Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 07.12.2000

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Landessozialgericht NRW, L 16 KR 109/99
Datum:
07.12.2000
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 16 KR 109/99
Vorinstanz:
Sozialgericht Duisburg, S 9 Kr 17/97
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg
vom 23. April 1999 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind
auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
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Die Klägerin begehrt von der beklagten Krankenkasse Erstattung der Kosten für eine
sogenannte Gore-Tex-Behandlung (guided tissue regeneration - GTR -).
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Bei der Klägerin wurde 1995 wegen einer erheblichen Parodontose- Erkrankung eine
Behandlung durch den Zahnarzt Pxxx eingeleitet. Unter Vorlage eines privatärztlichen
Heil- und Kostenplans des Zahnarztes Pxxx vom 27.10.1995 beantragte die Klägerin
am 30.10.1995 zusätzlich im Rahmen der Parodontose-Behandlung die
Kostenübernahme für die Durchführung eines GTR-Verfahrens in Höhe von 7.195,15
DM. Die entsprechende Behandlung sollte in vier Behandlungsabschnitten (jeweils ein
Quadrant) erfolgen. Die erste Sitzung wurde am 22.01.1996 durchgeführt.
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Mit Bescheid vom 29.01.1996 lehnte die Beklagte die beantragte Kostenübernahme ab,
weil eine Behandlung mit Gore-Tex-Materialien nicht Bestandteil des Zahnarzt-
Vertrages mangels eines ausdrücklichen Votums des zuständigen Bundesausschusses
der Zahnärzte und Krankenkassen sei.
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Die Klägerin legte am 12.02.1996 Widerspruch ein und machte geltend, infolge einer
bakteriellen Infektion habe sich im Bereich des Ober- und Unterkiefers der Knochen
zurückgebildet. Ohne entsprechende Behandlung drohe ein Fortschreiten der
Erkrankung mit der Folge, dass Knochen aus dem Beckenbereich in den Kiefer im
plantiert werden müßten. Durch die Behandlung mit Gore-Tex könne eine solche
kostenaufwendige zukünftige Krankenbehandlung vermieden werden. Zur Stützung
ihres Vorbringens legte die Klägerin ein Gutachten ihres behandelnden Zahnarztes
Pxxx vor, der bescheinigte, dass ohne Anwendung des GTR-Verfahrens die Extraktion
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sämtlicher Zähne und Eingliederung einer Totalprothese erforderlich würden. Durch den
Erhalt der Zähne werde die Kaufunktion wieder vollhergestellt und die Klägerin könne
sich optimaler ernähren, wo durch auch spätere Folgeerkrankungen vermieden würden.
Seit Mitte der 80-er Jahre habe sich Gore-Tex in der klinischen Anwendung
durchgesetzt. Neuere Bestrebungen zielten nunmehr in der Parodontologie auf die
Verwendung von resorbierbaren Polyglactin-910-Membran-Material. Die anatomischen,
internistischen, parodontologischen und sonstigen Voraussetzungen der Klägerin seien
gut und ließen die Anwendung des GTR-Verfahrens zu. Die Beklagte holte eine
Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversiche rung - MDK -
Nordrhein ein. Dr. Sxxxxxxx vertrat in seinem Gutachten vom 04.09.1996 die
Auffassung, es stünden im Rahmen der vereinbarten vertraglichen Leistungskataloge
zweckmässige und ausreichende Behandlungsmöglichkeiten, notfalls unter Einsatz
weitgehen der prothetischer Mittel, zur Verfügung, die den Erhalt der Kaufähigkeit
sicherstellten. Die beantragte Versorgung sei als außervertragliche Leistung
anzusehen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 14.01.1997 wies die Beklagte daraufhin den
Widerspruch als unbegründet zurück.
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Die Klägerin hat am 13.02.1997 Klage vor dem Sozialgericht - SG - Duisburg erhoben.
Sie hat geltend gemacht, mittels der streitigen Behandlungsmethode, die
zwischenzeitlich erfolgreich abgeschlossen sei, sei ein Fortschreiten der
Knochendegeneration vermieden worden und bereits gelockerte Zähne hätten sich
wieder gefestigt. Die Alternative einer vollprothetischen Versorgung sei ihr auch aus
psychischen Gründen nicht zumutbar gewesen.
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Das SG hat einen Behandlungs- und Befundbericht des Zahnarztes Pxxx vom
07.10.1997 eingeholt, auf den wegen der Einzelheiten verwiesen wird. Ergänzend hat
der Zahnarzt Pxxx in einer Stellungnahme vom 11.11.1998 die Ansicht vertreten, ohne
Durchführung der streitigen Behandlung hätten unter den gegebenen Umständen die
Zähne zum jetzigen Zeitpunkt extrahiert werden müssen.
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Das SG hat des weiteren eine Stellungnahme des Bundesausschusses der Zahnärzte
und Krankenkassen vom 12.01.1999 eingeholt, auf die ebenfalls verwiesen wird.
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Mit Urteil vom 23.04.1999 hat das SG die Klage abgewiesen. Auf die
Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
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Gegen das ihr am 05.05.1999 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 31.05.1999
Berufung eingelegt. Sie ist der Auffassung, da sie nicht allein an einer schweren
Parodontose, sondern auch gleichzeitig an Knochenschwund im Kieferbereich gelitten
habe, sei eine vertragsgemäße Behandlung nicht ausreichend gewesen. Selbst eine
Vollprothese habe aber einen intakten Kieferknochen zur Voraussetzung.
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Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des SG Duisburg vom 23.04.1999 zu ändern und die Beklagte unter
Aufhebung des Bescheides vom 29.01.1996 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 14.01.1997 zu verurteilen, ihr 7.195,15 DM wegen der
erfolgten zahnärztlichen Behandlung durch den Zahnarzt Pxxx zu erstatten.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie ist der Ansicht, der Anspruch der Klägerin scheitere bereits daran, dass der
zuständige Bundesausschuss keine Empfehlung der streitigen Behandlungsmethode
ausgesprochen habe, so dass letztlich dahinstehen könne, ob andere
erfolgsversprechende Behandlungsmaßnahmen möglich gewesen seien.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug
genommen, die Gegenstand der Beratung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil den Rechtsstreit entscheiden
können, nachdem sich die Beteiligten mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt
haben (§ 124 Abs. 2 SGG).
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Die zulässige Berufung ist unbegründet.
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Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, weil der Klägerin der begehrte
Kostenerstattungsanspruch nicht zusteht.
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Der streitige Kostenerstattungsanspruch, der sich vorliegend allein aus § 13 Abs. 3, 2.
Alt. Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V)
ergeben kann, ist nicht begründet. Nach dieser Vorschrift sind, wenn die Krankenkasse
eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte
Leistung Kosten entstanden sind, diese von der Krankenkasse in der entstandenen
Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Das System der gesetzlichen
Krankenversicherung ist vom Sachleistungsprinzip geprägt, an dessen Stelle
ausnahmsweise nur dann der Kostenerstattungsanspruch treten kann, wenn zwischen
dem Entstehen der Kosten und dem Verhalten der Krankenkasse ein
Kausalzusammenhang besteht (BSG SozR 3-2500 § 13 Nrn. 11, 15). Bevor sich ein
Versicherter eine nichtvertragsärztliche Leistung selbst verschafft, muss er insbesondere
zur Vermeidung von Mißbräuchen der Krankenkasse die Prüfung der Leistung sowie
ihre Einstandspflicht im Einzelfall ermöglichen (BSG a.a.O. Nr. 15). Schon aus dem
Wortlaut der Vorschrift des § 13 Abs. 3 SGB V folgt, dass der Gesetzgeber die vorherige
Einschaltung der Krankenkasse zur Anspruchsvoraussetzung machen wollte, denn
nach § 13 Abs. 3 SGB V müssen die zu ersetzenden Kosten "dadurch" entstanden sein,
dass die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat (BSG a.a.O.).
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Selbst wenn der Versicherte mit einer ablehnenden Entscheidung der Krankenkasse
rechnen mußte, ist nach dem klaren Gesetzeswortlaut und den ansonsten entstehenden
Abgrenzungsschwierigkeiten die Ablehnungsentscheidung der Krankenkasse
unverzichtbare Voraussetzung des Kostenerstattungsanspruchs nach § 13 Abs. 3 2. Alt.
SGB V (BSG a.a.O. Nr. 15 unter Aufgabe der gegenteiligen früheren Rechtsprechung).
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An diesem Kausalzusammenhang fehlt es vorliegend, denn die streitige Behandlung
der Klägerin ist bereits am 22.01.1996 begonnen worden, ohne das die (Ablehnungs-
)Entscheidung der Beklagten abgewartet worden ist.
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Die Kosten für die nach der angefochtenen Entscheidung der Beklagten vom
29.01.1996 durchgeführten drei weiteren Behandlungsabschnitte (11. und 26.03.,
23.04.1996) sind nicht anders zu beurteilen. Grundlage dieser weiteren Behandlungen
war der einheitliche Heil- und Kostenplan des Zahnarztes Pxxxvom 27.10.1995. Wie die
Klägerin selbst eingeräumt hat, waren sämtliche Behandlungstermine von Anfang an
festgesetzt, so dass die gesamte Behandlung als unteilbare Leistung im Sinne des § 13
Abs. 3 SGB V angesehen werden muss (vgl. BSG SozR 3-2500 § 135 Nr. 4). Daher
besteht ein Anspruch auf Erstattung der Einzelleistungen nicht, da der
Kausalitätsmangel die Gesamtheit der entstandenen Kosten erfasst (vgl. Wagner in
Krauskopf, Kommentar zur Sozialen Kranken- und Pflegeversicherung, Rdn. 28 zu § 13
SGB V).
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Unabhängig davon scheitert der Kostenerstattungsanspruch der Klägerin daran, dass
die Beklagte die entsprechende Behandlung nicht geschuldet hat, wie dies das SG
bereits mit sehr eingehener Begründung überzeugend dargelegt hat. Der
Kostenerstattungsanspruch kann aber nur - mit Ausnahme eines hier nicht gegebenen
Notfalls - an die Stelle des Anspruchs auf eine Sach- oder Dienstleistung, wie sie von
der gesetzlichen Krankenkasse zu erbringen ist, treten (BSG SozR 3-2500 § 135 Nr. 4).
Nach § 28 Abs. 2 Satz 1 SGB V um faßt die zahnärztliche Behandlung die Tätigkeit des
Zahnarztes, die zur Verhütung, Früherkennung und Behandlung von Zahn-, Mund- und
Kieferkrankheiten nach den Regeln der ärztlichen Kunst ausreichend und zweckmäßig
ist. Gemäss den Richtlinien für eine ausreichende, zweckmässige und wirtschaftliche
vertragszahnärztliche Versorgung in der Fassung vom 24.07.1998 (BAnz Nr. 177) - B V -
umfasst die systematische Behandlung von Parodontopathien nicht die Versorgung mit
dem GTR-Verfahren. Wie Dr. Sxxxxxxx, dessen Gutachten der Senat urkundsbeweislich
verwertet hat, dargelegt hat, sind die nach diesen Richtlinien vertragszahnärztlich zur
Verfügung stehenden Behandlungsmethoden, ggfls. unter Einsatz prothetischer Mittel,
ausreichend für die Versorgung der Klägerin gewesen. Diese Beurteilung hat Dr.
Sxxxxxxx in Kenntnis des Befundes des Zahnarztes Pxxx getroffen, also auch unter
Beachtung des bestehenden Knochenschwundes. Dem hat letztlich auch der
behandelnde Arzt Pxxx nicht wiedersprochen, denn auf die wiederholte Anfrage des SG
hat er lediglich auf sein früheres für die Klägerin erstelltes Gutachten verwiesen und die
Auffassung vertreten, dass ohne seine Behandlung "heute" die Zähne hätten extrahiert
werden können. Daraus folgt aber nicht, dass bei Anwendung vertragsärztlicher
Leistungen eine ausreichende und zweckmäßige Versorgung der Klägerin nicht
möglich gewesen wäre. Dass der Zahnarzt Pxxx die Anwendung des GTR-Verfahrens
für sinnvoller erachtet hat, ist in soweit ohne Belang. Unter Berücksichtigung der
Darlegungen von Dr. Sxxxxxxx, dass selbst bei Verwendung des GTR-Verfahrens, das
auch nach der wissenschaftlichen Literatur nur in begrenztem Umfang zu einer
Regeneration des Knochens führt (vgl. Hoffmann- Axthelm, Lexikon der Zahnmedizin, 6.
Aufl., S. 294), nur mit einem kurzzeitigem Erhalt der Zähne zu rechnen sei, kann nicht
davon ausgegangen werden, dass die Anwendung des GTR-Verfahrens notwendig und
zweckmäßig im Sinne der §§ 12 Abs. 1, 28 Abs. 2 Satz 1 SGB V gewesen ist.
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Schließlich hatte die Klägerin gegen die Beklagte auch deshalb keinen Anspruch auf
zahnärztliche Versorgung mit dem GTR-Verfahren, weil es sich um eine neue
Behandlungsmethode handelt, die nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen
Krankenversicherung zählt. Nach § 135 Abs. 1 SGB V dürfen neue Untersuchungs- und
Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Kassen nur
abgerechnet werden, wenn der Bundesausschuss in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 1
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Nr. 5 SGB V Empfehlungen u.a. über die Anerkennung des diagnostischen und
therapeutischen Nutzens der Methode abgegeben hat. Das GTR-Verfahren stellt eine
neue Behandlungsmethode in diesem Sinne dar, weil es nach dem einheitlichen
Bewertungsmaßstab für die zahnärztliche Behandlung - BEMA-Z - nicht zu den
abrechnungsfähigen Leistungen zählt. Eine Empfehlung zur medizinischen
Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der streitigen Therapie hat der
Bundesausschuss der Zahnärzte und Krankenkassen bisher nicht abgegeben. Für ein
sogenanntes Systemversagen, das ausnahmsweise gleichwohl eine Einstandspflicht
der Krankenkasse zu begründen vermag (vgl. dazu BSG SozR 3-2500 § 135 Nr. 4;
SozR 3-2500 § 28 Nr. 4), ergeben sich an gesichts der Ermittlungen des SG keine
hinreichenden Anhaltspunkte.
Die Berufung der Klägerin mußte daher mit der auf § 193 SGG beruhenden
Kostenentscheidung zurückgewiesen werden.
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Die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht
erfüllt.
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