Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 17.03.2004

LSG NRW: rechtsverletzung, aufsichtsbehörde, aufschiebende wirkung, versicherungsträger, feststellungsklage, abrede, abgabe, vergleich, beratung, form

Landessozialgericht NRW, L 17 U 19/02
Datum:
17.03.2004
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
17. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 17 U 19/02
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 6 U 154/97
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufungen des Beklagten und der Beigeladenen gegen das Urteil
des Sozialgerichts Düsseldorf vom 30. Oktober 2001 werden
zurückgewiesen. Die Feststellungsklage der Beigeladenen wird
abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines vom Beklagten erlassenen
Verpflichtungsbescheides.
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Die Beigeladene, die frühere Ausführungsbehörde für Unfallversicherung (UV) des
Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) und jetzige Landesunfallkasse, wurde gemäß §
655 Abs. 1 der damals geltenden Reichsversicherungsordnung (RVO) i.V.m. § 653 Abs.
1 Nr. 1 RVO mit der Übernahme der Städtischen Krankenanstalten B zum 01.01.1966 in
die Rheinisch-Westfälische-Technische Hochschule (RWTH) B und dem Übergang der
Textilingenieurschulen L und N zum 01.07.1965 bzw. 1.08.1971 in die Trägerschaft des
Landes NRW zuständiger Träger der gesetzlichen UV für die vorgenannten
Einrichtungen. Bis zu diesen Zeitpunkten war der Kläger zuständiger UV-
Versicherungsträger gewesen. In der Folgezeit stritten der Kläger und die Beigeladene
gerichtlich darüber, wer die auf den genannten Einrichtungen ruhenden Unfallaltlasten
zu übernehmen hat. Zwar hatte die Beigeladene vor Rechtshängigkeit dem Begehren
auf Übernahme dieser Fälle und Erstattung der bis dahin dem Kläger entstandenen
Aufwendungen entsprochen. Jedoch hatte dieser in der Annahme, doch zuständig zu
sein, die Fälle anschließend wieder zurückgenommen und der Beigeladenen die
erstatteten Beträge zurückgezahlt, bevor er schließlich zu der Auffassung gelangt war,
dass die Beigeladene nicht berechtigt gewesen sei, die einmal übernommenen Fälle
wieder zurückzugeben. Diese Ansicht hatte auch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit
und Soziales des Landes NRW, die damalige gemeinsame Aufsichtsbehörde, vertreten.
Die gerichtliche Auseinandersetzung hatte am 30.07.1987 begonnen, als der Kläger
gegen die Beigeladene Klage beim Sozialgericht (SG) Düsseldorf - S 16 U 156/87 - mit
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dem Antrag erhob festzustellen, dass die Beigeladene der zuständige UV-Träger für
sämtliche vor der Übernahme durch das Land in den Städtischen Krankenanstalten B
und der früheren Textilingenieurschule L aufgetretenen Unfälle sei. Insgesamt handelte
es sich um 28 aufgelistete Entschädigungsfälle. Später wurde die Klage durch die
Einbeziehung weiterer 15 Entschädigungsfälle - die Polizei betreffend - erweitert.
Entsprechend der damaligen Abrede der Beteilgten, sich auf die Durchführung von 14
Präzedenzverfahren zu beschränken (s. Schriftsatz der Beigeladenen vom 13.01.1989),
trennte das SG die Präzedenzfälle in der Weise vom bisherigen Streitverfahren ab, dass
in ihnen unter neuen Aktenzeichen in getrennten Verfahren weiterverhandelt wurde.
Unter dem 07.12.1990 gab die Beigeladene Teilanerkenntnisse dahingehend ab, dass
sie sich verpflichtete, die Erstattungsansprüche des Klägers für die Zeit nach Ablauf des
Geschäftsjahres der Abgabe der Entschädigungsfälle an die Beigeladene bis zur
Rücknahme der Fälle durch den Kläger gemäß § 112 des Zehnten Buches des
Sozialgesetzbuches - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X)
i.V.m. § 668 RVO analog und für die Zeit ab Rücknahme der Entschädigungsfälle im
Dezember 1985 gemäß § 105 SGB X zu befriedigen. Wegen Erstattung der
Aufwendungen für die Zeit vor Abgabe der Entschädigungsfälle an die Beigeladene
wurden die Verfahren hingegen fortge- setzt, wobei die Beigeladene mit Schriftsatz vom
30.01.1992 erklärte, den generellen Übergang der Unfalllast nicht bestreiten zu wollen.
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Durch Urteile des SG vom 23.04. und 15.09.1993 wurde die Beigeladene sodann
verurteilt, dem Kläger - soweit es sich um die Fallgruppe der Städtischen
Krankenanstalten L handelte - die vor dem 01.01.1966 und - soweit die Fallgruppe
Textilingenieurschule L betroffen war - die vor dem 01.08.1971 entstandenen
Aufwendungen nach § 105 SGB X unter Berücksichtigung der Verjährungsfrist von vier
Jahren zu erstatten. Während der Kläger die von ihm beim Landessozialgericht (LSG)
NRW eingelegten Berufungen wieder zurücknahm, beantragte die Beigeladene in acht
Fällen, die angefochtenen Urteile abzuändern und die Klagen abzuweisen, soweit über
die abgegebenen Teilanerkenntnisse hinausgehende Entschädigungsansprüche
geltend gemacht wurden. Andererseits bestätigte sie mit Schreiben vom 06.12.1993,
dass sie "in den Fällen, in denen ein Teilanerkenntnis abgegeben wurde und ein
analoger Sachverhalt vorliegt, die Bearbeitung einschließlich der
Entschädigungsleistungen ab 01.03.1994 übernimmt", dem Kläger nach rechtskräftigem
Abschluss der Berufungsverfahren ggf. die bisher erbrachten Leistungen erstatten
würde.
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Bis auf den Rechtsstreit in Sachen "Dr. D", in dem die Beigeladene ein mit der Revision
angefochtenes Urteil des Berufungsgerichts erwirkte, wurden alle anderen Verfahren in
den Jahren 1994 und 1995 wie folgt abgeschlossen: Soweit Erstattungsansprüche nach
§ 105 SGB X betroffen waren, erfolgte eine Abwicklung unter Berücksichtigung der vom
LSG NRW vertretenen Rechtsauffassung, dass die Anmeldung dieser
Erstattungsansprüche jeweils innerhalb der Jahresfrist des § 111 SGB X erfolgt,
allerdings die Verjährung nach § 113 SGB X erst durch die Klageerhebung im Jahre
1987 unterbrochen worden war (s. Vergleiche vom 20.04.1994 zu Az. L 17 U 161/93,
162/93 und 163/93; Vergleich vom 14.03.1995 zu Az. L 15 (5) U 126/93; Urteil vom
19.10.1994 - L 17 U 160/93 -). Soweit Rückerstattungsansprüche nach § 112 SGB X
Gegenstand der Rechtsstreite waren, wurden diese Ansprüche im Hinblick auf das von
der Beigeladenen beim Bundessozialgericht (BSG) angestrengte Revisionsverfahren - L
15 (5) U 127/93 LSG NRW/2 RU 40/94 BSG - zurückgestellt, die Rechtsstreite jedoch für
erledigt erklärt (Vergleich vom 21.11.1994 zum Az. L 15 U 101/93 und Vergleich vom
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14.02.1995 zum Az. L 15 (5) U 128/93). In dem mit der Revision angefochtenen Urteil
i.Sa. "Dr. D" entschied das BSG mit Urteil vom 14.12.1995 - 2 RU 40/94 -, dass der
Kläger seine Zuständigkeit als Träger der gesetzlichen UV zwar verloren habe, dass
damit jedoch kein Übergang der Altlasten auf den neuen UV-Träger verbunden sei.
Im Hinblick auf dieses Urteil forderte die Beigeladene den Kläger mit Schreiben vom
26.02.1996 und 22.08.1996 auf, ihr die bisher erstatteten Leistungen zurückzuerstatten.
Der Kläger lehnte dies ab. Daraufhin erhob die Beigeladene in vier Fällen Klage vor
dem SG Düsseldorf (S 6 U 181/96; S 6 U 182/96; S 18 U 144/96 und S 16 U 202/96),
während der Beklagte unter dem 20.06.1997 einen Verpflichtungsbescheid gegen den
Kläger erließ. Danach sollte dieser in 12 Alt-Entschädigungsfällen betreffend die
Städtischen Krankenanstalten B und die Textilingenieurschule L - die Gegenstand des
unter dem Az. S 16 U 156/87 beim SG Düsseldorf geführten Verfahrens waren, jedoch
nicht zu den damaligen Präzedenzfällen zählten - spätestens ab 01.09.1997 von der
Beigeladenen die Leistungsgewährung an die Versicherten übernehmen, ferner der
Beigeladenen die für diese Versicherten in der Zeit vom 01.04.1994 bis 31.05.1997
erbrachten Leistungen in einer Höhe von 308.943,90 Deutsche Mark (DM) sowie die für
die anschließende Zeit zu erbringenden Leistungen erstatten, außerdem in drei
weiteren Entschädigungsfällen betreffend die Städtischen Krankenanstalten B die im
Mai 1995 in einer Gesamthöhe von 1.036.336,39 DM erstatteten Leistungen
zurückerstatten und die bezifferten Forderungen bis zum 31.07.1997 erfüllen sowie den
noch für die Zeit ab dem 01.06.1997 zu beziffernden Forderungen innerhalb eines
Monats nach Eingang der Bezifferung beim Kläger nachkommen. Außerdem ordnete
der Beklagte die sofortige Vollziehung des Verpflichtungsbescheides an, da diese im
öffentlichen Interesse liege. Wegen der Eindeutigkeit der Rechtslage und der Höhe der
bereits entstandenen Gesamtforderung könne eine weitere Verzögerung der Erfüllung
der Forderung der Beigeladenen nämlich nicht mehr hingenommen werden.
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Gegen den Verpflichtungsbescheid hat der Kläger am 11.07.1997 beim SG Düsseldorf
Klage erhoben und ferner beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den
Verpflichtungsbescheid wiederherzustellen. Diesem Antrag gab das SG durch
Beschluss vom 29.08.1997 - S 6 U 152/97 - statt. Die dagegen vom Kläger eingelegte
Beschwerde wies der erkennende Senat mit Beschluss vom 14.07.1999 - L 17 B 33/97
U - zurück.
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Der Kläger hat die Auffassung vertreten, er müsse dem o.a. Urteil des BSG vom
14.12.1995 nur insoweit Rechnung tragen, als nunmehr kein Raum mehr sei für noch
nicht abgerechnete Rückerstattungsansprüche nach § 112 SGB X. Ebensowenig aber
habe die Beigeladene Anspruch auf Rückerstattung von Leistungen nach § 112 SGB X
bzw. Erstattung von Leistungen nach § 105 SGB X. Dies folge aus der seinerzeit
getroffenen Präzedenzfallabrede, deren genauer Inhalt zwar nicht mehr nachvollziehbar
sei, mit der aber grundsätzlich bezweckt worden sei, künftig Fälle gleicher Art nach dem
Vorbild der gerichtlichen Entscheidung im Präzedenzfall bzw. seiner Beurteilung zu
regeln. Dass die Bildung von Präzedenzfällen durch die Beteiligten diesem Ziel gedient
habe, machten die Übernahme der Abwicklungsarbeiten durch die Beigeladene
einschließlich der ab dem 01.04.1994 gezahlten Entschädigungen, das Schreiben vom
06.12.1993 sowie die Erstattung von Leistungen in Höhe von 1.571.228,65 DM an ihn -
den Kläger - im Oktober 1995 im Anschluss an die Urteile des LSG NRW bzw. die vor
ihm geschlossenen Vergleiche deutlich. Bei der hier zu beurteilenden
Präzedenzfallabrede handele es sich um eine vertragliche Übereinkunft in Form eines
Prozessvertrages bzw. eines koordinationsrechtlichen Vertrages i.S. der §§ 53 ff. SGB
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X, mit dem beabsichtigt worden sei, auf den Geltungsumfang der gerichtlichen
Entscheidungen einzuwirken, wobei erwähnenswert sei, dass selbst nicht eingeklagte
Ansprüche vergleichsweise in eine solche vertragliche Übereinkunft mit einbezogen
werden könnten. Was die Formerfordernisse einer Präzedenzfallabrede angehe, so
könne schon ein bloßer Briefwechsel ausreichen, um die gehörige Form nach § 56 SGB
X zu wahren. Außerdem habe sich die Beigeladene auf das Rechtsgeschäft
eingelassen bzw. das Geschäft mit Schreiben vom 06.12.1993 ausdrücklich bestätigt
und damit auf ein etwaiges Schriftformerfordernis gemäß § 125 des Bürgerlichen
Gesetzbuches (BGB) verzichtet. Weder seien zur Nichtigkeit führende Mängel der
vertraglichen Absprache ersichtlich noch sei der Vertrag unwirksam oder anfechtbar. Im
Übrigen habe der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit, mit dem sich das BSG-Urteil befasst
habe, nicht in jedem Falle Vorrang vor dem Grundsatz der Rechtssicherheit, wie schon
aus § 113 Abs. 1 SGB X hervorgehe, wonach Erstattungs- und
Rückerstattungsansprüche der Verjährung unterlägen. Hervorzuheben sei schließlich,
dass es in der damaligen gerichtlichen Auseinandersetzung nicht nur um die Frage der
Erstattung und Rückerstattung, sondern auch darum gegangen sei, bei welchem
Versicherungsträger die Zuständigkeit liege. Insbesondere die Erklärungen der
Beigeladenen vom 07.12.1990, die als Teilanerkenntnisse zu würdigen seien, hätten
dazu geführt, dass die Zuständigkeitsfrage sowie die Erstattungspflichten für bestimmte
Zeiträume nicht mehr Gegenstand des Rechtsstreits gewesen seien.
Der Beklagte hat vorgebracht, im Verfahren beim LSG sei es nur noch um die Erstattung
von Aufwendungen des Klägers für die Zeit vor Abgabe der Entschädigungsfälle an die
Beigeladene bzw. um die Frage der Verjährung dieser Erstattungsansprüche gegangen.
Kein Streitgegenstand in den sog. Präzedenzfällen sei daher die Zuständigkeit für die
Versicherungsfälle gewesen, so dass insoweit auch keine vergleichsweise Einigung
oder die Abgabe eines Anerkenntnisses vorgelegen haben könne, aus der sich
entgegen der nun vorliegenden Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 05.10.1995 - 2
RU 34/94 - und vom 14.12.1995 - 2 RU 40/94 -) die Leistungspflicht der Beigeladenen
herleiten könnte. Im Übrigen sei mit der außergerichtlichen Präzedenzfallabrede eine
Beschränkung des ursprünglichen Klageantrages bzw. eine Teilrücknahme oder eine
teilweise Erledigungserklärung verbunden gewesen.
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Somit stelle die Abrede eine Prozesshandlung dar, der ein Einvernehmen über die
Auswahl der Fälle vorausgegangen sei. Die Übertragung von Rechtswirkungen von
Prozesshandlungen im Wege der Analogie auf außergerichtliche Abreden sei jedoch
unzulässig. Folglich könne die Vereinbarung der Versicherungsträger, die den
Vergleichen und Anerkenntnissen zugrundeliegende Rechtsauslegung auch in Fällen
mit gleichgelagertem Sachverhalt anzuwenden, selbst dann nicht die gegebenenfalls
bindenden Rechtswirkungen dieser Prozesshandlungen entfalten, wenn sie vorliegen
sollten. Die getroffene Abmachung sei vielmehr insoweit gegenstandslos, als sie sich in
Anbetracht der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung (hier BSG-Urteile vom
05.10. und 14.12.1995) rückwirkend materiell als rechtswidrig erweisen sollte. Hinzu
komme, dass - wie ausgeführt - nicht die Frage der Zuständigkeit, sondern allein der
Umfang der Erstattungsansprüche noch Streitgegenstand gewesen sei, so dass die
geschlossenen Vergleiche und die abgegebenen Anerkenntnisse - wenn überhaupt -
nur in dieser Hinsicht eine materielle Bindungswirkung entfalten könnten. Nach alledem
sei es rechtsmissbräuchlich, wenn der Kläger sich auf die Präzedenzfallabrede berufe.
Darüber hinaus seien die UV-Träger bei einer Zuständigkeitsänderung nach § 136 Abs.
1 S. 4 des Siebten Sozialgesetzbuches (SGB VII) gehalten, Einvernehmen über die
Überweisung des betroffenen Unternehmens herzustellen. Stelle sich andererseits
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heraus, dass die im Einvernehmen angenommene Zuständigkeit unzutreffend sei, sei
diese wieder zu ändern. Das Beharren des Klägers auf seiner Rechtsposition verstoße
in jedem Falle gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns
und gegen die in § 86 SGB X normierte Verpflichtung der Leistungsträger zur engen
Zusammenarbeit und der damit verbundenen angemessenen Berücksichtigung der
beiderseitigen Interessen. Unabhängig davon habe ein Ausgleich nach § 105 SGB X
stattzufinden, wenn Leistungen von einem unzuständigen Versicherungsträger erbracht
worden seien, für die es nach materieller Rechtslage keine Rechtsgrundlage gegeben
habe.
Die mit Beschluss des SG vom 28.03.2000 gemäß § 75 Abs. 2 des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beigeladene Landesunfallkasse NRW hat darauf
hingewiesen, dass sich die Verwaltung nicht an rechtswidrigen Präzedenzfall-
Entscheidungen festhalten lassen müsse. Der Bindungswille bei einer
Präzedenzfallregelung sei allein auf den rechtmäßigen materiellen Inhalt der
Musterentscheidung gerichtet und erstrecke sich nicht auf deren weitergehende
Bindungswirkung. Zudem seien nur Entscheidungen von dazu berufenen
Entscheidungsträgern geeignet, der Zweckbestimmung eines Präzedenzfalles gerecht
zu werden. Anerkenntnisse, Vergleiche und sonstige das Verfahren beendende
Prozesshandlungen der Parteien seien hingegen weder einer formellen noch einer
materiellen Rechtskraft fähig. Abgesehen davon habe es gar keine Abrede darüber
gegeben, wie die "Analogfälle" zu behandeln wären, wenn die Präzedenzfallverfahren
ohne rechtskräftige gerichtliche Entscheidung enden würden. Ein darauf gerichteter
öffentlich-rechtlicher Vertrag sei also gar nicht geschlossen worden. Im Übrigen komme
als einzige geeignete Präzedenzfallentscheidung das BSG-Urteil vom 14.12.1995 in
Betracht. Da diese Entscheidung eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung
beinhalte, sei der Kläger trotz der Unternehmensübergänge in die Zuständigkeit der
Beigeladenen für die Analogfälle (Unfalllast) zuständig geblieben. Infolgedessen seien
die übrigen Verfahren, die sich vom BSG-Fall nur in Art und Umfang der erhobenen
Erstattungsansprüche unterschieden, als Musterverfahren gegenstandslos geworden.
Zumindest aber müsste eine rückwirkende Anpassung des vom Kläger behaupteten
Vertrages (sofern ein solcher zustande gekommen sein sollte) an die geänderten
Verhältnisse bzw. an die aktuelle Rechtsprechung des BSG erfolgen.
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Mit Urteil vom 30.10.2001 hat das SG den Verpflichtungsbescheid des Beklagten vom
20.06.1997 aufgehoben. Es hat seine Entscheidung im Wesentlichen damit begründet,
dass die Voraussetzungen für ein Tätigwerden des Beklagten im Wege der erlassenen
Verpflichtungsanordnung nicht gegeben gewesen seien. In eine - zum Teil schon
gerichtlich ausgetragene - Auseinandersetzung zweier gleichrangiger UV-Träger dürfe
sich die Aufsichtsbehörde nur dann in der hier gewählten Art und Weise einschalten,
wenn der von ihr gerügte eindeutige Rechtsverstoß tatsächlich vorläge. Dies sei hier
nicht der Fall. Der Umfang der gewechselten Schriftsätze und die darin vertretenen
unterschiedlichen Rechtsstandpunkte machten jedenfalls hinreichend deutlich, dass die
Rechtslage keineswegs so klar sei wie vom Beklagten behauptet und dass die der
Rechtsauffassung des Beklagten und der Beigeladenen entgegenstehende
Argumentation des Klägers nicht von vornherein unzutreffend oder gar abwegig sei. Für
den vom Kläger beanstandeten Verpflichtungsbescheid gebe es somit keine
ausreichende Rechtsgrundlage.
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Das Urteil ist dem Beklagten am 11.01.2002, der Beigeladenen am 10.01.2002
zugestellt worden. Diese Beteiligten haben gegen das Urteil am 17.01.2002 (Beklagter)
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und am 21.01.2002 (Beigeladene) Berufung eingelegt. Der Beklagte macht geltend, das
Urteil des SG verstoße in der materiell-rechtlichen Beurteilung gegen geltendes Recht
und lasse im Ergebnis die eigentlich entscheidungserheblichen Rechtsfragen
unbeantwortet. Er wiederholt sein bisheriges Vorbringen und macht ergänzende und
vertiefende Ausführungen zu der aus seiner Sicht sich darstellenden materiellen
Rechtslage. Das Aufsichtsrecht der Aufsichtsbehörden - so trägt der Beklagte des
weiteren vor - erstrecke sich darauf, dass das Recht beachtet, d.h., dass es von den
Versicherungsträgern richtig angewendet werde. Die Grenze des aus der Fassung des
§ 87 Abs. 1 SGB IV sich ergebenden "Rechtsanwendungsspielraums" der
Sozialversicherungsträger, d.h. die Frage, ob hier die vom Kläger vertretene
Rechtsauffassung und die auf ihr beruhende Entscheidung unrichtig, also rechtlich
unvertretbar und durch die bestehende Rechtsordnung nicht mehr gedeckt ist, sei vom
SG bei seiner Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der angefochtenen
aufsichtsrechtlichen Anordnung nicht festgestellt worden. Nur auf der Grundlage einer
solchen Feststellung wäre aber eine Entscheidung in der Sache und damit eine
Beurteilung des von ihm - dem Beklagten - ausgeübten Ermessens möglich gewesen.
Die Beigeladene ist der Ansicht, dem Beklagten als im vorliegenden Fall zuständiger
Fach- und Rechtsaufsicht müsse die Möglichkeit zugestanden werden, bei
Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen gleichrangigen Sozialversicherungsträgern durch
Verpflichtungsbescheid eine abschließende Entscheidung herbeizuführen. Eine solche
aufsichtsrechtliche Maßnahme erscheine geboten, weil andernfalls eine Lücke in der
Entscheidungskompetenz der Fach- und Rechtsaufsicht entstünde, die nur durch die
unmittelbare Herbeiführung sozialgerichtlicher Entscheidungen zu schließen wäre.
Auch dann, wenn die Entscheidung des SG hinsichtlich des Verpflichtungsbescheides
rechtlich Bestand haben sollte, sei aus ihrer - der Beigeladenen - Sicht die Einlegung
der Berufung geboten, weil das SG über den eigentlichen Inhalt des
Verpflichtungsbescheides nicht entschieden habe. Im Ergebnis sei die Frage, ob zu
ihren Gunsten Rückerstattungsansprüche gemäß §§ 105 und 112 SGB X bestehen,
unbeantwortet geblieben. Insoweit begehre sie für den Fall, dass die Klage gegen den
Verpflichtungsbescheid nicht zurückgewiesen werde, eine Klärung der Frage, ob ihr die
im Verpflichtungsbescheid geltend gemachten Rückerstattungsansprüche zustehen und
der Kläger in den dort benannten Fällen zuständiger Versicherungsträger ist. Diese
Feststellungen seien geboten, weil der Kläger unter Behauptung des Bestehens einer
speziell ausgestalteten Präzedenzfallabrede zwischen ihm und ihr - der Beigeladenen -
die Erfüllung der geltend gemachten Ansprüche unter Hinweis auf seine angebliche
Unzuständigkeit ablehne. Zur Frage der Existenz einer "Präzedenzfallabrede"
wiederholt die Beigeladene im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen und ist im
Ergebnis weiterhin der Auffassung, eine solche Abrede in der vom Kläger
beschriebenen Form gebe es nicht.
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Der Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 30.10.2001 zu ändern und die Klage
abzuweisen.
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Die Beigeladene beantragt ebenfalls,
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das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 30.10.2001 zu ändern und die Klage
abzuweisen, hilfsweise festzustellen, dass ihr die im Verpflichtungsbescheid
beschriebenen Erstattungsansprüche gemäß §§ 105 und 112 SGB X gegen den
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Rheinischen Gemeindeunfallversicherungsverband als dem in den benannten Fällen
zuständigen Unfallversicherungsträger zustehen.
Der Kläger beantragt,
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die Berufungen zurückzuweisen und die Feststellungsklage der Beigeladenen
abzuweisen.
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Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend, bezieht sich auf sein bisheriges
Vorbringen und ist der Ansicht, das SG sei im Rahmen der Prüfung, ob eindeutige
Fehler oder offenkundige Rechtsverstöße von seiner - des Klägers - Seite aus
vorgelegen hätten bzw. begangen worden seien, nicht gehalten gewesen, über jede von
den Beteiligten diskutierte und problematisierte streitige Rechtsansicht zu entscheiden,
da der Beklagte nur im Falle einer Eindeutigkeit und Offensichtlichkeit ermächtigt
gewesen sei, im Wege eines Aufsichtsmittels einzuschreiten. Im Übrigen könnten ihm -
dem Kläger - auch keinerlei Rechtsverstöße angelastet werden. Für die
Feststellungsklage der Beigeladenen gebe es keine Grundlage.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und den der beigezogenen Verwaltungsakten der
Beteiligten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässigen Berufungen des Beklagten und der Beigeladenen sind unbegründet. Die
Feststellungsklage der Beigeladenen ist unzulässig.
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Zu Recht hat das SG der Anfechtungsklage des Klägers, bei der es sich um eine
Aufsichtsklage nach § 54 Abs 3 SGG handelt, stattgegeben und den vom Beklagten
erlassenen Verpflichtungsbescheid vom 20.06.1997 aufgehoben, denn dieser ist
rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinem Selbstverwaltungsrecht (§ 29 Abs.
1 SGB IV). Der Beklagte hat mit den darin getroffenen Anordnungen sein Aufsichtsrecht
überschritten.
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Nach § 87 Abs. 1 S. 2 SGB IV erstreckt sich die Aufsicht auf die Beachtung von Gesetz
und sonstigem Recht, das für den Versicherungsträger (VT) maßgebend ist. Wird durch
das Handeln oder Unterlassen eines VT das Recht verletzt, soll die Aufsichtsbehörde
zunächst beratend darauf hinwirken, dass der VT die Rechtsverletzung behebt (§ 89
Abs. 1 S. 2 SGB IV). Kommt der VT dem innerhalb einer angemessenen Frist nicht
nach, kann ihn die Aufsichtsbehörde verpflichten, die Rechtsverletzung zu beheben. Der
Erlass einer Aufsichtsanordnung ist danach ein an den VT gerichteter Verwaltungsakt,
der im (pflichtgemäßen) Ermessen der Aufsichtsbehörde ("kann") steht und neben einer
Rechtsverletzung des VT voraussetzt, dass dessen vorangegangene Beratung nicht zur
Behebung der Rechtsverletzung geführt hat.
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Dem angefochtenen Verpflichtungsbescheid ist zwar eine ordnungsgemäße Beratung
vorausgegangen, die im Rahmen eines am 10.12.1996 zwischen allen Beteiligten
stattgefundenen Erörterungsgesprächs sowie durch ein Schreiben des Beklagten an
den Vorstandsvorsitzenden des Klägers vom 10.04.1997 erfolgt ist. Es fehlt aber an
einer die Anordnung rechtfertigenden Rechtsverletzung. Eine solche liegt vor, wenn der
VT durch sein Handeln oder Unterlassen gegen zwingende Vorschriften von Gesetzen,
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Rechtsverordnungen, autonomen Recht, allgemeinen Verwaltungsvorschriften oder
gegen Gewohnheitsrecht verstößt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich um
Leistungs- oder Beitragsrecht, Finanzierungs- oder Organisationsrecht oder um
Ordnungs- oder Verfahrensrecht handelt. Unerheblich ist auch, ob die Vorschrift dem
öffentlichen oder privaten Recht zuzuordnen ist und ob sie das Verhältnis von
Verwaltung und Bürger oder das mehrerer Verwaltungsträger oder mehrerer Organe
innerhalb eines Verwaltungsträgers betrifft. Es muss sich lediglich um eine
Rechtsvorschrift handeln, die für den VT "maßgebend" ist (§ 87 Abs. 1 Satz 2 SGB IV).
Demgemäß gilt § 89 Abs. 1 SGB IV auch insoweit, als Rechtsverletzungen das
Verhältnis von Organen des VT zueinander berühen (Hauck/Noftz/Graeff, Kommentar
zum SGB IV, Stand: IV/99, § 89 Rdnr. 3; vgl. auch Peters, Kommentar zum SGB IV,
Stand: 09/1993, § 89 Rdnr. 8; Wannagat/Stober/Schuler, Kommentar zum SGB IV,
Stand: 08/1997, § 87 Rdnr. 21 und § 89 Rdnr. 6). Der Beklagte hat den angefochtenen
Bescheid damit begründet, dass das BSG mit seinen Urteilen vom 05.10.1995 - 2 RU
34/94 - und vom 14.12.1995 - 2 RU 40/94 - entschieden habe, dass trotz der
unfallversicherungsrechtlichen Funktionsnachfolge des Landes NRW (hier: AfU) hiermit
nicht auch ein Übergang vom zum Zeitpunkt des Zuständigkeitswechsels bereits
bestehenden Unfalllasten verbunden gewesen und somit die Zuständigkeit des Klägers
für die Leistungserbringung in den genannten Fällen entgegen der von diesem im
Rahmen der Anhörung vorgetragenen Rechtsauffassung fortlaufend bestehen
geblieben sei, was zur Folge habe, dass die Leistungsgewährung unverzüglich wieder
vom Kläger zu übernehmen sei, die mit Schreiben vom 06.02.1996 angemeldeten
Erstattungsansprüchen nach § 105 SGB X für die von der Ausführungsbehörde
erbrachten Leistungen zu erfüllen sowie die von dieser im Mai 1995 zu Unrecht
"geleisteten Erstattungsansprüche" gemäß § 112 SGB X zurückzuerstatten seien. Ob
diese Begründung dem Erfordernis entspricht im Verpflichtungsbescheid die
(angenommene) Rechtsverletzung zu bezeichnen (vgl. dazu Peters a.a.O. § 89 Rdnr.
19; Maier in Kass. Komm., SGB IV, Stand: 05/1997, § 89 Rdnr. 5) und ob der Bescheid
schon wegen ggf. fehlender Bezeichnung der Rechtsverletzung als rechtswidrig
anzusehen wäre, kann letztlich dahingestellt bleiben. Der Begründung des Bescheides
ist zu entnehmen, dass der Beklagte die dem Kläger zur Last gelegte Rechtsverletzung
darin gesehen hat, dass der Kläger trotz der genannten BSG-Urteile dem Begehren der
Rechtsvorgängerin der Beigeladenen nicht entsprochen hat. Lässt man dies als
"Bezeichnung" genügen, so liegt jedenfalls die vom Beklagten angenommene
Rechtsverletzung nicht vor. Dies gilt auch dann, wenn man mit der im Schrifttum
vertretenen Auffassung (vgl. Marschner/Pohl in ihrer Anmerkung zum Urteil des LSG
NRW vom 29.11.2001 - L 2 KN 106/98 U = SGb 2003 S. 420 ff., 422) davon ausgeht,
dass zum aufsichtsrechtlichen Einschreiten kein offenkundiger, eindeutiger
Rechtsverstoß vorliegen muss. Die Anwendung der Aufsichtsmittel des § 89 SGB VII
setzt jedenfalls aber voraus, dass die Rechtsverletzung positiv feststeht (vgl.
Wannagat/Stober/Schuler a.a.O., § 89 Rdnr. 3). Das ist hier nicht der Fall. Denn die vom
Kläger praktizierte Rechtsanwendung und Rechtsauslegung ist zumindest vertretbar.
Eine vertretbare Interpretation von Gesetz und Recht kann aber nicht als
Rechtsverletzung i.S.d. § 89 Abs. 1 SGB IV angesehen werden (vgl. Marschner/Pohl
a.a.O., S. 422). Ist die Aufsichtsbehörde gleichwohl anderer Ansicht, berechtigt sie dies
nicht zu Aufsichtsmaßnahmen (Wannagat/Stober/Schuler a.a.O.). Das BSG hat in
seinem Urteil vom 12.11.2003 - B 8 Kn 1/02 U R -, dass zu dem Urteil des LSG NRW
vom 29.11.2001 - L 2 Kn 106/08 U - ergangen ist und ebenfalls einen
aufsichtsrechtlichen Verpflichtungsbescheid betraf, ausgeführt, bei der
Rechtsanwendung habe jeder Inhaber eines öffentlichen Amtes die Rechtslage mit den
ihm zu Gebote stehenden Mitteln sorgfältig und gewissenhaft zu prüfen und sich danach
aufgrund vernünftiger Überlegungen eine Meinung zu bilden. Nicht jeder objektive
Rechtsirrtum begründe dann einen Schuldvorwurf. Wenn die nach sorgfältiger Prüfung
gewonnene Rechtsansicht des Amtsträgers als rechtlich vertretbar angesehen werden
könne und er daran bis zur gerichtlichen Klärung der Rechtslage festhalte, könne aus
der Missbilligung seiner Rechtsauffassung durch die Gerichte ein Schuldvorwurf nicht
hergeleitet werden. Diese Ausführungen des BSG betrifft zwar die Prüfung der Frage
einer Amtspflichtsverletzung i.S.d. § 839 BGB. Die darin aufgezeigten Kriterien und
Rechtsgedanken sind aber gleichermaßen übertragbar auf die Prüfung der Frage einer
Rechtsverletzung i.S.d. § 89 SGB IV, zumal sie der vorstehend dargelegten, im
Schrifttum vertretenen Auffassung entspreche. Hiervon ausgehend ist aber festzustellen,
dass der Kläger seine Rechtsansicht nach sorgfältiger Prüfung gewonnen hat. Er hat
sich auch schon im "Anhörungsverfahren" auf die zwischen ihm und der
Rechtsvorgängerin der Beigeladenen (AfU) getroffene "Präzedenzfall"- abrede berufen,
die seiner Auffassung nach für alle gleich gelagerten Fälle gelten sollte, und dies im
Einzelnen in seinem Schreiben an den Beklagten vom 15.01.1997, auf dessen Inhalt
der Senat Bezug nimmt, nochmals dargelegt. Der Kläger hat seine Auffassung stützen
können auf eine von ihm eingeholte ergänzende Stellungnahme des Rechtsanwalts und
Fachanwalts für Sozialrecht Prof. Dr. Q in G/M. vom 03.01.1997. Darin hat dieser u.a.
ausgeführt, es sei gerade Sinn der Präzedenzfallabrede im Jahre 1989 gewesen, die
Fälle, die zunächst Gegenstand der Klage vor dem SG Düsseldorf gewesen, dann aber
aus Gründen der Arbeitserleichterung nicht zum Gegenstand der Verhandlungs- und
Entscheidungsgründe vor dem SG geworden seien, analog zu behandeln. Es liege also
zwischen den beiden Streitparteien - der AfU und dem GUV - ein Vertrag bestehend aus
Präzedenzfallabrede und Schreiben [der AfU] vom 06.12.1993 einschließlich Erfüllung
im Jahre 1995) vor, der die Erstattungsverfahren endgültig habe abschließen sollen.
Dieser Vertrag habe auf eine einvernehmliche Been digung der Auseinandersetzungen
gezielt. Er enthalte nicht "nur" ein Anerkenntnis, sondern einen Vergleichsvertrag, mit
dessen Hilfe die Parteien die sich aus den unterschiedlichen Rechtsstandpunkten
ergebende Ungewissheit hätten beseitigen wollen. Beide Parteien seien sich 1987,
1989 und 1993 darüber bewusst gewesen, dass die Frage der Erstattungspflicht bzw.
der Zuständigkeit nach den gesetzlichen Be stimmungen zweifelhaft sei. Um diese
Zweifel auszuräumen, hätten die Parteien die Präzedenzfallabrede und die
Vereinbarung vom Dezember 1993 geschlossen. Als Vergleichsvertrag sei diese
Vereinbarung unbeschadet des Urteils des BSG vom 14.12.1995 weiterhin wirksam.
Der Vergleichsvertrag sei weder nichtig noch anfechtbar, sondern er bleibe
bestandskräftig, unabhängig davon, ob die Vorschriften über die Zuständigkeit
entsprechend der Entscheidung des BSG vom 14.12.1995 anders zu verstehen seien,
als es die Vertragsparteien damals getan hätten. Bei dieser Sachlage ist die
Rechtsansicht des Klägers zumindest als gut vertretbar anzusehen. Es ist deshalb auch
nicht zu beanstanden und - entgegen der Ansicht des Beklagten - schon gar nicht
rechtsmissbräuchlich, wenn er an ihr weiterhin festgehalten hat. Ob die vom Kläger
vertretene Rechtsauffassung, die dem Senat als schlüssig und einleuchtend erscheint,
tatsächlich der materiellen Rechtslage entspricht, war hier nicht zu entscheiden.
Deshalb war auch weder das SG noch der Senat in dem hier vorliegenden
Aufsichtsrechtsstreit gehalten, auf die von den Beteiligten umfangreich vorgetragenen
und kontrovers diskutierten Rechtsstandpunkte zur materiellen Rechtslage einzugehen
und zu prüfen, ob die von der Beigeladenen bzw. deren Rechtsvorgängerin geltend
gemachten Ansprüche, zu deren Durchsetzung die Verpflichtungsanordnung ergangen
ist, zu Recht bestehen. Denn vorliegend geht es allein um die Rechtmäßigkeit des
Verpflichtungsbescheides und in diesem Rahmen vordringlich um die Frage, ob dem
Kläger eine Rechtsverletzung anzulasten ist. Wie bereits das SG im angefochtenen
Urteil zutreffend ausgeführt hat, machen der Umfang der gewechselten Schriftsätze und
die darin vertretenen unterschiedlichen Rechtsstandpunkte hinreichend deutlich, dass
die Rechtslage keineswegs so klar ist, wie dies vom Beklagten behauptet wird. Von
einer eindeutigen Rechtslage - wie es im Verpflichtungsbescheid heißt - kann auch im
Hinblick auf die Rechtsprechung des BSG aus dem Jahre 1995 angesichts der
Komplexität und Kompliziertheit der Materie keine Rede sei. Vielmehr erscheint jeder
der von den Beteiligten unterschiedlich vertretenen Rechtsstandpunkte als vertretbar.
Da mithin - wie oben bereits dargelegt - auch die nach sorgfältiger Prüfung gewonnene,
u. a. auf die erwähnte Stellungnahme des renomierten Sozialrechtlers Prof. Dr. Q
gestützte Rechtsansicht des Klägers zumindest vertretbar ist, lässt sich ein von diesem
begangener Rechtsverstoß nicht feststellen.
Fehlt es hiernach bereits an der für eine aufsichtsrechtliche Verpflichtungsanordnung
erforderlichen Grundvoraussetzungen einer Rechtsverletzung, so erübrigt sich eine ins
Detail gehende Prüfung der Frage, ob der Beklagte bei Erlass des
Verpflichtungsbescheides sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat. Gleichwohl weist der
Senat auf Folgendes hin: So weit es im angefochtenen Bescheid heißt, im Rahmen der
Ermessensausübung sei geprüft worden, ob ggf. eine tolerierbare Rechtsverletzung
vorliege, aufgrund der nunmehr vorliegenden BSG-Rechtssprechung und somit
eindeutigen Rechtslage habe dies allerdings verneint werden müssen, ist die
Rechtslage nur verkürzt, nämlich auf die BSG- Urteile aus dem Jahre 1995 reduziert
beschrieben worden. Welche Ermessenserwägungen der Beklagte im Einzelnen
angestellt und ob er im Hinblick auf die BSG-Rechtssprechung möglicherweise eine
Ermessensreduzierung auf "Null" angenommen hat, geht aus dem Bescheid nicht
hervor. Bereits deshalb könnte es an einer ausreichenden Begründung der
Ermessensentscheidung fehlen, was die Rechtswidrigkeit des Bescheides zur Folge
hätte. Denn die Aufsichtsbehörde hat ihr Entschließungsermessen, d. h. ihr Ermessen,
ob sie einschreiten will, pflichtgemäß unter Abwägung aller im Einzelfall in Betracht
kommenden Interessen auszuüben. Auch dabei - wie bei der Beratung - gilt das
Opportunitätsprinzip. In ihrer Entscheidung hat die Aufsichtsbehörde nicht nur die
Gründe darzulegen, aus denen sich die Rechtsverletzung ergibt, sondern auch die
Ermessenserwägung, die für den Erlass der Aufsichtsanordnung maßgebend waren
(vgl. Peters a.a.O., § 89 Rdnr. 17 mit Hinweise auf BSG SozR 3 - 2400 § 89 Nr. 1;
Hauck/Noftz/Graeff a.a.O., § 89 Rdnr. 5 b; Wannagat/Stober/Schuler a.a.O., § 89 Rdnr.
13). Und in dieser Hinsicht erscheint die Begründung des Bescheides als wenig
tragfähig. So fehlen etwa Erwägungen auch zu der - in Rechtsprechung und Literatur
allerdings umstrittenen - Frage, ob ein Verpflichtungsbescheid der Aufsichtsbehörde
auch dann ergehen kann, wenn wegen desselben Sachverhalts zwischen dem VT und
einem Dritten, bei dem es sich auch um einen weiteren VT handeln kann, ein
Rechtsstreit gerichtlich anhängig ist, wie dies hier jedenfalls zum Teil bereits der Fall
war (vgl. zu dieser Problematik BSGE 25, 224, 226 und BSGE SozR 2200 § 30 RVO - a.
F. - Nr. 3; Hauck/Noftz/Graeff a.a.O., § 89 Rdnr. 5 a; Wannagat/Stober/Schuler a.a.O., §
89 Rdnr. 14) und ob ein Einschreiten der Behörde bei einer außergerichtlich
begonnenen Auseinandersetzung zwischen zwei gleichrangigen VTen auch dann
opportun ist, wenn der bestimmte Forderungen geltend machende VT jederzeit
gerichtlich gegen den anderen VT vorgehen kann. Schließlich ist auch nicht erkennbar,
welche Gründe den Beklagten bewogen haben, in der hier gewählten Art und Weise
gegen den Kläger einzuschreiten, obwohl das Aufsichtsrecht in erster Linie dem Schutz
von Versicherten gegen von VTen begangener Rechtsverletzungen dienen soll (vgl.
dazu z.B. Wannagat/Stober/Schuler a.a.O., § 89 Rdnr. 1, wonach erst dann, wenn die
koordinierte Zusammenarbeit zwischen Aufsichtsbehörde und VT im Interesse des
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Versicherten nicht zu dem gewünschten Ergebnis führt, der Weg zu einer Verpflichtung
des VT zur Behebung der Rechtsverletzung eröffnet ist; s. a. Hauck/Noftz/Graeff a.a.O.,
§ 89 Rdnr. 5, wonach die Aufsichtsbehörde in der Regel gegen solche
Rechtsverletzungen der VTer einschreiten muss, die sich zum Nachteil der Bürger
auswirken). Nach allem spricht vieles dafür, dass der Beklagte auch sein Ermessen
fehlerhaft ausgeübt, jedenfalls aber die von ihm angestellten Erwägungen in der
Begründung des Bescheides nicht bzw. nicht hinreichend dargelegt hat. Letztlich konnte
diese Frage aber hier dahingestellt bleiben, weil bereits eine vom Kläger begangene
Rechtsverletzung nicht festgestellt werden kann.
Erweist sich hiernach der angefochtene Verpflichtungsbescheid als rechtswidrig, so
konnten die Berufungen des Beklagten und der Beigeladenen keinen Erfolg haben.
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Die von der Beigeladenen hilfsweise erhobene Feststellungsklage ist unzulässig. Mit
ihrem Begehren festzustellen, dass ihr die im Verpflichtungsbescheid beschriebenen
Erstattungsansprüche gemäß §§ 105 und 112 SGB X gegen den Kläger zustehen,
versucht sie, im vorliegenden Verfahren, in dem Streitgegenstand allein die Frage der
Rechtmäßigkeit des vom Beklagten erlassenen Verpflichtungsbescheides, mithin einer
Aufsichtsmaßnahme, ist, einen "Nebenkriegsschauplatz" zu eröffnen, auf dem nunmehr
die - bisher versäumte - gerichtliche Auseinandersetzung mit dem Kläger über die
materielle Rechtslage hinsichtlich der erhobenen Erstattung- und
Rückerstattungsansprüche nachgeholt werden soll. Dieser Versuch musste scheitern,
denn Ansprüche nach den §§ 105, 112 SGB X waren und sind nicht Gegenstand des
vorliegenden Rechtsstreits und können von der Beigeladenen auch nicht über eine
"Hintertür" zum Gegenstand gemacht werden. Die Feststellungsklage der Beigeladenen
war mithin als unzulässig abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Zur Revisionszulassung bestand kein Anlass, denn die Voraussetzungen des § 160
Abs. 2 Nrn. 1 u. 2 SGG sind nicht erfüllt.
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