Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 26.02.2003

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Landessozialgericht NRW, L 5 KR 33/02
Datum:
26.02.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 5 KR 33/02
Vorinstanz:
Sozialgericht Duisburg, S 7 (9) KR 91/00
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 3 KR 5/03 R
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts
Duisburg vom 28.01.2002 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung
des Bescheides vom 02.12.1999 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 12.04.2000 verurteilt, die Klägerin von
den Kosten der Versorgung mit einem Rollstuhl in Höhe von 2.351,25
Euro freizustellen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der
Klägerin in beiden Rechtszügen. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Streitig ist die Versorgung der in einem Pflegeheim lebenden Versicherten mit einem
Lagerungsrollstuhl.
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Die 1912 geborene Klägerin ist als Rentnerin bei der Beklagten versichert. Sie leidet an
einer fortgeschrittenen senilen Demenz (Alzheimer), ferner bestehen Beugekontrakturen
an allen Extremitäten. Sie lebt in einem Pflegeheim und ist in die Pflegestufe III als
Härtefall eingestuft.
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Mit einer vertragsärztlichen Verordnung der Dres. H .../S ... vom 09.09.1999 beantragte
die Klägerin die Versorgung mit einem Faltrollstuhl mit verstellbarer Rückenlehne und
Fußstützen sowie mit einer Fixationsweste für den Oberkörper. Nachdem die Beklagte
nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung (MDK) die beabsichtigte Ablehnung des Antrags mitgeteilt hatte,
führte Dr. S ... in einem Schreiben vom 16.10.1999 aus: Die Klägerin sei wegen einer
fortgeschrittenen senilen Demenzbettlägerig. Zur Dekubitus- und Pneumonieprophylaxe
werde sie regelmäßig in einen Rollstuhl gesetzt. Da sie aus einem herkömmlichen
Faltrollstuhl mehrfach herausgefallen sei, sei ein Lagerungsrollstuhl erforderlich. Das
Pflegeheim wies in einem Schreiben vom 15.11.1999 darauf hin, die Klägerin werde
nach dem Waschen in einen Rollstuhl gesetzt. Da sie nicht in der Lage sei, über einen
längeren Zeitraum aufrecht zu sitzen, sei ein Lagerungsrollstuhl mit Fixationsweste
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erforderlich. Sie könne dadurch auch wieder an gesellschaftlichen Veranstaltungen im
Heim teilnehmen; sie verbringe täglich 5 bis 6 Stunden im Rollstuhl. Dr. S ... vom MDK
meinte zu diesem Vorbringen, nach dem Pflegegutachten sei die Klägerin gar nicht in
der Lage, den überwiegenden Teil des Tages sitzend im Rollstuhl zu verbringen, erst
recht könne sie nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
Mit Bescheid vom 02.12.1999 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte
sie aus, von der Leistungspflicht der Krankenkasse seien nur Hilfsmittel umfasst, die den
Versicherten die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen sollten und
sie durch die Erhöhung ihrer Selbständigkeit zumindest teilweise von den
Pflegepersonen unabhängig machten. Andere Hilfsmittel dienten ausschließlich der
Verminderung des Pflegeaufwandes und seien vom Heim zur Verfügung zu stellen. Mit
ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie verbringe 5 bis 6 Stunden täglich im
Rollstuhl. Dieser diene der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, denn damit könne
sie zu Veranstaltungen im Heim gefahren werden, ohne Gefahr zu laufen, aus dem
Rollstuhl zu fallen. Die Beklagte holte eine weitere Stellungnahme des MDK ein, der
unter dem 13.01.2000 ausführte, die Klägerin sei aus eigener Kraft nicht mehr in der
Lage, zu gehen und im Rollstuhl ihre Körperhaltung aufrechtzuerhalten. Der Rollstuhl
diene dem Transport innerhalb der Pflegeeinrichtung, außerdem sei er ein Ersatz für
einen normalen Stuhl beim Essen. Durch die Versorgung mit dem Rollstuhl könne die
Klägerin am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, jedoch nur, wenn sie in den Rollstuhl
gesetzt werde. Das Hilfsmittel gleiche zwar Defizite beim Gehen bzw. der
Aufrechterhaltung der Körperhaltung aus, gleichzeitig sei eine Pflege ohne diese Mittel
kaum möglich bzw. auf das Äußerste erschwert. Letztlich stehe wohl die
Pflegeerleichterung im Vordergrund. Mit Widerspruchsbescheid vom 12.04.2000 wies
die Beklagte den Widerspruch zurück.
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Im Klageverfahren hat die Klägerin ihren Vortrag wiederholt, dass sie 5 bis 6 Stunden
täglich im Rollstuhl sitze und nur mittels dieses Rollstuhls am gesellschaftlichen Leben
teilnehmen könne. Ohne den Rollstuhl könne sie das Zimmer nicht verlassen. Sie
benötige einen speziell an ihre Behinderung angepassten Rollstuhl; insoweit verweist
sie auf ein Schreiben des Sanitätshauses L ..., in dem es heißt, aufgrund der
vorhandenen Kontrakturen sei ein Standardrollstuhl nicht einsetzbar, die Klägerin
benötige einen Rollstuhl mit einer Rückenverstellung sowie Sitzkantelung und
verstellbarer Kopfstütze.
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Während des Klageverfahrens haben Dres. H .../S ... eine neue Verordnung vom
07.07.2000 über einen Lagerungsrollstuhl ausgestellt, auf deren Grundlage das
Sanitätshaus L ... einen Kostenvoranschlag für einen anderen Typ eines
Lagerungsrollstuhls gemacht hat (Kosten insgesamt 4.627,95 DM). In einem von der
Beklagten eingeholten Gutachten des MDK (Dr. B ...) vom 09.10.2000 wurde bestätigt,
dass aufgrund der Gesundheitsstörungen ein einfacher Zimmerrollstuhl nicht
ausreichend und der im Kostenvoranschlag genannte für die Klägerin geeignet sei. Eine
Leistungspflicht der Krankenkasse bestehe aber nach der aktuellen Rechtsprechung
des BSG nicht. Das Sanitätshaus hat im Juli 2001 der Klägerin den angebotenen
Rollstuhl zur Verfügung gestellt, der Kaufpreis ist gestundet worden.
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Mit Urteil vom 28.01.2002 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Rollstuhl
zähle zu den Hilfsmitteln, die der Träger des Heimes zur Verfügung zu stellen habe, da
der Rollstuhl ausschließlich innerhalb des Heims benötigt werde und es sich nicht um
ein Hilfsmittel handele, das der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses
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außerhalb des Pflegeheimes diene.
Mit der Berufung rügt die Klägerin, das Sozialgericht habe zu Unrecht verneint, dass es
sich bei dem Lagerungsrollstuhl um ein individuell angepasstes Hilfsmittel handele.
Vielmehr ergebe sich aus der Darstellung des Sanitätshauses, dass der Rollstuhl dem
Krankheitsbild angepasst worden und nach Entfernung der Sonderteile für keinen
Heimbewohner mehr verwendbar sei. Ferner meint sie, ihr Anspruch sei unter
Berücksichtigung der jüngsten Entscheidungen des BSG begründet.
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Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 28.01.2002 zu ändern und die Beklagte
unter Aufhebung des Bescheides vom 02.12.1999 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 12.04.2000 zu verurteilen, die Klägerin von den Kosten
der Versorgung mit einem Rollstuhl "REA 705 Silencio-Care" in Höhe von 2.351,25
Euro freizustellen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Entgegen der Auffassung der
Klägerin ergebe sich aus der Auskunft des Sanitätshauses, dass es sich bei dem
Rollstuhl nicht um ein individuelles Hilfsmittel handele. Eine Änderung der bisherigen
Rechtsprechung ergebe sich aus den neueren Entscheidungen des BSG nicht,
keineswegs seien nunmehr alle Hilfsmittel im Heim von den Krankenkassen zu
übernehmen.
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Der Senat hat eine Auskunft von dem Sanitätshaus L ... eingeholt, das unter dem
22.05.2002 mitgeteilt hat, die Rollstühle würden fast alle in Serie gebaut, aber den
Rollstuhlbenutzern individuell in Sitzbreite, -tiefe, Rückenhöhe, Sitzhöhe und dem
Krankheitsbild entsprechend angepasst. Bei dem "REA 705 Silencio-Care" handele es
sich um ein Multifunktionsrollstuhl, bei dem durch Sitzkantel- und Rückenverstellung
eine Oberkörperstabilisierung des Rollstuhlnutzers herbeigeführt werde. Ebenso werde
durch eine individuelle Begurtung versucht, den Patienten zu positionieren und in
Kombination mit dem gegebenen Verstellmöglichkeiten in die aufrechte Sitzposition zu
bringen. Für die Anpassung könnten serienmäßig hergestellte Teile verwendet werden,
der zeitliche Aufwand für die Anpassung werde auf 75 Minuten geschätzt. Das
Grundmodell des Rollstuhls könne nach Entfernen diverser Vorrichtungen auch für
andere Personen genutzt werden. Allerdings müsse eine Sitztiefen- und
Sitzbreitenanpassung erfolgen, der Zeitaufwand für diese Einstellung betrage ca. 60
Minuten. In der mündlichen Verhandlung ist der Pflegedienstleiter V ... als Zeuge
vernommen worden; wegen des Inhalts seiner Aussage wird auf die
Sitzungsniederschrift vom 27.02.2003 Bezug genommen.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist auch begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht
abgewiesen, denn die Klägerin hat Anspruch auf Freistellung von den Kosten für den
selbstbeschafften Rollstuhl.
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Anspruchsgrundlage des Freistellungsanspruchs ist § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. Fünftes
Buch Sozialgesetzbuch ((SGB V) in der ab 01.07.2001 geltenden Fassung); der dort
geregelte Kostenerstattungsanspruch umfasst auch einen Freistellungsanspruch (vgl.
BSG SozR 3-2500 § 13 Nr. 14, 17). Das Sanitätshaus hat den in der Rechnung vom
25.07.2001 ausgewiesenen Betrag von 2.351,25 Euro nur bis zum Abschluss des
Verfahrens gestundet, so dass die Klägerin einem Zahlungsanspruch des
Sanitätshauses ausgesetzt ist.
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Die Beklagte hat vor der Selbstbeschaffung des Rollstuhls zu Unrecht die Leistung
abgelehnt. Vielmehr hat die Klägerin ungeachtet ihres Heimaufenthaltes Anspruch auf
die Gewährung eines Rollstuhls.
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Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V (in der seit 01.07.2001 geltenden Fassung) haben
Versicherte Anspruch unter anderem auf Hilfsmittel, die im Einzelfall erforderlich sind,
den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung
vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als
allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34
Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Rollstuhl und Fixationsweste sind hier zum
Ausgleich einer Behinderung erforderlich. Da die Klägerin weder selbst gehen noch
stehen oder aus eigener Kraft aufrecht sitzen kann, ersetzen der Rollstuhl bzw. die
Fixationsweste mittelbar die ausgefallenen Organfunktionen. Beide Hilfsmittel sind auch
keine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens und nicht durch Rechtsverordnung
ausgeschlossen.
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Die Beklagte bezweifelt das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des § 33 Abs. 1 SGB
V auch nicht, sondern verneint ihre Leistungspflicht unter Hinweis auf eine vorrangige
Vorhaltepflicht des Pflegeheimes für die betreffenden Hilfsmittel. In der Tat hat der 3.
Senat des BSG in mehreren Urteilen vom 10.02.2000 (u.a. SozR 3-2500 § 33 Nr. 37)
entschieden, dass zwar grundsätzlich der Heimaufenthalt eines Versicherten seinem
Versorgungsanspruch nicht entgegensteht, die Leistungspflicht der gesetzlichen
Krankenkassen aber dort ende, wo bei vollstationärer Pflege die Pflicht des Heimträgers
auf Versorgung der Heimbewohner mit Hilfsmitteln einsetze. In der damaligen
Entscheidung hat der 3. Senat diese Pflicht des Heimträgers noch relativ weit gefasst,
eine Leistungspflicht der Krankenkassen hat er nur für individuell angepasste und ihrer
Natur nach nur für den Versicherten bestimmte Hilfsmittel sowie für solche bejaht, die
der Befriedigung eines Grundbedürfnisses außerhalb des Pflegeheimes dienten. Zur
"Heimsphäre" hat er in der genannten Entscheidung ausdrücklich auch Rollstühle
gezählt, die nur für Aktivitäten innerhalb des Heimbereichs benötigt würden. Sie zählten
in der Regel nicht zu den individuell angepassten Hilfsmitteln; dies gelte auch dann,
wenn es sich um ein Serienfabrikat handele, das auf bestimmte körperliche
Gegebenheiten einstellbar sei.
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Hiervon ausgehend bestünde wohl keine Leistungspflicht der Beklagten. Auch unter
Berücksichtigung der Auskunft des Sanitätshauses L ... vom 22.05.2002 wäre der
individuelle Charakter des hier in Frage stehenden Rollstuhls zu verneinen, da es sich
um ein Serienfabrikat handelt, das mit serienmäßig hergestellten Teilen aus einem
Baukastensystem des Herstellers an die individuellen Gegebenheiten der Klägerin
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angepasst worden ist. Der für die Anpassung erforderliche Zeitaufwand von 75 Minuten
ist auch nicht so erheblich, dass er gegenüber dem Wert des Grundmodells im
Vordergrund stehen würde. Der Rollstuhl ist auch nach der Aussage des Zeugen V ...
ausschließ lich für Fahrten im Haus einschließlich des Gartens, also nicht für Ausflüge
der Angehörigen mit der Klägerin außerhalb des Heimes, genutzt worden.
Allerdings hat der 3. Senat in zwei weiteren Entscheidungen vom 06.06.2002 (B 3 KR
67/01 R) und 24.09.2002 (B 3 KR 15/02 R), die unmittelbar Hilfsmittel zur Durchführung
von Behandlungspflege betreffen, seine Auffassung "präzisiert". Er zählt nunmehr alle
Hilfsmittel, die der Behandlungspflege dienen, grundsätzlich zu den von der
Leistungspflicht der Krankenkassen umfassten Hilfsmittel. Im Übrigen sollen, soweit der
mit dem Heim bestehende Versorgungsvertrag nichts Ausdrückliches zur
Heimausstattung vorschreibt, die Heime lediglich die zur Durchführung der üblichen
Maßnahmen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung erforderliche
Ausstattung vorzuhalten haben. Zu dieser Ausstattung zählen auch solche
Gegenstände, die zwar auch zum Behinderungsausgleich eingesetzt werden, jedoch
nach ihrem Verwendungszweck ganz überwiegend die Durchführung der Pflege
ermöglichen oder erleichtern.
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Allerdings bleibt unklar, bei welchen Hilfsmitteln und unter welchen Voraussetzungen
die Pflege im Vordergrund steht. Im Urteil vom 24.09.2002 (a.a.O.) nennt der 3. Senat in
diesem Zusammenhang beispielhaft (nur) den einfachen Schieberollstuhl zum
Transport im Heim und das Pflegebett. Im Urteil vom 06.06.2002 (a.a.O) führt er
dagegen aus, es spreche einiges dafür, auch solche Gegenstände der Heimausstattung
zuzurechnen, bei denen zwar noch ein gewisser Behinderungsausgleich zu erkennen
sei, ganz überwiegend aber die Pflege im Vordergrund stehe, weil eine
Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nicht mehr möglich sei,
eine Rehabilitation damit nicht mehr stattfinde. In diesem Zusammenhang schränkt er
seine Aussage im Urteil vom 10.02.2000 (a.a.O.), dass Rollstuhlfahrer, die das Heim
nicht mehr verlassen, vom Heim mit einem Rollstuhl auszustatten seien, dahin ein, dass
dies nicht für Menschen gelte, die ihre Wege und Aufenthaltsorte innerhalb des Heimes
noch selbst bestimmten.
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Der Senat hält es für zutreffend, dass ungeachtet eines Heimaufenthalts die
Krankenkassen den Versicherten die Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen haben, die
wesentlich der Befriedigung von Grundbedürfnissen dienen. Das ist hier hinsichtlich des
Lagerungsrollstuhls der Fall, auch wenn die Klägerin sich nicht mehr aktiv am
Gemeinschaftsleben beteiligen konnte. Sollten die Ausführungen des 3. Senats im Urteil
vom 06.06.2002 (a.a.O.) so zu verstehen sein, dass bei Versicherten, die aktiv am Leben
in der Gesellschaft nicht mehr teilnehmen können, immer die Pflege im Vordergrund
stehe, könnte der Senat dem nicht folgen. Auch wenn mangels Erfolgsaussicht keine
Rehabilitation mehr in Betracht kommt, bedeutet dies nicht, dass damit das
Grundbedürfnis auf Teilnahme am gesellschaftlichen Leben entfallen wäre. Auch die
Gruppe der geistig verwirrten oder hirnorganisch geschädigten Versicherten hat
Anspruch auf ein Zusammensein mit anderen und eine Teilhabe an gesellschaftlichen
Veranstaltungen. Der Senat hält es für den Leistungsanspruch für irrelevant, ob die
Klägerin selbst noch über die Wege und Aufenthaltsorte im Heim entscheiden konnte
oder vom Pflegepersonal bzw. ihren Angehörigen mit Mitbewohnern
zusammengebracht worden ist. Ein sachlicher Grund dafür, die Leistungspflicht der
Krankenkasse für einen im individuellen Fall erforderlichen Rollstuhl zu bejahen, wenn
der Versicherte geistig noch in der Lage ist, den zurückzulegenden Weg selbst zu
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bestimmen, aber zu verneinen, wenn diese geistige Fähigkeit nicht mehr vorhanden ist,
ist nicht erkennbar. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Aussage des Zeugen V ...,
dass die Klägerin jedenfalls im Zeitpunkt der Beschaffung des Rollstuhls noch mehrfach
wöchentlich vormittags und nachmittags für jeweils 1 bis 1 1/2 Stunden mittels des
Rollstuhls in den Gemeinschaftsraum gebracht werden konnte und darüber hinaus ihr
Sohn mit ihr auch noch die Cafeteria und den Garten des Pflegeheimes aufgesucht hat.
Auch wenn die Klägerin aktiv mit anderen nicht mehr kommunizieren konnte, hat sie
doch nach Aussage des Zeugen sichtbar durch ihre Mimik auf die Anwesenheit anderer
Personen reagiert. Die - wenn auch eingeschränkte - Teilnahme am Leben im Heim war
ihr nur mittels des in Frage stehenden Rollstuhls möglich. In einem Standardrollstuhl
konnte sie nach der Bekundung des Zeugen V ... ihr Körpergewicht nicht halten (das
hatte auch schon Dr. B ... im Gutachten vom 09.10.2000 eingeräumt). Auch wenn der
Rollstuhl nicht im Sinne des Urteils vom 10.02.2000 (a.a.O.) als individuell angepasstes
Hilfsmittel anzusehen ist, ist er doch speziell an die Bedürfnisse der Klägerin angepasst
worden und ist für keinen weiteren Heimbewohner einsetzbar, so dass die Klägerin
eines eigenen Rollstuhls bedurfte. Es bedarf keiner näheren Begründung, das
angesichts der erforderlichen Umrüstzeit von 60 bis 75 Minuten es nicht möglich war,
jeweils im Einzelfall ein Grundmodell an die Bedürfnisse der Klägerin anzupassen.
Rollstuhl und Fixationsweste waren somit zur Herstellung der Mobilität und zur
Ermöglichung eines Aufenthalts in Gesellschaft erforderlich. Dass, wie es im Gutachten
des MDK vom 13.01.2000 heißt, die Pflegeerleichterung im Vordergrund gestanden
haben soll, vermag der Senat nicht zu erkennen, denn die Pflege hätte auch im Bett
durchgeführt werden können.
Auch das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V) steht dem Anspruch nicht entgegen. Ob
dann, wenn der körperliche Zustand nur noch sporadisch die Benutzung des Rollstuhls
erlaubt, unter dem Gesichtspunkt einer Kosten- Nutzen-Relation (s. jetzt aber
neuerdings BSG, Urteil vom 06.06.2002 - B 3 KR 68/02 R -) ein Leistungsanspruch
ausscheidet, kann dahinstehen, denn zu dem für den Freistellungsanspruch
maßgebenden Zeitpunkt der Selbstbeschaffung (Juli 2001) konnte die Klägerin nach
den Bekundungen des Zeugen V ... den Rollstuhl noch in einem erheblichen Umfang
nutzen. Dass speziell die Anschaffung dieses Rollstuhltyps unwirtschaftlich gewesen
wäre, ist nicht ersichtlich; Dr. B ... hat ihn in seinem Gutachten vielmehr als einen der
geeigneten Typen genannt. Ob die Beklagte den Rollstuhl hätte günstiger erwerben
(oder der Klägerin einen anderen geeigneten Rollstuhl leihweise zur Verfügung stellen)
können, ist irrelevant, da im Rahmen des § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. SGB V die Beklagte
die dem Versicherten in Folge ihrer Ablehnung entstandenen notwendigen Kosten zu
tragen hat, auch wenn diese über den "Kassensätzen" liegen (vgl. KassKomm-Höfler, §
13 SGB V Rdn. 12). Die Höhe der geltend gemachten Kosten ergibt sich aus der von der
Klägerin vorgelegten Rechnungskopie.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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Der Senat hat dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung beigemessen, da er die
Rechtslage hinsichtlich der Leistungspflicht der Krankenkassen für Hilfsmittel bei
vollstationärer Pflege für klärungsbedürftig hält und daher die Revision zugelassen (§
160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
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