Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 19.12.2002

LSG NRW: unechte rückwirkung, beitragspflichtige beschäftigung, arbeitslosenversicherung, aktiven, arbeitsförderung, anschluss, gesetzesänderung, abschaffung, arbeitslosigkeit, eigentumsgarantie

Landessozialgericht NRW, L 1 AL 73/00
Datum:
19.12.2002
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 1 AL 73/00
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 19 AL 165/00
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 11 AL 15/03 R
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Düsseldorf vom 13. Oktober 2000 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Der 1978 geborene Kläger begehrt (originäre) Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom
01.02. bis 31.07.2000.
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Er leistete vom 01.03. bis 31.12.1998 den Grundwehrdienst und erwarb hierdurch mit
seiner Arbeitslosmeldung am 07.01.1999 einen Anspruch auf die sogenannte originäre
Alhi nach den §§ 190, 191 Abs. 2 Nr. 2 des 3. Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB III)
in der bis 31.12.1999 gültigen Fassung. Vom 01.06.1999 bis 31.01.2000 war er
versicherungspflichtig beschäftigt. Am 31.01.2000 meldete sich der Kläger erneut
arbeitslos. Den Antrag auf Alhi für die Zeit ab 01.02.2000 lehnte die Beklagte mit
Bescheid vom 21.02.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
16.06.2000 mit der Begründung ab, der allein in Betracht kommende Anspruch auf
originäre Alhi sei durch das 3. Gesetz zur Änderung des 3. Buches des
Sozialgesetzbuchs (3. SGB III - Änderungsgesetz) vom 22.12.1999 (BGBl I 2624) mit
Wirkung ab 01.01.2000 entfallen. Die (nur) achtmonatige versicherungspflichtige
Beschäftigung des Klägers sei daher nicht anwartschaftsbegründend.
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Die dagegen gerichtete Klage vom 21.06.2000 hat das Sozialgericht durch
Gerichtsbescheid vom 13.10.2000 abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe wird
Bezug genommen.
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Gegen den ihm am 25.10.2000 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am
14.11.2000 Berufung eingelegt. Er macht geltend, mit der von ihm ab 01.06.1999
ausgeübten achtmonatigen versicherungspflichtigen Beschäftigung habe er nach § 191
Abs. 1 Nr. 2 SGB III in der bis 31.12.1999 gültigen Fassung die Vorfrist für den Anspruch
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auf originäre Alhi erfüllt. Der Wegfall dieser Anwartschaft durch das 3. SGB III -
Änderungsgesetz vom 22.12.1999 sei wegen Verstoßes gegen die Eigentumsgarantie
des Artikel 14 Abs. 1 Grundgesetz (GG) und das Rückwirkungsverbot des Artikel 20
Abs. 3 GG verfassungswidrig.
Der Kläger, der seit dem 01.08.2000 in einem betrieblichen Ausbildungsverhältnis steht,
beantragt,
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den Gerichtsbescheid des Sozialgericht Düsseldorf vom 13.10.2000 zu ändern und die
Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 21.02.2000 und des
Widerspruchbescheides vom 16.06.2000 zu verurteilen, ihm Alhi für die Zeit vom 01.02.
bis 31.07.2000 zu bewilligen, hilfsweise den Rechtsstreit nach Artikel 100 GG
auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält den Gerichtsbescheid für zutreffend.
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Der Kläger hat dem Senat auf Befragen versichert, er sei in der streitigen Zeit vom
01.02. bis 31.07.2000 mittellos gewesen. Er habe bei seiner Mutter gewohnt, die ihn
unterstützt und deshalb einen Kredit aufgenommen habe. Er sei nicht erwerbstätig
gewesen. Der Vertreter der Beklagten hat erklärt, nach den Unterlagen des
Arbeitsvermittlers sei davon auszugehen, dass der Kläger im fraglichen Zeitraum
ununterbrochen arbeitslos gewesen sei und der Arbeitsvermittlung zur Verfügung
gestanden habe.
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Zur weiteren Sachverhaltsdarstellung und bezüglich des Vorbringens der Beteiligten im
Einzelnen wird auf die Prozessakte und die Leistungsakte der Beklagten Bezug
genommen. Der Inhalt dieser Akten ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide sind
rechtmäßig, denn der geltend gemachte Anspruch auf Alhi steht dem Kläger nicht zu.
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Die Voraussetzungen der für die Zeit vom 01.02. bis 31.07.2000 beanspruchten
Leistungen bestimmen sich nach § 190 Abs. 1 SGB III in der seit dem 01.01.2000
gültigen Fassung des 3. SGB III - Änderungsgesetzes vom 22.12.1999. Danach haben
Anspruch auf Alhi Arbeitnehmer, die 1. arbeitslos sind, 2. sich beim Arbeitsamt
arbeitslos gemeldet haben, 3. einen Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht haben, weil sie
die Anwartschaftszeit nicht erfüllt haben, 4. in der Vorfrist Arbeitslosengeld bezogen
haben, ohne dass der Anspruch wegen des Eintritts von Sperrzeiten mit einer Dauer von
insgesamt 24 Wochen erloschen ist und 5. bedürftig sind.
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Der Kläger erfüllte nach den Feststellungen des Senats im genannten Zeitraum zwar die
Tatbestandsmerkmale der Ziffern 1, 2, 3 und 5. Nicht gegeben ist hingegen die in Ziffer 4
genannte Voraussetzung, denn der Kläger bezog in der einjährigen Vorfrist (§ 192 Satz
1 SGB III) kein Arbeitslosengeld. Seine achtmonatige versicherungspflichtige
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Beschäftigung vom 01.06.1999 bis 31.04.2000 begründet den Anspruch auf (originäre)
Alhi seit dem 01.01.2000 nicht mehr. Die entsprechenden Vorschriften der §§ 190 Abs. 1
Nr. 4, 191 Abs. 2 Nr. 2 SGB III sind mit dem Inkrafttreten des 3. SGB III -
Änderungsgesetzes entfallen. Die Novellierung bezieht sich nicht nur auf
versicherungspflichtige Beschäftigungen nach dem 01.01.2000. Sie erfasst vielmehr
auch Anwartschaften, die bis zum 31.12.1999 erworben worden sind. Lediglich den
Arbeitslosen, die bereits in den letzten drei Monaten vor dem Inkrafttreten der
Gesetzesänderung mindestens für einen Tag die originäre Alhi bezogen hatten, sollte
diese Leistung aus Gründen des Vertrauensschutzes für eine dreimonatige
Übergangszeit weiter gezahlt werden (§ 434 b Abs. 1 SGB III). Weitergehende
Übergangsvorschriften hat der Gesetzgeber nicht erlassen.
Der Kläger kann auch nicht die Wiederbewilligung des am 07.01.1999 entstandenen
Anspruchs auf originäre Alhi verlangen. Er hatte zwar zum Zeitpunkt der
Arbeitsaufnahme am 01.06.1999 die Anspruchsdauer von einem Jahr (§ 197 SGB III in
der bis 31.12.1999 gültigen Fassung) noch nicht ausgeschöpft. Auch die auf Zeiten des
Wehrdienstes beruhende originäre Alhi nach §§ 190, 191 Abs. 2 Nr. 2 SGB III a. F. ist
aber mit dem Inkrafttreten des 3. SGB III - Änderungsgesetzes am 01.01.2000 entfallen.
Die Voraussetzungen der bereits genannten Übergangsvorschrift des § 434 b Abs. 1
SGB III erfüllt der Kläger nicht, weil er in der Zeit vom 01.10. bis 31.12.1999 keinen
Anspruch auf Alhi hatte.
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Die dargelegten Bestimmungen des 3. SGB III - Änderungsgesetzes sind mit dem
Grundgesetz vereinbar.
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Der Schutzbereich der Eigentumsgarantie des Artikel 14 Abs. 1 GG ist nicht berührt, weil
die Alhi - anders als das Arbeitslosengeld - nicht aus den Beiträgen zur
Arbeitslosenversicherung, sondern aus Steuermitteln finanziert wird
(Bundessozialgericht - BSG -, Urteile vom 12.12.1985 - 7 RAr 75/84, SozR 4100 § 134
Nr. 29 -, vom 12.06.1992 - 11 RAr 75/91, SozR 3-4100 § 138 Nr. 7 -, vom 08.07.1993 - 7
RAr 64/92, SozR 3-4100 § 118 Nr. 4 -, vom 25.06.1998 - B 7 AL 128/97 R und 2/98 R,
SozR 3-4100 § 242 Nr. 1 - sowie vom 05.11.1998 - B 11 AL 7/98 R -; ebenso Urteil des
Senats vom 12.12.2002 - L 1 (9) AL 243/01 -; offen geblieben im Urteil des BSG vom
29.01.1997 - 11 RAr 43/96, SozR 3-4100 § 242 q Nr. 1 - und im Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 14.03.2001 - 1 BvR 2402/97, SozR 3-4100 § 242 q Nr.
2). Dies galt auch für den Anspruch auf originäre Alhi nach §§ 190 Abs. 1, 191 Abs. 1 Nr.
2 SGB III in der bis 31.12.1999 gültigen Fassung. Er knüpfte zwar an eine mindestens
fünfmonatige versicherungspflichtige Beschäftigung an.
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Gleichwohl ging auch diese Art von Alhi nicht - wie für den Eigentumsschutz
sozialrechtlicher Rechtspositionen vorausgesetzt - unmittelbar auf eine eigene
Beitragsleistung des Betroffenen zurück, sondern wurde ausschließlich aus
Steuermitteln finanziert.
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Der Eingriff in die Rechtsposition des Klägers ist an den Schranken des Rechts- und
Sozialstaatsprinzips (Artikel 20 GG) zu messen, die der Gesetzgeber hier aber nicht
verletzt hat. Die Alhi enthält Elemente einer Fürsorgeleistung, so dass beim Wegfall
dieses Anspruchs das dem sodann Bedürftigen zustehende Recht auf
Sozialhilfeleistungen grundsätzlich einen angemessenen Ausgleich gewährleistet (BSG
a.a.O.). Der Bezieher von Alhi muss daher mit entwertenden Eingriffen des
Gesetzgebers nicht nur in die Höhe, sondern auch in den Bestand seines Anspruchs
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rechnen, die aus übergeordneten öffentlichen Interessen erfolgen (BSG a.a.O.).
Letzteres ist hier der Fall. Das 3. SGB III - Änderungsgesetz stellt den zweiten Teil des
ursprünglich in einem einzigen Gesetzesentwurf (Haushaltssanierungsgesetz, BT-Drs.
14/1523) zusammengefassten "Sparpakets" dar, dessen Ziel es war, der defizitären
Finanzlage des Bundes bei anhaltend hoher Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken. Hierzu
heißt es in den Materialien (a.a.O. Seite 205 zu Artikel 27 - Allgemeines -, Seite 206 zu
Artikel 27 Nrn. 8 - § 190 - und 9 - § 191 - sowie Seite 207 zu Artikel 27 Nr. 19 - § 434 a
Abs. 2 -), die unumgängliche Sanierung des Bundeshaushalts erfordere die solidarische
Kraftanstrengung der ganzen Gesellschaft. Zu den notwendigen
Konsolidierungsmaßnahmen müssten daher auch die sozialen Sicherungssysteme
Arbeitslosenversicherung und Alhi einen Beitrag leisten. Ziel sei es weiterhin, Arbeit
statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Deshalb werde auf Eingriffe bei den Leistungen der
aktiven Arbeitsförderung verzichtet und stattdessen vorgeschlagen, lediglich begrenzte
Eingriffe bei den Entgeltersatzleistungen vorzunehmen. Unter anderem werde die Alhi
für Personen, die bislang entweder überhaupt nicht oder nur kurze Zeit als Arbeitnehmer
tätig gewesen seien, abgeschafft. Es erscheine nicht mehr vertretbar, Arbeitslosen, die
vorher keinen oder nur einen kurzzeitigen Bezug zur Arbeitslosenversicherung gehabt
hätten, Alhi und damit den vollen Zugang zu den beitragsfinanzierten Leistungen der
aktiven Arbeitsförderung zu gewähren. Bei Bedürftigkeit der von der Abschaffung der
originären Alhi betroffenen Personen werde, soweit keine besonderen Regelungen
bestünden, künftig der Lebensunterhalt durch Leistungen nach dem
Bundessozialhilfegesetz sicher gestellt. Anspruch auf Alhi solle nur noch Arbeitslosen
zustehen, die in der Vorfrist Arbeitslosengeld bezogen hätten. Der Anspruch auf Alhi
aufgrund einer Beschäftigung von mindestens fünf Monaten, einer gleichgestellten Zeit
insbesondere als Beamter, Richter oder Soldat und des Bezugs bestimmter
Sozialleistungen, insbesondere einer Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit, solle entfallen.
Lediglich Arbeitslosen, die in den letzten drei Monaten vor dem Inkrafttreten der
Gesetzesänderung mindestens für einen Tag Anspruch auf originäre Alhi gehabt hätten,
solle diese Leistung aus Gründen des Vertrauensschutzes für eine dreimonatige
Übergangszeit weitergezahlt werden. Damit solle es den Betroffenen ermöglicht
werden, sich auf die neue Rechtslage einzustellen.
Die übergeordneten öffentlichen Interessen für den Wegfall der originären Alhi sind
damit ausreichend dargelegt. Sie rechtfertigen auch die (hier nur "unechte")
Rückwirkung der Neuregelung, die ein möglichst rasches Greifen der Maßnahmen
gewährleistet. Ob gerade die vom Gesetzgeber gewählten Sparmaßnah men
erforderlich waren oder das Sparziel durch Einsparungen bzw. Kürzungen in anderen
Bereichen hätte verwirklicht werden können, ist nicht zu prüfen, denn Entscheidungen
dieser Art liegen in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers (Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 15.07.1987 - 1 BvR 488/86, SozR 4100 § 242 b Nr. 3 -
). Ähnliche rechtliche Überlegungen haben das Bundesverfassungsgericht veranlasst,
die zeitliche Anspruchsbegrenzung der bis dahin unbefristeten originären Alhi auf ein
Jahr durch das Erste Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und
Wachstumsprogramms (1. SKWPG) vom 21.12.1993 als verfassungsgemäß anzusehen
(Beschluss vom 14.03.2001 a.a.O.).
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Es verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Artikel 3 Abs. 1 GG,
dass die Alhi im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosengeld - anders als die
originäre Alhi - unangetastet geblieben ist. Die Bevorzugung der Empfänger der
Anschluss-Alhi ist sachlich gerechtfertigt, weil deren Leistungsanspruch an eine
Versicherungsleistung anschließt, die eine beitragspflichtige Beschäftigung von
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mindestens zwölf Monaten voraussetzt. Dem gegenüber knüpft die originäre Alhi an
Beschäftigungszeiten an, die für den Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht ausreichen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Der Senat hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechts sache
zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Die Frage der Vereinbarkeit der Abschaffung der
originären Alhi mit dem Grundgesetz ist bereits Gegenstand der Revisionsverfahren B
11 AL 63/02 und 73/02.
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