Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 23.03.1999

LSG NRW (kläger, krankenpflege, diabetes mellitus, verhältnis zwischen, verhältnis zu, tochter, sgg, begründung, vorschrift, vergütung)

Landessozialgericht NRW, L 5 KR 2/99
Datum:
23.03.1999
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 5 KR 2/99
Vorinstanz:
Sozialgericht Detmold, S 2 KR 44/98
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 3 KR 23/99 R
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts
Detmold vom 30.10.1998 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt auch
im Berufungsverfahren die Kosten des Klägers.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger vom 01.10. bis 31.12.1997 Anspruch auf
häusliche Krankenpflege hat.
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Der ... geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Der behandelnde
praktische Vertragsarzt Dr. G verordnete für die Zeit vom 01.10. bis 31.12.1997
häusliche Krankenpflege. Der Kläger leide unter Angiopathie, Arthrose, Diabetes
mellitus, Inkontinenz, Krampfleiden, Polyneuropathie, Varicosis. Es wurden einmal
täglich bzw. siebenmal wöchentlich Salbeneinreibungen, Insulininjektionen,
Blutzuckerkontrollen und Blutdruckmessungen verordnet.
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Mit Bescheid vom 23.10.1997 lehnte die Beklagte es ab, die verordnete häusliche
Krankenpflege zu gewähren, weil der Einsatz von Fachpersonal nicht zwingend
erforderlich sei. Es handele sich um Leistungen der Grundpflege, für die eine
Kostenübernahme bzw. -beteiligung nicht erfolgen könne.
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Am 07.11.1997 wurde mit der Begründung Widerspruch erhoben, die Tochter des
Klägers könne die begehrten Leistungen nicht mehr erbringen. Das Verhältnis zu ihrem
Vater sei sehr angespannt und für sie in zunehmendem Maße schwer zu ertragen.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 25.02.1998 wies die Beklagte den Widerspruch aus den
Gründen des angefochtenen Bescheides zurück. Im übrigen machte sie darauf
aufmerksam, daß die Tochter des Klägers die begehrten Leistungen erbringen könne,
so daß jedenfalls ein Anspruch auf häusliche Krankenpflege an § 37 Abs. 3 SGB V
scheitere.
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Am 19.03.1998 ist Klage aus den Gründen des Widerspruchs erhoben worden.
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Nachdem im Verhandlungstermin klargestellt worden war, daß die Tochter des Klägers
zwar im selben Haus wie ihre Eltern, nicht jedoch in derselben Wohnung wohne, gab
das Sozialgericht mit Urteil vom 30.10.1998 der Klage statt. Zur Begründung führte es
aus, der Kläger habe einen Kostenerstattungsanspruch gemäß § 13 Abs. 3 SGB V. Bei
den begehrten Leistungen handele es sich sehr wohl um solche der häuslichen
Krankenpflege im Sinne von § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V bzw. der einfachen
Behandlungspflege. Dies sei wegen der Blutzuckertests und Insulininjektionen dem
Urteil des Bundessozialgerichts vom 19.02.1998, Az. B 3 P 3/97 R, zu entnehmen. Des
weiteren sei dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 17.04.1996, Az. 3 RK 28/95, zu
entnehmen, daß auch einfache medizinische Behandlungspflege, die keine besondere
medizinische Sachkunde erfordere, Behandlungspflege im Sinne des § 37 Abs. 2 Satz 1
SGB V sein könne; im vorliegenden Fall gelte dies für die Salbeneinreibungen und die
Blutdruckmessungen. Da die Tochter des Klägers nicht in der Wohnung des Klägers
lebe, greife auch nicht die anspruchsausschließende Norm des § 37 Abs. 3 SGB V ein.
Deswegen könne es dahingestellt bleiben, ob und wieweit die Tochter des Klägers
überhaupt in der Lage sei, die streitbefangenen behandlungspflegerischen Maßnahmen
sach- und fachgerecht auszuführen.
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Gegen dieses ihr am 04.12.1998 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 04.01.1999
Berufung eingelegt und zur Begründung vorgetragen, die Kosten der streitbefangenen
Behandlungspflege beliefen sich auf ca. 2.700,-- DM. Daß es sich bei den begehrten
Leistungen nicht um Behandlungspflege im Sinne von § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V
handele, erscheine auch sachgerecht, weil der Kläger bereits Leistungen nach der
Pflegestufe II erhalte. Eine Trennung nach den einzelnen Verrichtungen sei eine
willkürliche Zäsur innerhalb eines einheitlichen Lebenssachverhaltes. In
Fallgestaltungen dieser Art dränge es sich geradezu auf, daß der mehrmals täglich
erscheinende Pflegedienst die streitbefangenen Verrichtungen gleichzeitig mit den
Leistungen nach dem SGB XI durchführe. Anderenfalls könne der Pflegedienst
zusätzlich zu der Vergütung der Grundpflege die Einsatzpauschale einer
Behandlungspflege abrechnen.
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Die Beklagte beantragt,
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unter Änderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er meint, daß ihm die vom Sozialgericht zugesprochenen Leistungen zustünden.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird Bezug gemommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten,
die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Der Senat durfte verhandeln und entscheiden, obwohl für den Kläger im Termin
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niemand anwesend war. Das folgt aus den §§ 124, 126 SGG. Auf diese Möglichkeit ist
der Kläger in der Terminsnachricht hingewiesen worden.
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat der Klage zu Recht
stattgegeben. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig. Die Beklagte hat es zu
Unrecht abgelehnt, dem Kläger die für die Zeit vom 01.10. bis 31.12.1997
vertragsärztlich verordnete häusliche Krankenpflege zu gewähren.
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Der Kläger hat einen Anspruch aus § 13 Abs. 3 SGB V auf Freistellung von seiner
Verbindlichkeit gegenüber dem Pflegedienst. Der Pflegedienst hat den Kläger noch
nicht auf Zahlung in Anspruch genommen. Unabhängig davon, ob § 13 Abs. 2 oder Abs.
3 SGB V als Anspruchsgrundlage für eine Freistellung heranzuziehen ist, ergibt
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sich aus § 13 Abs. 1 SGB V, daß ein Freistellungsanspruch an die Stelle des Anspruchs
auf eine Sach- oder Dienstleistung tritt. Ein Freistellungsanspruch kann deshalb nur
bestehen, soweit die selbstbeschaffte Leistung ihrer Art nach zu den Leistungen gehört,
die gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V von den gesetzlichen Krankenkassen als
Naturalleistungen zu erbringen sind. Bevor der Kläger sich die streitbefangenen
Leistungen selbst beschaffte, hatte er einen Sachleistungsanspruch auf Gewährung von
häuslicher Krankenpflege aus § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V.
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Bei sämtlichen ursprünglich vom Kläger begehrten und anschließend selbstbeschafften
Leistungen der Salbeneinreibungen, Insulininjektionen, Blutzuckerkontrollen und
Blutdruckmessungen handelte es sich um Behandlungspflege im Sinne der zuletzt
zitierten Vorschrift. In diesem Zusammenhang sieht der Senat von einer weiteren
Darstellung der Entscheidungsgründe gemäß § 153 Abs. 2 SGG ab, indem er den
Gründen der angefochtenen Entscheidung und den dort herangezogenen Urteilen des
Bundessozialgerichts uneingeschränkt folgt.
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Der Senat vermag der Beklagten nicht beizupflichten, soweit sich diese im Hinblick auf
die vom Kläger bereits erhaltenen Leistungen nach der Pflegestufe II gegen eine
Aufspaltung eines einheitlichen Lebenssachverhaltes wendet. Wegen des gegliederten
Sozialversicherungssystems ist es unvermeidlich, bei einem einheitlich erscheinenden
Lebenssachverhalt danach zu differenzieren, ob ein Anspruch auf Behandlungspflege
(Krankenversicherung) und/oder Grundpflege (Pflegeversicherung) besteht. Die
Anspruchsinhalte sind nämlich verschieden. § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V hat einfache
(keine Fachkunde erfordernde) und qualifizierte (Fachkunde erfordernde)
behandlungspflegerische Leistungen zum Gegenstand. Dagegen besteht die in § 14
Abs. 3 SGB XI geregelte Hilfe in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen
Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in der
Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser
Verrichtungen, die im einzelnen in § 14 Abs. 4 SGB XI aufgeführt sind. Daran ändert
entgegen der Auffassung der Beklagten nichts, daß der Pflegedienst zusätzlich zu der
Vergütung der Grundpflege die Einsatzpauschale der Behandlungspflege abrechnen
kann. Gemäß § 31 SGB I dürfen Rechte und Pflichten in den Sozialleistungsbereichen
dieses Gesetzbuchs nur begründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden,
soweit ein Gesetz es vorschreibt oder zuläßt. Deshalb sind versorgungsvertragliche
Regelungen im Sinne von § 132 a SGB V, §§ 72 f., 77 SGB XI nicht dazu geeignet,
gesetzliche Ansprüche von Versicherten - im vorliegenden Falle aus § 37 Abs. 2 Satz 1
SGB V - einzuschränken. Sehr wohl ist es den Vertragspartnern der erwähnten
Versorgungsverträge unbenommen, solche vertraglichen Regelungen vorzusehen, die
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eine komplexe Vergütung von Einsatzpauschalen bei der gleichzeitigen Erbringung von
Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach dem SGB V und Grundpflege nach dem
SGB XI ermöglichen.
Der Beklagten ist immerhin zuzugeben, daß nach den vom Sozialgericht
herangezogenen Urteilen des Bundessozialgerichts einfache Behandlungspflege in den
Fällen, in denen sie von den im Haushalt des Pflegebedürftigen lebenden Angehörigen
erbracht wurden, im weitesten Sinne bei der Ermittlung des Pflegebedarfs zu
berücksichtigen sind. Denn mit der Einführung der Leistungen bei
Schwerpflegebedürftigkeit im Sinne der §§ 53 bis 57 SGB V a.F. (vgl. Urteil des BSG
vom 17.04.1996, Az. 3 RK 28/95) und bei Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI (vgl.
Urteil des BSG vom 19.02.1998, Az. B 3 P 3/97 R) sollte namentlich das Ziel angestrebt
werden, die Versorgung von Schwerpflegebedürftigen bzw. Pflegebedürftigen im
häuslichen Bereich zu verbessern, und zwar auch dadurch, daß die pflegenden
Angehörigen spürbar entlastet werden sollten, um ihre Pflegebereitschaft und
Pflegefähigkeit auf Dauer zu erhalten. Im vorliegenden Fall gehört die Tochter des
Klägers aber gerade nicht zu den im Haushalt des Klägers lebenden Personen im Sinne
von § 37 Abs. 3 SGB V, so daß der Anspruch auf häusliche Krankenpflege des Klägers
durch diese Vorschrift nicht ausgeschlossen ist. Bereits dem eindeutigen Wortlaut dieser
Vorschrift ist zu entnehmen, daß es sich um eine häusliche wohnungsmäßige
familienhafte Wirtschaftsführung im Verhältnis zwischen Krankem und der für die Pflege
heranzuziehenden Person handeln muß (vgl. in diesem Sinne ebenso Urteil des BSG
vom 23.03.1983, Az. 3 RK 66/81). Im übrigen ist § 37 Abs. 3 SGB V als
Ausnahmevorschrift teleologisch eng auszulegen. Dies gilt um so mehr gemäß § 2 Abs.
2 SGB I, wonach sicherzustellen ist, daß die sozialen Rechte des Bürgers möglichst
weitgehend verwirklicht werden.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
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Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
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