Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14.11.2007

LSG NRW: aufschiebende wirkung, verordnung, vertrauensschutz, beratung, behandlung, regress, versorgung, arzneimittel, bayern, vorrang

Landessozialgericht NRW, L 11 KA 112/06
Datum:
14.11.2007
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
11. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 11 KA 112/06
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 16 (9) KA 295/04
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 6 KA 64/07 R
Sachgebiet:
Vertragsarztangelegenheiten
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund
vom 06.11.2006 wird zurückgewiesen. Der Kläger trägt auch die Kosten
des Berufungsverfahrens. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Regresses wegen unzulässiger
Arzneimittelverordnungen.
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Der Kläger nimmt als Arzt für Allgemeinmedizin an der vertragsärztlichen Versorgung
teil. In den Quartalen II/2002 und III/2002 verordnete er das Fertigarzneimittel Wobe
Mugos E für eine bei der Beigeladenen zu 2) versicherte Patientin und im Quartal
II/2002 für eine bei der Beigeladenen zu 3) versicherte Patientin. Beide Patientinnen
litten an einem Mammakarzinom.
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Das verordnete Präparat befand sich auf Grund einer im Juni 1978 erstatteten Anzeige
bei dem damals zuständigen Bundesgesundheitsamt auf dem Markt; die Anzeige
erfolgte für eine rektale Anwendungsform. Im Verlängerungsantrag des neuen
Herstellers im Dezember 1989 wurde eine orale Darreichungsform angegeben. Das
nunmehr zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) lehnte
den Verlängerungsantrag mit Bescheid vom 09.06.1998 ab, weil auf Grund des
Wechsels der Darreichungsform zwischen dem 1978 angezeigten und dem zur
Nachzulassung anstehenden Arzneimittel keine Identität bestehe. Die Klage des
Herstellers war in allen Instanzen erfolglos (zuletzt OVG Berlin, Urteil vom 07.05.2005 -
5 B 8.03). Mangels Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides vom
09.06.1978 hatte die Klage aufschiebende Wirkung. Der Hersteller hat das Mittel zum
01.09.2005 aus dem Verkehr genommen.
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Auf Prüfanträge der Beigeladenen zu 2) und 3) setzte der Prüfungsausschuss mit
Beschlüssen vom 20.08.2003 und 08.11.2003 jeweils Regresse in Höhe von 263,45
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Euro bzw. 263,44 Euro fest. Zur Begründung führte er aus, die fiktive Zulassung von
Wobe Mugos E bestehe nach der Ablehnung des Verlängerungsantrags nur auf Grund
der aufschiebenden Wirkung der Klage fort. Ein Arzneimittel mit einem nicht
ausreichend gesicherten therapeutischen Nutzen dürfe ein Arzt nach den
Arzneimittelrichtlinien nicht verordnen. Der Kläger wandte ein, Wobe Mugos sei
verkehrsfähig, dies hätten auch Sozialgerichte und verschiedene Prüfgremien bestätigt.
Es sei jeweils im zugelassenen Anwendungsgebiet eingesetzt worden. Zahlreiche
Studien belegten die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Medikaments beim
primären Mammakarzinom. Somit seien die Verordnungen nicht unwirtschaftlich
gewesen. Der Beklagte wies die Widersprüche mit Beschlüssen vom 13.08.2004 bzw.
19.01.2005 zurück. Mit der Ablehnung der Verlängerung der Zulassung sei Wobe
Mugos E nicht mehr verkehrsfähig und dürfe im Rahmen der vertragsärztlichen
Versorgung nicht mehr verordnet werden. Das Einlegen von Rechtsmitteln gegen den
ablehnenden Bescheid des BfArM und die daraus folgende aufschiebende Wirkung der
Klage bewirke keine sozialrechtliche Verordnungsfähigkeit. In der
Ablehnungsentscheidung des BfArM spiegelten sich Zweifel an der Unbedenklichkeit
und/oder einem ausreichenden Beleg der therapeutischen Wirksamkeit wider. Insoweit
könne bei Versagung eines Nachzulassungsantrages eine fiktive Zulassung nicht
ausreichen, um die Verordnungsfähigkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung zu
begründen.
Der Kläger hat gegen beide Beschlüsse fristgerecht Klage erhoben, die das
Sozialgericht mit Beschluss vom 15.08.2005 zur gemeinsamen Verhandlung und
Entscheidung verbunden hat. Während des erstinstanzlichen Verfahrens hat das
Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 27.09.2005 (SozR 4-2500 § 31 Nr. 3)
entschieden, dass zwar Wobe Mugos E auf Grund der aufschiebenden Wirkung der
verwaltungsgerichtlichen Klage arzneimittelrechtlich verkehrsfähig gewesen sei, diese
auf der bloßen Inanspruchnahme einer verfahrensrechtlichen Position beruhende
Verkehrsfähigkeit aber nicht ausreiche, um die Leistungspflicht innerhalb der GKV zu
begründen, weil es an der positiven Bewertung von Qualität und Wirksamkeit des
Arzneimittels fehle.
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Der Kläger hat zur Begründung der Klage vorgetragen, er habe eine fehlende
Verordnungsfähigkeit nicht erkennen können. Unter anderem das Sozialgericht
Dortmund habe früher entschieden, dass Wobe Mugos von den Versicherten
beansprucht werden könne. Selbst der Beklagte sei nicht in der Lage gewesen, seine
Auffassung zutreffend zu begründen, denn nach der Entscheidung des BSG sei nicht
die Verkehrsfähigkeit entfallen gewesen, vielmehr habe das BSG nur in Fortentwicklung
seiner Rechtsprechung trotz fortbestehender Verkehrsfähigkeit die Verordnungsfähigkeit
verneint. Ohnehin sei die Rechtsprechung des BSG auf Grund des Beschlusses des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 06.12.2005 (SozR 4-2500 § 27 Nr. 5)
überholt. Das BVerfG habe entschieden, dass bei lebensbedrohlichen Erkrankungen
Versicherte schon dann eine Leistung beanspruchen könnten, wenn es ernsthafte
Hinweise auf eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine positive Einwirkung auf
den Krankheitsverlauf gebe. Solche Wirksamkeitsnachweise für die Behandlung eines
Mammakarzinoms lägen für das hier streitige Präparat vor. Ihm sei ferner
Vertrauensschutz zuzubilligen, denn die Entscheidung des BSG vom 27.09.2005 sei für
ihn nicht vorhersehbar gewesen. In dieser Situation habe das LSG Bayern den
Krankenkassen geraten, wegen Vertrauensschutz Regressanträge zurückzunehmen,
was in zahlreichen Fällen geschehen sei. Die angefochtenen Beschlüsse seien auch
deshalb rechtswidrig, weil nach dem Gesetz eine Beratung Vorrang vor der Festsetzung
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eines Regresses habe. Der Beklagte habe daher Ermessenserwägungen dazu
anstellen müssen, welche Sanktionen er für angemessen halte.
Mit Urteil vom 06.11.2006 hat das Sozialgericht die Klagen unter Zulassung der
Berufung abgewiesen. Die Regresse seien rechtmäßig, weil Wobe Mugos E in den
streitigen Quartalen nicht zu Lasten der GKV verordnungsfähig gewesen sei. Eine
andere rechtliche Beurteilung sei nicht auf Grund des Beschlusses des BVerfG vom
06.12.2005 geboten, denn für die Behandlung des Mammakarzinoms stehe eine dem
medizinischen Stand entsprechende Behandlung zur Verfügung. Die Beschlüsse seien
auch nicht deshalb rechtswidrig, weil zunächst hätte eine Beratung erfolgen müssen. Es
gebe keinen grundsätzlichen Vorrang der Beratung vor der Verhängung eines
Regresses, aus diesem Grund seien auch Ermessenserwägungen nicht erforderlich
gewesen. Dies gelte selbst dann, wenn für den Kläger die fehlende
Verordnungsfähigkeit nicht vorhersehbar gewesen sei, da die Verhängung eines
Regresses in Fällen dieser Art kein Verschulden voraussetze.
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Mit der fristgerecht eingelegten Berufung hält der Kläger daran fest, die
Rechtsauffassung des BSG sei für ihn im Hinblick auf anders lautende Entscheidungen
von Sozialgerichten und Prüfgremien nicht vorhersehbar gewesen. Dieser Aspekt sei
entgegen der Auffassung des Sozialgerichts von Bedeutung, denn eine
verschuldensunabhängige Haftung sei bei Regressen unverhältnismäßig und bedeute
einen Verstoß gegen das Rechtsstaatprinzip. Wegen der unklaren Rechtslage sei ihm
Vertrauensschutz zuzubilligen; insoweit verweist der Kläger auch auf entsprechende
erstinstanzliche Entscheidungen aus anderen Bundesländern, in denen unter diesem
Gesichtspunkt Vertrauensschutz zugebilligt worden ist. Entgegen der Auffassung des
Sozialgerichts erfordere die gesetzliche Regelung, wonach im Regelfall einem Regress
eine Beratung vorausgehen solle, eine Ermessensentscheidung des
Beschwerdeausschusses, an der es hier fehle.
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Der Kläger beantragt,
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unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Dortmund vom 06.11.2007 die
Beschlüsse des Beklagten vom 13.08.2004 und 19.01.2005 aufzuheben, hilfsweise,
unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Dortmund vom 06.11.2007 die
Beschlüsse des Beklagten vom 13.08.2004 und 19.01.2005 aufzuheben und den
Beklagten zu verurteilen, die Widersprüche des Klägers gegen die Beschlüsse des
Prüfungsausschusses vom 20.08.2003 und 08.11.2003 unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Auf Grund des Urteils des BSG stehe fest, dass für Wobe Mugos E keine
Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung bestanden habe. Ein
schuldhaftes Verhalten des Vertragsarztes sei für Maßnahmen im Rahmen der
Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht erforderlich. Ein Ersatzanspruch sei auch dann zulässig,
wenn der Arzt gutgläubig von der Verordnungsfähigkeit des Arzneimittels ausgegangen
sei. Auf Vertrauensschutz könne sich der Kläger nicht berufen, denn eine schwer zu
beurteilende und nicht abschließend geklärte Rechtslage zur Verordnungsfähigkeit
wirke sich eher zu seinen Lasten aus. Wenn er sich dazu entschlossen habe, das
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Präparat auf einem Kassenrezept zu verordnen, übernehme er mit dieser Entscheidung
die Verantwortung für die Verordnungsfähigkeit. Bei unzulässigen Verordnungen sei als
Schaden die Summe festzusetzen, die der Krankenkasse durch die Verordnung des
betreffenden Arzneimittels entstanden sei. Ein Ermessen der Prüfgremien bestehe
insoweit nicht.
Die Beigeladenen zu 2) und 3) schließen sich dem Antrag und der Rechtsauffassung
des Beklagten an. Die Beigeladene zu 2) betont ebenfalls, dass eine rechtliche
Unsicherheit nicht zu einem Vertrauensschutz führen könne.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, auch hinsichtlich des
Vorbringens der Beteiligten, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der
Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Die jedenfalls kraft Zulassung statthafte und auch sonst zulässige Berufung ist nicht
begründet, denn das Sozialgericht hat die Klagen zu Recht abgewiesen. Die wegen der
Verordnung von Wobe Mugos E verhängten Regresse sind rechtmäßig.
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1. Rechtsgrundlage für die Entscheidung der Prüfgremien ist § 9 Abs. 4 2. Spiegelstrich
der ab dem 01.01.2002 geltenden Prüfvereinbarung (Westfälisches Ärzteblatt 2/03, 56
ff.). Diese Bestimmung sieht die Einzelfallprüfung ärztlich verordneter Leistungen vor,
die nach dem letzten Satz der Regelung insbesondere die Prüfung der
Verordnungsfähigkeit zum Gegenstand hat. Sie beruht auf der Ermächtigung in § 106
Abs. 2 Satz 4 5. Buch Sozialgesetzbuch ((SGB V) hier in der bis 31.12.2003 geltenden
Fassung). Danach können die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände
der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit der Kassenärztlichen Vereinigung über
die in § 106 Abs. 2 Satz 1 SGB V genannten Prüfungen hinaus andere arztbezogene
Prüfungen vereinbaren. Das BSG nimmt in ständiger Rechtsprechung an, dass die
Prüfgremien im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfungen auch befugt sind, die
Einhaltung der das Wirtschaftlichkeitsgebot umsetzenden Bestimmungen im Einzelfall
zu überprüfen und gegebenenfalls einen Regress festzusetzen. Solche Regresse sind
von Regressen wegen eines sonstigen Schadens (hier geregelt in § 9 Abs. 5 der
Prüfvereinbarung) zu unterscheiden; der durch einen Verordnungsregress
auszugleichende "Schaden" entspricht demjenigen, der durch eine unwirtschaftliche
Verordnungsweise im Sinne des § 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB V auszugleichen ist
(zusammenfassend BSG SozR 3-2500 § 106 Nr. 52).
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2. Der Kläger durfte Wobe Mugos E nicht zu Lasten der Beigeladenen zu 2) und 3)
verordnen, denn die Versicherten hatten keinen Anspruch auf Versorgung mit diesem
Arzneimittel nach §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, 31 Abs. 1 SGB V. Das BSG hat im Urteil
vom 27.09.2005 (a. a. O.) überzeugend begründet, dass die auf der bloßen
Inanspruchnahme einer verfahrensrechtlichen Position beruhende Verkehrsfähigkeit
von Wobe Mugos E nicht ausreichte, um einen Anspruch auf Versorgung mit
Arzneimitteln nach dem SGB V zu begründen. Es hat zu Recht darauf hingewiesen,
dass keine arzneimittelrechtliche Prüfung mit einem für den Hersteller positiven
Ergebnis stattgefunden hatte und somit der für den Versorgungsanspruch erforderliche
Nachweis der Qualität und Wirksamkeit nach dem allgemein anerkannten Stand der
wissenschaftlichen Erkenntnisse gefehlt habe.
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Auch die Grundsätze des Beschlusses des BVerfG vom 06.12.2005 (a. a. O.) führen zu
keiner anderen Beurteilung. Das BVerfG hat in dieser Entscheidung gemeint, es sei mit
Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und Art. 2
Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar, einem gesetzlich Krankenversicherten bei einer
lebensbedrohlichen oder vorhersehbar tödlich verlaufenden Erkrankung, für die eine
allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht
zur Verfügung steht, die Leistung einer selbst gewählten Behandlungsmethode zu
verweigern, wenn eine nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens
eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Eine Erweiterung
des Leistungsrahmens der GKV fordert das BVerfG also nur für lebensbedrohliche
Erkrankungen, für die eine allgemein anerkannte Behandlung nicht verfügbar ist.
Unabhängig von der Frage, ob tatsächlich bei den Versicherten nach der konkreten
Ausprägung ihrer Erkrankung eine lebensbedrohliche Erkrankung im Sinne dieser
Rechtsprechung vorlag (verneinend etwa für ein Prostatakarzinom im Anfangsstadium
BSG SozR 4-2500 § 27 Nr. 8), fehlt es jedenfalls an der Voraussetzung, dass keine
Behandlungsalternative bestand. Es ist zum einen allgemein bekannt, dass es für die
Behandlung des Mammakarzinoms Standardtherapien gibt. Das Präparat Wobe Mugos
E diente zum anderen nach der "Roten Liste" zur Langzeitbehandlung bei Tumoren und
der Zusatzbehandlung während der Strahlentherapie und zur Metastasenprophylaxe.
Ein Einsatz zur unmittelbaren Bekämpfung eines lebensbedrohlichen
Krankheitszustandes erfolgte somit nicht. Auch im vorliegenden Fall ist nicht ersichtlich,
dass die Verordnungen wegen erfolgloser Ausschöpfung aller anderen
Behandlungsmöglichkeiten erfolgt wären.
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3. Ob der Kläger die fehlende Verordnungsfähigkeit von Wobe Mugos E erkennen
konnte, ist irrelevant. Auf Verschulden kommt es für einen Arzneimittelregress nicht an.
Wie dargelegt handelt es sich bei der Einzelfallprüfungen, die die Einhaltung der das
Wirtschaftlichkeitsgebot konkretisierenden Bestimmungen zum Gegenstand haben, um
Wirtschaftlichkeitsprüfungen "im weiteren Sinn". Im Recht der Wirtschaftlichkeitsprüfung
kommt es auf die Vorwerfbarkeit für die festgestellte unwirtschaftliche
Behandlungsweise nicht an. Selbst eine "im guten Glauben" vorgenommene
Verordnung kann daher zu Ersatzansprüchen gegen den Arzt führen (BSG SozR 3-2500
§ 106 Nr. 52; SozR 4-2500 § 106 Nr. 1; zuletzt Beschluss vom 30.05.2006 - B 6 KA
14/06 B; s. auch Engelhard in Hauck/Noftz, SGB V, § 106 Randnr. 92; Bahner,
Honorarkürzungen, Arzneimittelregresse, Heilmittelregresse, 2006, S. 238 f.).
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4. Ebenso wenig kann sich der Kläger auf Vertrauensschutz berufen. Vertrauensschutz
setzt einen gegenüber dem betroffenen Arzt gesetzten besonderen
Vertrauenstatbestand voraus (Engelhard, a.a.O., Randnr. 356). Hinsichtlich der
rückwirkenden Korrektur von Honorarbescheiden hat das BSG in der bloßen Duldung
einer objektiv fehlerhaften Abrechnungspraxis durch eine Kassen(zahn)ärztliche
Vereinigung keinen Vertrauenstatbestand gesehen (BSG SozR 4-2500 § 106a Nr. 1; s.
auch SozR 4-2500 § 95 Nr. 8). Selbst wenn - was allerdings selbst der Kläger nicht
behauptet hat - in der Vergangenheit entsprechende Verordnungen von Wobe Mugos E
unbeanstandet geblieben wären, wäre dies nach diesen Maßstäben unbeachtlich. Dass
in Kenntnis der Gesamtumstände eine der Beigeladenen dem Kläger ausdrücklich die
Verordnungsfähigkeit bestätigt hätte, macht er selbst nicht geltend.
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Entgegen anderer Auffassung kann allein die unklare Rechtslage nicht zu
Vertrauensschutz führen. Zwar mag die Rechtslage bis zur Entscheidung des BSG
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unklar gewesen sein. So hatte das LSG Rheinland-Pfalz in seinem (rechtskräftig
gewordenen) Urteil vom 22.10.1998 (L 5 K 22/97) entschieden, dass Wobe Mugos
mangels Zulassung nicht als Leistung der GKV beansprucht werden könne. In der
Folgezeit hatten dann erstinstanzliche Gerichte (SG Freiburg, Gerichtsbescheid vom
13.12.2000 - S 5 KR 5/00; SG Dortmund, Urteil vom 04.02.2003 - S 8 KR 276/00) und
auch Prüfgremien eine Verordnung zu Lasten der Krankenkassen für zulässig gehalten,
nachdem die Arzneimittelbehörden die Verkehrsfähigkeit von Wobe Mugos Ebejaht
hatten. Das LSG Bayern hatte schließlich in dem dem Urteil des BSG zu Grunde
liegenden Verfahren in seinem Urteil vom 22.01.2004 (L 4 KR 217/02) gemeint, Wobe
Mugos E sei zwar verkehrsfähig, werde jedoch von der sogenannten "Negativliste" nach
§ 34 Abs. 3 SGB V erfasst und daher von der Verordnung ausgeschlossen.
Diese - keine Vollständigkeit beanspruchende - Übersicht zeigt, dass die
Verordnungsfähigkeit von Wobe Mugos E kontrovers beurteilt wurde. Eine solch unklare
Rechtslage ist von vornherein nicht geeignet, Vertrauensschutz zugunsten des
verordnenden Arztes zu begründen, da sie ihm nicht die Gewissheit von der
Rechtmäßigkeit seines Handelns vermitteln kann. Er kann in dieser Situation allenfalls
hoffen, dass sich die von ihm vertretene Ansicht als die zutreffende erweisen wird. Der
Kläger hatte aber ebenso in Erwägung zu ziehen, dass sich die andere Ansicht
durchsetzen könnte und sich seine Verordnung als unzulässig erweisen werde. Die
Argumentation, es könne nicht zu Lasten des Arztes gehen, wenn die Rechtslage in
Folge eines Meinungsstreits unklar sei (so SG Potsdam, Urteil vom 18.07.2007 - S 1 KA
101/06) bedeutet im Ergebnis die Einführung eines Verschuldenserfordernisses
hinsichtlich der Verordnung, weil sie die subjektive "Erkennbarkeit" der Unzulässigkeit
der Verordnung voraussetzt. Zu Recht weist das SG Berlin (Urteil vom 20.06.2007 - S 83
KA 383/06) demgegenüber darauf hin, dass sich die ungeklärte Rechtslage im Zeitpunkt
der Verordnung zu Lasten des Arztes auswirken muss. Dieser hat bei unklarer
Rechtslage die Möglichkeit, das Präparat auf Privatrezept zu verordnen und so den
Kostenträger in die Lage zu versetzen, eine Entscheidung über seine Leistungspflicht zu
treffen. Bei einer vertragsärztlichen Verordnung hat die Krankenkasse in jedem Fall
gegenüber dem Versicherten die Kosten zu übernehmen; sie hat in diesem Fall nur die
Möglichkeit, ihre fehlende Leistungspflicht im Wege des Regresses gegenüber dem Arzt
geltend zu machen. Der Arzt übernimmt damit mit einer vertragsärztlichen Versorgung
die Verantwortung dafür, dass das Mittel zum Leistungsspektrum der GKV zählt. Wenn
sich hier der Kläger dafür entschieden hat, die Verordnungen zu Lasten der
Beigeladenen zu 2) und 3) vorzunehmen, so hat er auch für diese objektiv fehlerhaften
Verordnungen einzustehen und kann sich nicht darauf berufen, er habe ungeachtet der
die Verordnungsfähigkeit in Frage stellenden Stimmen darauf "vertraut", dass seine
Rechtsansicht zutreffend sei.
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5. Die angefochtenen Beschlüsse sind auch nicht unter Berücksichtigung des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes rechtswidrig. Der Beklagte musste weder den Kläger
vor einem Regress beraten noch musste er Ermessenserwägungen hinsichtlich der
Festsetzung der Regresse anstellen. Zwar sieht die hier anzuwendende
Prüfvereinbarung nicht ausdrücklich vor, dass bei unzulässigen Verordnungen immer
ein Regress festzusetzen ist (so aber § 15 Abs. 4 der im Bereich der KV Nordrhein
geltenden Prüfvereinbarung). § 106 Abs. 5 Satz 2 SGB V fordert aber entgegen der
Ansicht des Klägers weder, dass einem Regress eine Beratung vorangehen müsse
(BSG SozR 4-2500 § 106 Nr. 1; SozR 3-2500 § 106 Nr. 53; Beschluss vom 30.05.2006,
a. a. O.; s. aber Spellbrink, Wirtschaftlichkeitsprüfung im Kassenarztrecht, 1994, Randnr.
849, der meint, bei unklarer Rechtslage sei vor einem Regress eine Beratung zu fordern,
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um Verhaltenssicherheit herzustellen), noch lässt sich der Vorschrift entnehmen, dass
die Prüfgremien in jedem Fall darlegen müssten, dass sie eine Beratung als Sanktion in
Erwägung gezogen haben. Soweit in der Literatur eine erkennbare
Ermessensbetätigung bei erstmaligen Prüfungen erörtert wird (Engelhard, a. a. O.,
Randnr. 541; Hesral in Ehlers (Hrsg), Wirtschaftlichkeitsprüfungen, 2. Aufl., Kapitel 2,
Randnr. 233) betrifft dies Prüfungen wegen übermäßiger Behandlungs- bzw.
Verordnungsweise. Bei Einzelprüfungen, die die Verordnungsfähigkeit einzelner Mittel
zum Gegenstand haben, kommt nach Auffassung des Senats bei Feststellung einer
"Unwirtschaftlichkeit" im Regelfall nur die Verhängung eines Regresses in Betracht.
Eine effektive Prüfung wegen unzulässiger Verordnungen wäre kaum möglich, wenn die
Verordnung nicht verordnungsfähiger Mittel für den Arzt ohne finanziellen Folgen
blieben (Engelhard, a.a.O., Randnr. 91). Zu Recht verweist das SG Berlin (a. a. O.) auch
auf die generalpräventive Wirkung solcher Regressfestsetzungen, um den
Vertragsärzten die Folgen einer unzulässigen Arzneimittelverordnung vor Augen zu
führen und sie zur peniblen Prüfung der Verordnungsfähigkeit anzuhalten. Auch das
BSG geht in seinem Urteil vom 27.06.2007 (B 6 KA 44/06 R) offenbar selbstverständlich
davon aus, dass die Verhängung von Verordnungsregressen keine
Ermessensentscheidung erfordert, denn es hat in dem genannten Urteil die Verhängung
eines Regresses wegen der unwirtschaftlichen Verordnung eines Arzneimittels für einen
Patienten gebilligt, ohne die Frage der Ermessensausübung des
Beschwerdeausschusses aufzuwerfen.
6. Die Regresse sind auch der Höhe nach zutreffend in Höhe der den Beigeladenen zu
2) und 3) tatsächlich entstandenen Kosten unter Berücksichtigung der Apothekenrabatte
und der Zuzahlungen der Versicherten festgesetzt worden. Auch der Kläger erhebt
insoweit keine Einwendungen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz i. V. m. § 154
Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung. Der Senat hat davon abgesehen, dem Kläger
Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen.
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Der Senat hat auch im Hinblick auf die divergierenden erstinstanzlichen
Entscheidungen eine grundsätzliche Bedeutung des Rechtsstreits bejaht und daher die
Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 SGG).
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