Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 30.09.2010

LSG NRW (schutz der ehe, beschwerde, witwenrente, sgg, vermutung, erkrankung, zeitpunkt, dauer, anordnung, antrag)

Landessozialgericht NRW, L 8 R 527/10 B ER
Datum:
30.09.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 8 R 527/10 B ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 15 R 576/10 ER
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Dortmund vom 6.5.2010 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Beschwerdeverfahren nicht zu
erstatten.
Gründe:
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I. Die 1940 geborene Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen
Rechtsschutzes die Verurteilung der Antragsgegnerin zur Zahlung großer Witwenrente
nach ihrem verstorbenen Ehemann B E (im Folgenden: Versicherter).
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Im März 2008 wurde bei dem Versicherten ein Bronchialkarzinom mit Hirnmetastasen
diagnostiziert. Vom 28.3.2008 bis zum 10.4.2008 unterzog er sich einer Strahlentherapie
des Hirnschädels, an die sich eine systemische Chemotherapie anschließen sollte. Am
11.4.2008 schlossen die Antragstellerin und der Versicherte die Ehe. Am 24.4.2008
verstarb der Versicherte.
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Am 14.5.2008 beantragte die Antragstellerin Witwenrente. Es handele sich nicht um
eine Versorgungsehe, sondern um eine Liebesheirat, nachdem sie mit dem
Versicherten bereits seit 16 Jahren zusammengelebt habe. Die Antragsgegnerin lehnte
den Antrag ab, weil die Vermutung der Versorgungsehe nicht widerlegt sei (Bescheid v.
19.6.2008). Mit dem Widerspruch trug die Antragstellerin vor: In jungen Jahren habe sie
den Versicherten nicht heiraten können, da dieser aufgrund einer für seine Schwester
übernommenen Bürgschaft Schulden gehabt habe. Mit der Eheschließung habe er
jedoch ihrem lange gehegten Wunsch nach Legitimierung der nichtehelichen
Lebensgemeinschaft entsprochen. Der Versicherte habe sie nicht über die Schwere
seiner Erkrankung unterrichtet, sodass sein Tod für sie letztlich überraschend
gekommen sei. Zum Zeitpunkt der Eheschließung habe sie geglaubt, noch einige Jahre
mit ihm zusammenleben zu können. Insbesondere die lange Dauer der zuvor geführten
eheähnlichen Gemeinschaft sei als Indiz gegen eine Versorgungsehe zu werten. Mit
Widerspruchsbescheid vom 11.9.2009 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch
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Widerspruchsbescheid vom 11.9.2009 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch
zurück. Bei Eheschließung seien der Antragstellerin die tödlichen Folgen der
Erkrankung des Versicherten sehr wohl bewusst gewesen. Auch der Umstand, dass die
Eheschließung in früheren Jahren aus finanziellen Gründen unterblieben sei, spreche
für eine Versorgungsehe. Soweit in der Rechtsprechung die Dauer des vorherigen
nichtehelichen Zusammenlebens als Anhaltspunkt gegen das Bestehen einer
Versorgungsehe angesehen habe, habe es sich jeweils um Einzelfälle gehandelt, die
mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar seien.
Die Antragstellerin hat Klage erhoben und einstweiligen Rechtsschutz beantragt. Zur
Begründung hat sie unter Vorlage einer entsprechenden eidesstattlichen Versicherung
ihren Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und ergänzend vorgetragen,
sie verfüge nur über ein geringes Einkommen und könne ihre Nebenkostenabrechnung
nicht bezahlen. Eine Vorsprache beim Sozialamt sei erfolglos geblieben. Ihr Hinweis,
dass sie die Kosten für einen neuen Trockner und einen neuen Elektroherd nicht
aufbringen könne, sei mit der Bemerkung quittiert worden, dass sie bei ihren Einnahmen
ohne weiteres 70,00 EUR im Monat habe zurücklegen können.
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Die Antragstellerin hat beantragt,
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einstweilen anzuordnen, dass ihr die große Witwenrente zu bewilligen ist.
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Die Antragsgegnerin hat beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Sie hat die Auffassung vertreten, dass kein Anordnungsanspruch gegeben sei.
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Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat den Antrag abgelehnt (Beschluss v. 6.5.2010). Der
Anordnungsanspruch auf große Witwenrente sei nicht glaubhaft gemacht. Der Vortrag
der Antragstellerin sei zumindest bei der im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz
gebotenen summarischen Prüfung nicht geeignet, die Annahme zu begründen, dass der
überwiegende Zweck der Heirat nicht die Begründung eines Anspruchs auf
Hinterbliebenenrente gewesen sei. Es bestehe auch kein Anordnungsgrund.
Gegebenenfalls müsse die Antragstellerin Leistungen der Grundsicherung in Anspruch
nehmen.
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Der Beschluss ist dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin am 10.5.2010 ohne
Empfangsbekenntnis per Fax übersandt worden. Die am 11.5.2010 übersandte
Ausfertigung ist ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 18.5.2010 zugestellt
worden.
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Mit der am 18.6.2010 erhobenen und am 8.9.2010 begründeten Beschwerde trägt die
Antragstellerin vor, das SG habe die Dauer ihres nichtehelichen Zusammenlebens mit
dem Versicherten nicht angemessen gewürdigt. Sie und der Versicherte hätten durch
die unterbliebene Heirat in all den Jahren gezeigt, dass sie die Sozialsysteme nicht
ausnutzten. Beide hätten während ihrer beruflichen Tätigkeit eine eigene
Krankenversicherung gehabt. Mangels Eheschließung hätten sie auch die
Steuervorteile durch eine gemeinsame Steuererklärung nicht in Anspruch genommen. In
Anbetracht ihres Alters von 70 Jahren könne man sie nicht auf die Grundsicherung
verweisen.
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Die Antragstellerin, die keinen ausdrücklichen Antrag gestellt hat, beantragt ihrem
schriftsätzlichen Vorbringen nach sinngemäß,
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den Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 6.5.2010 zu ändern und die
Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verurteilen, ihr große
Witwenrente nach B E nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
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Die Antragsgegnerin beantragt sinngemäß,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Sie hält den Beschluss des SG für zutreffend.
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Die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin hat bei Beschlussfassung vorgelegen.
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II. Die Beschwerde ist zulässig (1.), aber unbegründet (2.).
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1. Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere innerhalb der Frist von einem Monat nach
Bekanntgabe des Beschluss (§ 173 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) erhoben
worden. Die Monatsfrist beginnt im Hinblick darauf, dass Beschlüsse zuzustellen sind (§
133 Satz 2 SGG), erst mit der ordnungsgemäßen Zustellung zu laufen. Da die Faxkopie
hier nicht mit einem Empfangsbekenntnis versehen übermittelt worden ist (vgl. § 63 Abs.
2 SGG i.V.m. § 174 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]), hat die Beschwerdefrist nicht am
10.5.2010 zu laufen begonnen, sondern erst mit der Zustellung der Ausfertigung durch
Empfangsbekenntnis am 18.5.2010. Die Erhebung der Beschwerde am 18.6.2010 hat
die Monatsfrist mithin gewahrt.
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2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Das SG hat den Erlass der begehrten
einstweiligen Anordnung zu Recht und mit zutreffender Begründung abgelehnt.
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Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG können die SGe einstweilige Anordnungen zur
Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig
erscheint. Die Voraussetzungen der einstweiligen Anordnung sind glaubhaft zu machen
(§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO), müssen also überwiegend
wahrscheinlich sein. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und
Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung unter
umfassender Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange aller Beteiligten zu
entscheiden (BVerfG, Beschluss v. 12.5.2005, 1 BvR 569/05, Breith 2005, 803; Senat,
Beschluss v. 24.10.2008, L 8 B 15/08 R ER, juris und sozialgerichtsbarkeit.de).
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a) Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist das SG zunächst zutreffend davon
ausgegangen, dass das Bestehen eines Anspruchs der Klägerin auf große Witwenrente
nach dem Versicherten B E derzeit nicht überwiegend wahrscheinlich ist. Vielmehr ist
der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als (allenfalls) offen anzusehen.
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aa) Der Anspruch auf Witwenrente ist nach § 46 Abs. 2a Sechstes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB VI) ausgeschlossen, wenn die Ehe nicht mindestens ein Jahr
gedauert hat, es sei denn, dass nach den besonderen Umständen des Falles die
Annahme nicht gerechtfertigt ist, dass es der alleinige oder überwiegende Zweck der
Heirat war, einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung zu begründen. Bei der
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Prüfung, ob die durch § 46 Abs. 2a SGB VI begründete Vermutung der Versorgungsehe
widerlegt ist, sind alle zur Eheschließung führenden Motive der Ehegatten zu
berücksichtigen und in ihrer Bedeutung gegeneinander abzuwägen. Die Annahme einer
Versorgungsehe ist nur dann nicht gerechtfertigt, wenn die von der Versorgungsabsicht
verschiedenen Beweggründe beider Ehegatten insgesamt gesehen überwiegen oder
zumindest gleichwertig sind. Bei der abschließenden Gesamtbewertung müssen
diejenigen besonderen (inneren und äußeren) Umstände, die gegen eine
Versorgungsehe sprechen, umso gewichtiger sein, je offenkundiger und je
lebensbedrohlicher die Krankheit eines Versicherten zum Zeitpunkt der Eheschließung
gewesen war (BSG, Urteil v. 5.5.2009, B 13 R 55/08 R, SozR 4-2600 § 46 Nr. 6).
bb) Nach diesen Kriterien ist gegenwärtig jedenfalls nicht überwiegend wahrscheinlich,
dass es der Antragstellerin gelingen wird, die Vermutung der Versorgungsehe zu
widerlegen.
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(1) Die Ehe ist am 11.4.2008 und damit 13 Tage vor dem Tod des Versicherten
geschlossen worden, zugleich einen Tag, nachdem eine zweiwöchige Behandlung zur
Strahlentherapie von Hirnmetastasen eines kurz zuvor diagnostizierten
Bronchialkarzinoms abgeschlossen worden war. Angesichts dessen spricht viel dafür,
dass zumindest dem Versicherten die Lebensbedrohlichkeit seiner Erkrankung
offenkundig war.
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(2) Als bislang einziger aus Sicht der Antragstellerin gegen eine Versorgungsehe
sprechender objektiver Gesichtspunkt ist das Bestehen einer eheähnlichen
Lebensgemeinschaft zwischen ihr und dem Versicherten seit 1992 vorgetragen worden.
Die langjährige Dauer des nichtehelichen Zusammenlebens vor der Eheschließung
kann indessen zwar im Einzelfall gegen, unter Umständen aber auch für eine
Versorgungsehe sprechen (vgl. zu Letzterem z.B. Sächsisches LSG, Urteil v. 4.6.2008, L
6 R 395/06 KN, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 22.5.2008, L 21 R 39/05;
Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil v. 21.3.2007, L 8 R 112/06; jeweils juris). Der
erkennende Senat selbst hat beispielsweise in seiner jüngeren Rechtsprechung die
Vermutung der Versorgungsehe trotz eines vorangegangenen fünfzehnjährigen
Zusammenlebens als aufgrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht widerlegt
angesehen (Senat, Urteil v. 10.2.2010, L 8 R 134/09, sozialgerichtsbarkeit.de).
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(3) Zu Recht hat das SG es demgegenüber als Indiz für eine Versorgungsehe gewertet,
dass ein früherer Eheschluss aus finanziellen Motiven, nämlich zur Vermeidung einer
Belastung der Antragstellerin mit den aus einer Bürgschaftsverpflichtung stammenden
Schulden des Versicherten, unterblieben ist.
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(4) Ohne detaillierten Vortrag und entsprechende Beweisantritte zum Zeitpunkt des
ernsthaften Eheentschlusses, den Motiven hierzu und der Kenntnislage hinsichtlich der
Erkrankung des Versicherten zu diesem Zeitpunkt ist es nach allem derzeit nicht
überwiegend wahrscheinlich, dass es der Antragstellerin gelingen wird, die Vermutung
der Versorgungsehe zu widerlegen.
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b) Die angesichts des (allenfalls) offenen Ausgangs des Hauptsacheverfahrens
gebotene Interessenabwägung fällt zu Lasten der Antragstellerin aus.
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aa) Es ist nicht glaubhaft gemacht, dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung zur
Abwendung wesentlicher, insbesondere grundrechtlich geschützter Nachteile für die
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Antragstellerin nötig erscheint. Der Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung wird nicht
durch die Eigentumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 Grundgesetz [GG]) oder das Recht auf
Schutz der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) geschützt (BVerfG, Beschluss v. 18.2.1998, 1 BvR
1318/86, SozR 3-2940 § 58 Nr. 1; BSG, Urteil v. 5.5.2009, B 13 R 53/08 R, SozR 4-2600
§ 46 Nr. 5). Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs.
1 GG) wird demgegenüber nicht durch Leistungen der Rentenversicherung, sondern der
Grundsicherung verwirklicht (vgl. BVerfG, Urteil v. 9.2.2010, 1 BvL 1/09 u.a., NJW 2010,
505). Bei älteren Menschen wie der Antragstellerin dient hierzu die im System der
Sozialhilfe verankerte Grundsicherung im Alter (vgl. § 41 Zwölftes Buch
Sozialgesetzbuch). Da es zur Sicherung der Grundbedürfnisse älterer Menschen mithin
eine spezielle Fürsorgeleistung gibt, kann die Antragstellerin nicht erfolgreich mit dem
Argument gehört werden, sie dürfe angesichts ihres Alters nicht auf
Grundsicherungsleistungen verwiesen werden. Soweit sie diese nach Art und Höhe
nicht für ausreichend hält, muss sie ihre Ansprüche einstweilen gegebenenfalls im
System der Sozialhilfe durchzusetzen versuchen. Lediglich ergänzend weist der Senat
angesichts dessen darauf hin, dass es jedenfalls nicht für die Dringlichkeit der
Bedarfssituation der Antragstellerin spricht, dass sie sich zur Begründung ihrer
Beschwerde gegen den ablehnenden Beschluss des SG deutlich mehr als zwei Monate
Zeit gelassen hat.
bb) Demgegenüber ist zugunsten der Antragsgegnerin zu berücksichtigen, dass die
Versichertengemeinschaft für den Fall einstweiliger Rentenzahlungen an die
Antragstellerin im Hinblick auf die von dieser selbst vorgetragene Einkommenssituation
kaum Aussichten haben dürfte, einen etwaigen Rückforderungsanspruch zu realisieren,
falls sich in der Hauptsache herausstellt, dass ein Anspruch auf Witwenrente nicht
besteht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
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Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten
werden (§ 177 SGG).
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