Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 19.11.2001

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Landessozialgericht NRW, L 5 KR 137/01
Datum:
19.11.2001
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 5 KR 137/01
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 7 RJ 160/98
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 12 KR 36/01 B
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufungen gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom
23.07.2001 werden als unzulässig verworfen. Kosten sind nicht zu
erstatten.
Gründe:
1
Gegenstand des Verfahrens ist die Versicherungs- und Beitragspflicht von
Rundfunkgebührenbeauftragten.
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Die Beklagte hat nach einer Betriebsprüfung bei der klagenden Rundfunkanstalt mit
Bescheid vom 12.12.1997 und Widerspruchsbescheid vom 30.07.1998 festgestellt, dass
die von der Klägerin eingesetzten Rundfunkgebührenbeauftragten, die sie als
Selbständige angesehen hat, versicherungspflichtige Beschäftigte seien; für den
Zeitraum vom 01.01.1993 bis 30.06.1997 sind Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von
rund 9,5 Millionen DM festgesetzt worden. Die Feststellungen der Beklagten betreffen
ca. 130 Personen, darunter die Berufungskläger. Das Sozialgericht hat im
Klageverfahren die von der Entscheidung betroffenen Sozialversicherungsträger und
Einzugsstellen, nicht jedoch die betroffenen Gebührenbeauftragten beigeladen. Die
jetzigen Berufungsführer hatten mit Schreiben vom 10.03.2001 ihre Beiladung
beantragt.
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Nach Beweiserhebung hat das Sozialgericht mit Urteil vom 27.03.2000 den Bescheid
der Beklagten aufgehoben, weil entgegen deren Auffassung die Gebührenbeauftragten
nicht abhängig beschäftigt gewesen seien. Die Urteile sind den am Verfahren
Beteiligten zwischen dem 20.04. und 25.04.2001 zugestellt worden; keiner der
Beteiligten hat Rechtsmittel eingelegt.
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Die Berufungsführer haben am 25.05.2001 "Beschwerde" bzw. Berufung beim
Sozialgericht eingelegt, da ihr Antrag auf Beiladung nicht beschieden worden sei. Auf
die Mitteilung der Kammervorsitzenden, dass sie nicht Beteiligte des Verfahrens seien
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und daher nicht Berufung einlegen könnten, haben sie am 06. bzw. 07.06.2001
"Beschwerde" gegen den "Bescheid" des Sozialgerichts beim Landessozialgericht
Nordrhein-Westfalen eingelegt (Az.: L 4 AR 1/01). Dieses Verfahren haben sie im
Erörterungstermin am 30.07.2001 für erledigt erklärt, nachdem sie die Erklärung
abgegeben hatten, sie wollten noch nachträglich zu dem Verfahren beigeladen werden.
Mit Beschluss vom 24.08.2001 hat das Sozialgericht "aufgrund der rechtlichen Hinweise
des LSG NRW vom 30.07.2001" die Berufungsführer gemäß § 75 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG) beigeladen und insoweit das Rubrum des Urteils vom
27.03.2001 "ergänzt bzw. berichtigt".
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Der Beschluss ist den Berufungsklägern mit dem Hinweis zugestellt worden, dass sie
nunmehr die Möglichkeit hätten, Berufung einzulegen. Beide haben am 18.09.2001
Berufung gegen das Urteil vom 27.03.2001 eingelegt.
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Mit Schreiben vom 02.10.2001 hat der Senat die Berufungsklägern und die übrigen
Beteiligten darauf hingewiesen, dass eine Beiladung nach Rechtskraft des Urteils nicht
möglich sei und somit die von den Berufungsführern eingelegten Berufungen mangels
Erlangung des Status eines Beteiligten des Verfahrens unzulässig seien. Beide haben
die Auffassung vertreten, da ihr Beiladungsantrag nicht beschieden worden sei, könne
die angefochtene Entscheidung nicht rechtskräftig geworden sein, so dass das
Sozialgericht sie noch habe nachträglich beiladen können.
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II.
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Gemäß § 158 SGG kann der Senat die unzulässige Berufung durch Beschluss
verwerfen; diese Vorschrift greift in allen Fällen der Unzulässigkeit der Berufung ein
(Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl., § 158 Rdn. 4).
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Die Berufungen sind unzulässig, weil die Berufungsführer gegen das Urteil kein
Rechtsmittel einlegen können. Rechtsmittelberechtigt sind nur der Beteiligte der
Vorinstanz, dazu zählen Kläger, Beklagte und Beigeladene (§ 69 SGG). Die Stellung
von Verfahrensbeteiligten haben die Berufungsführer im ersten Rechtszug tatsächlich
nicht erlangt. Zwar kann bei einem Streit über das Bestehen der Versicherungspflicht
die Entscheidung gegenüber Arbeitgeber und Versicherten nur einheitlich ergehen, so
dass jeweils der andere notwendig beizuladen ist (§ 75 Abs. 2 SGG, vgl. Meyer-
Ladewig, § 75 Rdn. 10a). Tatsächlich sind die Berufungsführer aber nicht beigeladen
worden. Es kann auch derjenige keine Berufung einlegen, dessen Beiladung unter
Verletzung des § 75 Abs. 2 SGG unterblieben ist (vgl. Zeihe, SGG, § 75 Rdn. 5b; s.a.
OVG Münster NWVBL. 1991, 241).
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Die Berufungskläger haben den Status eines Beteiligten auch nicht durch den
Beschluss vom 24.08.2001 erlangt. Eine Beiladung ist nur so lange möglich, als das
Verfahren noch anhängig ist (vgl. Meyer-Ladewig, § 75 Rdn. 5a; Zeihe, § 75 Rdn. 4b; so
ausdrücklich § 65 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO); s.a. VGH Mannheim
NVwZ 1986, 141). Wird der - konstitutive - Beiladungsbeschluss erst nach Ablauf der
Rechtsmittelfrist eines Urteils zugestellt, ist er unwirksam und damit die Beiladung
gegenstandslos, auch wenn die Beiladung schon während des Verfahrens beantragt
worden war (Meyer-Ladewig, § 75 Rdn. 5c; Zeihe, § 75 Rdn. 5c).
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So liegt es hier. Das Urteil ist den im ersten Rechtszug Beteiligten zwischen dem 20.04.
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und 25.04.2001 zugestellt worden; keiner von ihnen hat ein Rechtsmittel eingelegt. Ob
es am 25.05.2001 noch möglich gewesen wäre, die Berufungsführer beizuladen, als sie
"Beschwerde" einlegten (was vorausgesetzt hätte, dass noch am gleichen Tag die
Zustellung hätte bewirkt werden können), kann dahinstehen. Bereits zum Zeitpunkt der
beim Landessozialgericht erhobenen "Beschwerde" war das Urteil (formell) rechtskräftig
und somit eine Beiladung nicht mehr möglich.
Eine andere rechtliche Beurteilung ist auch nicht zur Wahrung von Rechten der
Berufungsführer geboten. Zwar machen sie zu Recht geltend, sie hätten nicht die
Möglichkeit gehabt, als Betroffene auf das Verfahren inhaltlich Einfluss zu nehmen. Im
Unterlassen einer notwendigen Beiladung liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs
(Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG)) zu Lasten des übergangenen Dritten. Dessen
Rechtsposition wird aber dadurch gewahrt, dass das Urteil ihm gegenüber keine
(materielle) Rechtskraft erlangt, da diese Wirkung nur gegenüber den am Verfahren
Beteiligten eintritt (§ 141 Abs. 1 SGG). Ein unter Verstoß gegen § 75 Abs. 2 SGG
ergangenes Urteil erwächst daher nicht in materielle Rechtskraft und bleibt jedenfalls
gegenüber dem nicht beigeladenen Dritten wirkungslos (allg. Meinung, vgl. BSGE 51,
89, 91; BVerwGE 16, 23, 25; 104, 182, 184; OVG Münster a.a.O.; Meyer-Ladewig, § 75
Rdnr. 13f; Zeihe, § 75 Rdnr. 13c; Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl., § 65 Rdnr. 43). Somit
sind die Rundfunkgebührenbeauftragten an die Entscheidung des Sozialgerichts nicht
gebunden; ihnen gegenüber können sich weder die Klägerin noch die Beklagte oder die
Einzugsstellen auf die Rechtskraft berufen.
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Angesichts dieser Konsequenz ist die vom BSG in ständiger Rechtsprechung geäußerte
Auffassung, Massenbeiladungen seien im sozialgerichtlichen Verfahren nicht
erforderlich, weil sie zu einer Blockierung des Verfahrens führten (vgl. zuletzt BSG SozR
3-8110 Kap. VIII H III Nr. 1 Nr. 2 mit Nachweisen der Rechtsprechung) in Verfahren, in
denen es um die Versicherungspflicht geht, nicht praktikabel (vgl. auch Zeihe, § 75 Rdn.
13a hh). Mit einer Ausnahme betraf diese Spruchpraxis auch Fälle, in denen es um die
Zuständigkeit von Versicherungsträgern ging. Lediglich in der Entscheidung vom
08.04.1992 (BSG USK 92148) ging es um Beitragsansprüche, dort allerdings im
Rahmen des Konkursausfallgeldes (§ 141n Abs. 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) a.F.).
Im Hinblick auf die ab 02.01.2002 geltende Einfügung eines Abs. 2a in § 75 SGG (Art. 1
Nr. 30 c des Sechsten SGB-Änderungsgesetzes vom 17.08.2001 (BGBl. I, 2144)), mit
der in Anlehnung an die Vorschriften der VwGO die Massenbeiladung (einschließlich
der Rechtskrafterstreckung in § 141 Abs. 1 Nr. 2 SGG n.F.) geregelt worden ist, braucht
letztlich die oben aufgeworfene Frage nicht beantwortet zu werden. Es hätte jedenfalls
nahegelegen, einige der betroffenen Gebührenbeauftragten beizuladen (wie es etwa in
Zuständigkeitsstreitigkeiten praktiziert worden ist, s. etwa BSG USK 9602), damit
wenigstens ihnen gegenüber ein bindendes (Teil-)Urteil ergehen konnte. Es war aber in
jedem Fall nicht möglich, die Beiladung nach (formeller) Rechtskraft der Entscheidung
"nachzuholen".
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Der Senat kann nachvollziehen, dass für die Berufungsführer als juristische Laien der
Geschehensablauf kaum verständlich ist und sie Unmut darüber geäußert haben, dass
auf ihren Beiladungsantrag (der trotz des unzutreffenden Zusatzes, als Zeuge
beigeladen werden zu wollen, eindeutig auf eine Beteiligung nach § 75 Abs. 2 SGG
zielte) keine Reaktion des Gerichts erfolgte. Soweit das Sozialgericht die Beiladung mit
den "rechtlichen Hinweisen des LSG NRW vom 30.07.2001" begründet hat, ergeben
sich weder aus der Sitzungsniederschrift noch dem sonstigen Akteninhalt Anhaltspunkte
für entsprechende Hinweise, die im übrigen weder die gesetzlichen Voraussetzungen
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für eine wirksame Beiladung ersetzen könnten noch eine eigene Prüfung der
Rechtslage durch das Sozialgericht entbehrlich gemacht haben würden. Sollte im
Erörterungstermin am 30.07.2001 die - nach den oben zitierten Nachweisen -
unzutreffende Ansicht vertreten worden sein, über die Beiladung könne jetzt noch
entschieden werden, mag dies bei den Berufungsführern Hoffnungen geweckt haben,
die sie jetzt enttäuscht sehen. Sie mögen insoweit bedenken, dass auch einem Gericht
ein Fehler unterlaufen kann. Der Senat hält es auch für wenig hilfreich, wenn die
Betroffenen an ihren eigenen laienhaften Vorstellungen von der Rechtslage festhalten
und diese wiederholen, offenkundig ohne sich von sachkundiger Stelle Rat geholt zu
haben und ohne auf die Hinweise des Senats einzugehen.
Im Hinblick auf die letzte Stellungnahme der Berufungsführer sieht sich der Senat zu
dem Hinweis veranlasst, dass die Berufungsführer vor den von ihnen angekündigten
weiteren rechtlichen Schritten bedenken mögen, ob sie ihrem Ziel, eine Klärung ihres
Status herbeizuführen, nicht auf anderem Weg rascher und zuverlässiger nahekommen.
Wie oben dargelegt, bindet die ergangene Entscheidung die Berufungsführer im
Verhältnis zur Klägerin oder Beklagten nicht. Geht man davon aus, dass ein
Gestaltungsurteil bei unterbliebener notwendiger Beiladung schlechthin unwirksam ist,
weil die Gestaltungswirkung - hier: die Aufhebung des Bescheides vom 12.12.1997 -
gegenüber den am Verfahren nicht beteiligten Mitbetroffenen nicht eintreten kann (so die
wohl h.L.: Meyer- Ladewig, § 75 Rdn. 13g; Biel in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner,
VwGO, § 65 Rdn. 40; Redeker/von Oertzen, VwGO, 12. Aufl., § 65 Rdn. 22;
Kopp/Schenke, a.a.O.; Eyermann/J. Schmidt, VwGO, 11. Aufl., § 65 Rdn. 19), wäre der
Bescheid vom 12.12.1997 noch wirksam, so dass die Berufungsführer von der
zuständigen Einzugsstelle (d.h. der für sie zuständigen Krankenkasse, § 28i Viertes
Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV)) die Beitreibung der festgesetzten Beiträge fordern
könnten. Nimmt man an, dass zwar aufgrund des Urteils vom 27.03.2001 der Bescheid
aufgehoben ist, jedoch die betroffenen Gebührenbeauftragten nicht gebunden sind (so
wohl Zeihe, § 75 Rdn. 13c; wohl auch BVerwG DVBl. 1974, 235), können sie jedenfalls
von der Einzugsstelle eine Entscheidung über das Bestehen von Versicherungspflicht
verlangen. Der Senat vermag darüber hinaus nicht zu erkennen, weshalb die Beklagte
nicht zu einer nochmaligen Entscheidung im Rahmen des § 28 Abs. 1 Satz 5 SGB IV
verpflichtet sein soll, wenn ihre frühere Entscheidung im Rahmen der
Arbeitgeberprüfung keine materielle Bestandskraft im Verhältnis zu allen Betroffenen
erlangt hat. Wenn die Beklagte im Schriftsatz vom 25.10.2001 die Auffassung vertritt, sie
sei nur im Rahmen einer Betriebsprüfung tätig geworden, so dass durch sie eine
neuerliche Überprüfung nicht stattfinde, übersieht sie, dass diese Prüfung gerade nicht
zu der von § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV geforderten Klärung der Rechtslage geführt hat.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
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Angesichts der eindeutigen Rechtslage liegen Gründe für die Zulassung der Revision
nicht vor, insbesondere hat der Rechtsstreit keine grundsätzliche Bedeutung.
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