiesigen Arbeitsmarkt.
Darüber hinaus ergebe sich das Aufenthaltsrecht des ASt nicht allein aus dem Grund
der Arbeitssuche, sondern ebenfalls aus der Geltendmachung des allgemeinen
Freizügigkeitsrechts aus Art. 18 EG. Schließlich verkenne das SG in seinem Beschluss,
dass das einstweilige Rechtsschutzverfahren nicht dazu da und geeignet sei, rechtlich
schwierige Fragen umfassend und abschließend zu klären. Vielmehr sei dies dem
Hauptsacheverfahren zu überlassen. Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes gebiete
es, vorläufige Leistungen zuzusprechen, da dem ASt bei Versagung erhebliche und
nicht wieder gut zu machende Nachteile entstünden.
Der ASt beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
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den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 13.11.2009 zu ändern und die
Antragsgegnerin zu verpflichten, ihm vorläufige Leistungen zum Lebensunterhalt und für
Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 687,00 Euro (Regelsatz: 359,00 Euro,
Kosten der Unterkunft und Heizung: 328,00 Euro) zu gewähren.
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Die AG beantragt schriftsätzlich,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Sie hält ihre bisherige Entscheidung für zutreffend.
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Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts im Übrigen einschließlich des Vorbringens
der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der den ASt betreffenden
Verwaltungsakte der AG verwiesen; dieser ist Gegenstand der Beratung gewesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Beschwerde ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang
begründet. Das SG hat zu Unrecht die begehrte einstweilige Anordnung abgelehnt.
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine
einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das von Antragstellerseite geltend gemachte
Recht (sog. Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit, d.h. die Dringlichkeit, die
Angelegenheit sofort vor einer Entscheidung in der Hauptsache vorläufig zu regeln (sog.
Anordnungsgrund), sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG in Verbindung mit
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§ 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Für die Glaubhaftmachung genügt es, wenn
die tatsächlichen Voraussetzungen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund
überwiegend wahrscheinlich sind (vgl. BSG, Beschluss vom 08.08.2001, B 9 V 23/01 B,
in SozR 3-3900 § 15 Nr. 4). Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, ist in der Regel durch
summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu ermitteln. Können
ohne die Gewährung von Eilrechtsschutz jedoch schwere und unzumutbare Nachteile
entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, ist eine
abschließende Prüfung erforderlich (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05,
in Breith 2005, 803). Liegt ein Anordnungsanspruch nicht vor, ist ein schützenswertes
Recht zu verneinen und der Eilantrag abzulehnen. Hat die Hauptsache hingegen
offensichtlich Aussicht auf Erfolg, ist dem Eilantrag stattzugeben, wenn die
Angelegenheit eine gewisse Eilbedürftigkeit aufweist. Bei offenem Ausgang muss eine
umfassende Folgenabwägung, die die grundrechtlichen Belange des Antragstellers
umfassend einstellt, erfolgen (BverfG, a.a.O.; vgl. auch Meyer-Ladewig, SGG, 9. Aufl.
2008, § 86b Rn 29, 29a). Die besondere Eilbedürftigkeit, die den Anordnungsgrund
kennzeichnet, ist zu bejahen, wenn dem Antragsteller unter Berücksichtigung auch der
widerstreitenden öffentlichen Belange ein Abwarten bis zur Entscheidung in der
Hauptsache nicht zugemutet werden kann (Meyer-Ladewig, a.a.O., § 86b Rn 28, 29a
m.w.N.).
Vorliegend sind dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner grundrechtlichen
Belange nach Folgenabwägung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang vorläufige
Leistungen zu gewähren.
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Der ASt hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Eilbedürftig ist die
Angelegenheit deshalb, weil der ASt über kein eigenes Einkommen und Vermögen
verfügt. Ausweislich seiner Angaben im PKH-Verfahren zu seinen persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnissen lebt er von der Unterstützung durch Freunde. Da er sich
nicht selbst zu helfen vermag, benötigt er die hier begehrten Leistungen, um seinen
Lebensunterhalt einschließlich der Kosten der Unterkunft und Heizung zu bestreiten.
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Ob ein Anordnungsanspruch vorliegt, vermag der Senat im Verfahren des Einstweiligen
Rechtsschutzes hingegen nicht abschließend zu entscheiden.
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Der 1955 geborene ASt gehört zu dem Personenkreis, für den Leistungen des SGB II
vorgesehen sind (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB II). Mit dem Oberbürgermeister der Stadt
Wesel hält es das Gericht für überwiegend wahrscheinlich, dass der ASt tatsächlich
erwerbsfähig ist (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 8 SGB II; zur Anwendung des § 8
Abs. 2 SGB II bei möglichem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II s.
Blüggel in Eicher/Spellbrink SGB II 2. Aufl. § 8 Rn 46 a-d). Aufgrund seiner glaubhaften
Angaben zu Einkommen und Vermögen ist er hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 S. 1
Nr. 3 SGB II. Mit seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland in der Absicht,
seinen Lebensmittelpunkt hierhin zu verlegen, hat der ASt, der als Unionsbürger für
Einreise und Aufenthalt keiner Erlaubnis bedarf, an seinem Wohnort seinen
gewöhnlichen Aufenthalt begründet (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II i.V.m. § 30 Abs. 3 S. 2
Erstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB I; vgl. auch BSG, Urteil vom 27.01.1994, 5 RJ
16/93 zu Verweildauer und -wille und zur sog. Zukunftsoffenheit des Aufenthalts).
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Im Einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend zu klären ist jedoch die
Frage, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II
(Leistungsausschluss in den ersten drei Monaten des Aufenthalts) bzw. des § 7 Abs. 1
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S. 2 Nr. 2 SGB II (Leistungsausschluss, wenn sich das Aufenthaltsrecht allein aus dem
Zweck der Arbeitssuche ergibt), zu Lasten des ASt eingreift. Es bestehen nach den
bisherigen Überlegungen des Senats erhebliche Zweifel, ob der Leistungsausschluss in
dieser Vorschrift mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar ist (so
auch LSG NRW, Beschluss vom 17.02.2010, L 19 B 392/09 AS ER; LSG Berlin-
Brandenburg, Beschluss vom 11.01.2010 L 25 AS 1831/09 B ER; LSG Bayern,
Beschluss vom 04.05.2009, L 16 AS 130/09 B ER; in der Literatur: Valgolio in
Hauck/Noftz § 7 Rn 30; Spellbrink in Eicher/Spellbrink, aaO, § 7 Rn 17 m.w.N.; Löns in
Löns/Herold-Tews, SGB II, 2. Aufl. 2009, § 7 Rn 13 m.w.N.; Brühl/Schoch in LPK-SGB II,
3. Aufl. 2009, § 7 Rn 36 m.w.N.; Schreiber, info also 2008, 3 ff , info also 2009, 195 ff.;
Husmann, NZW 2009, 652, 656; aA LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom
23.12.2009, L 34 AS 1350/09 B ER und Beschluss vom 08.06.2009, L 34 AS 790/09 B
ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29.09.2009, L 15 AS 905/09 B ER;
Europarechtswidrigkeit verneinend für wirtschaftlich inaktive Unionsbürger: Hessisches
LSG, Beschluss vom 14.10.2009, L 7 AS 166/09 B ER)
Soweit der Bundesgesetzgeber mit der Norm des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II eine
Umsetzung des Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 14 Abs. 4b der Richtlinie 2004/38/EG in
nationales Recht bezweckt hat (vgl. BT-Drs. 16/688, S. 13; BT-Drs. 16/5065 S. 234), ist
fraglich, ob diese Richtlinie nicht bereits deshalb als Ermächtigungsgrundlage für den
Leistungsausschluss ausscheidet, weil die Vorschrift allein den Ausschluss von
"Ansprüchen der Sozialhilfe" ermöglicht. Ob es sich bei der Grundsicherungsleistung
nach dem SGB II um Leistungen der "Sozialhilfe" handelt, ist problematisch (bejahend
LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.12.2009, L 34 AS 1350/09 B ER; LSG
Berlin-Brandenburg, Beschluss vom LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom
29.09.2009, L 15 AS 905/09 B ER; LSG NRW, Beschluss vom 17.09.2009, L 9 AS 4/07;
Hailbronner, ZFSH/SGB 2009, 195, 201; Heinig, ZESAR 2008, 465, 472; Strick, NJW
2005, 2182; wohl auch Schreiber, info also 2009, 195, 197; verneinend SG Berlin, Urteil
vom 29.02.2008, S 37 AS 1403/08; offengelassen von LSG NRW, Beschluss vom
17.02.2010, L 19 B 392/09 AS ER). Der Europäische Gerichtshof hat diese Frage in
seinem Urteil vom 04.06.2009, Vatsouras, C-22/08 offengelassen, jedoch ausgeführt,
dass "finanzielle Leistungen, die unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem
Recht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, nicht als "Sozialhilfeleistungen"
im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie angesehen werden können". Im
Übrigen könne "eine Voraussetzung wie die in § 7 Abs. 1 SGB II enthaltene, wonach der
Betroffene erwerbsfähig sein müsse, ein Hinweis darauf sein, dass die Leistung den
Zugang zur Beschäftigung erleichtern solle". Im Hinblick auf die weiteren Ausführungen
des EuGH, dass das nationale Gericht die grundlegenden Merkmale der Leistung,
insbesondere ihren Zweck und die Voraussetzung ihrer Gewährung zu prüfen habe, ist
festzustellen, ob hier in Frage stehende Leistungen nach dem SGB II den Zugang zum
Arbeitsmarkt im Sinne der europarechtlichen Rechtsprechung erleichtern sollen.
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Selbst wenn die Grundsicherungsleistungen des SGB II in den Anwendungsbereich der
Unionsbürgerrichtlinie einbezogen würden, kann sich ein Anspruch des ASt auf
Gewährung der begehrten Leistungen dennoch möglicherweise unmittelbar aus
primärem Gemeinschaftsrecht ergeben (vgl. grundsätzlich hierzu Schreiber, info also
2008, 3 ff. m.w.N.; nach Husmann, NZW 2009, 652 ff. ist die Richtlinie wegen fehlender
Rechtsgrundlage nichtig; Heinig, ZESAR 2008, 465, 472 mit kritischen Anmerkungen
zur Judikatur des EuGH; verneinend LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom
23.12.2009, L 34 AS 1350/09 B ER; Beschluss vom 08.06.2009, L 34 AS 790/09 B ER).
Nach der Rechtsprechung des EuGH fallen Arbeitssuchende, auch wenn sie nicht
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Arbeitnehmer im Sinn von Art. 39 EG sind (seit dem 01.12.2009 durch den Vertrag von
Lissabon ersetzt durch Art. 45 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen
Union, im Folgenden: AEUV), dennoch in den Anwendungsbereich des Art. 39 Abs. 2
EG, was den Zugang zur Beschäftigung betrifft (EuGH, Urteil vom 04.06.2009,
Vatsouras C-22/08; Urteil vom 23.03.2004, Collins, C-138/02; Urteil vom 07.09.2004,
Trojani, C-456/02). Zusätzlich gelte für Unionsbürger der Gleichbehandlungsgrundsatz
des Art. 12 EG (entspricht Art. 18 AEUV) mit der Folge, dass Unionsbürger nicht von
einer finanziellen Leistung ausgenommen werden könnten, die den Zugang zum
Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates erleichtern soll (EuGH, Urteil vom 23.03.2004,
Collins, C-138/02). Wenn auch der EuGH es als legitim angesehen hat, dass staatliche
Beihilfen an bestimmte Kriterien gebunden werden (so z.B. das Erfordernis einer
tatsächlichen Verbindung zum Arbeitsmarkt, EuGH, a.a.O. oder eine Anknüpfung an ein
Wohnorterfordernis, EuGH, Urteil vom 15.03.2005, Bidar, C-209/03), so hat er stets
ausgeführt, dass diese Kriterien auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der
Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhen und in angemessenem Verhältnis zu
dem Zweck stehen müssten, der mit den nationalen Rechtsvorschriften zulässigerweise
verfolgt werde (EuGH,Urteil vom 23.03.2004, Collins, C-138/02). Im Hinblick auf diese
Rechtsprechung ist in höchstem Maß zweifelhaft, ob eine Regelung wie § 7 Abs. 1 S. 2
SGB II, die ausschließlich an die Staatsangehörigkeit knüpft, den Vorgaben des
primären Gemeinschaftsrechts standhält.
Sofern die Regelung des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II als europarechtswidrig angesehen wird,
ist weiter zu prüfen, ob die Vorschrift generell als für EU-Bürger unwirksam anzusehen
ist oder ob und ggf. auf welche Weise die Vorschrift europarechtskonform reduziert
werden kann (vgl. hierzu Schreiber, info also 2008, 3 ff: nur Nicht-EU-Ausländer und
vollziehbar ausreisepflichtige Unionsbürger werden erfasst; Spellbrink in
Eicher/Spellbrink, a.a.O.: Entscheidung einer generellen Unwirksamkeit sollte nach Art.
234 EG dem EuGH vorbehalten bleiben).
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Ob sich Leistungsansprüche aus dem von der Bundesrepublik Deutschland und Italien
ratifizierten Europäischen Fürsorgeabkommen vom 11.12.1953 herleiten lassen (hierzu
bejahend LSG NRW, Beschluss vom 06.05.2009, L 20 B 15/09 AS ER; Brühl/Schoch in
LPK-SGB II, a.a.O., § 7 Rn 35; verneinend LSG Bayern, Beschluss vom 04.05.2009, L
16 AS 130/09 B ER; noch zur Sozialhilfe OVG Berlin, Beschluss vom 22.04.2003, 6 S
9.03) bedarf ebenfalls der eingehenden Prüfung.
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Bereits die Vielzahl der genannten schwierigen und komplexen Rechtsfragen
verdeutlicht, dass die Sach- und Rechtslage für das erkennende Gericht nicht
zuverlässig abschließend in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren beurteilt werden
kann. Die danach für die begehrte Regelung im Eilverfahren allein entscheidende
Folgenabwägung (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05) fällt
zugunsten des ASt aus. Ohne die beantragten Leistungen drohen ihm existentielle
Nachteile, die er aus eigener Kraft nicht abwenden kann. Demgegenüber hat die AG
"nur" finanzielle Nachteile zu gewärtigen, wenn der ASt im Hauptsacheverfahren mit
seinem Begehren nicht durchdringen sollte. In diesem Fall erscheint es allerdings nicht
ausgeschlossen, dass die AG ihren Rückforderungsanspruch nicht wird realisieren
können und die Zuerkennung der Leistungen deshalb im Ergebnis einen Zustand
schafft, der in seinen (wirtschaftlichen) Auswirkungen der Vorwegnahme in der
Hauptsache gleichkommt. Diesem Umstand trägt der Senat bei der inhaltlichen
Ausgestaltung der einstweiligen Anordnung Rechnung, indem er die nachteiligen
Folgen auf Seiten der AG begrenzt und Leistungen erst ab Zustellung des Beschlusses
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gewährt (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 Zivilprozessordnung). Für den
Zeitraum zwischen Antragstellung beim Sozialgericht und Entscheidung sind schwere
und unwiederbringliche Nachteile des ASt, zu deren nachträglicher Beseitigung die
Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage sein könnte, vom ASt nicht
dargelegt worden und nach Lage der Akten auch nicht ersichtlich. Insoweit ist es dem
ASt diesbezüglich auch im Lichte des in Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz verankerten Gebots
effektiven Rechtsschutzes zuzumuten, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten
(so auch LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 11.01.2010, L 25 AS 1831/09 B ER).
Der vorläufig zugesprochene Betrag umfasst die Regelleistung (359,00 Euro) sowie die
Kosten für Unterkunft und Heizung, die nach der vom ASt vorgelegten
Mietbescheinigung 328,00 Euro monatlich betragen. Diese Leistungen sind in
Anlehnung an die Regelung des § 41 Abs. 1 S. 4 auf längstens 6 Monate befristet, damit
der Leistungsfall sachgerecht unter Kontrolle gehalten werden kann.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens
in der Sache selbst. Dabei wirkt sich der Umstand, dass der ASt für die Zeit ab 20.
Oktober 2009 bis zur Entscheidung des erkennenden Senats mit seinem Antrag nicht
(mehr) durchgedrungen ist, nicht zu seinen Lasten aus. Hat der ASt mit seinem Antrag
im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts im Wesentlichen nur deswegen teilweise
keinen Erfolg, weil die Folgenabwägung aufgrund der - verfahrensbedingten Dauer des
Rechtsstreits - für (mittlerweile) abgelaufene Zeiträume eine "Nachzahlung" verhindert,
kann dies bei der Kostenentscheidung nicht zugunsten der AG berücksichtigt werden.
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Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden (§ 177 SGG).
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