Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 13.06.2007

LSG NRW: einkommen aus erwerbstätigkeit, restriktive auslegung, sozialhilfe, vergleich, erwerbseinkommen, lastenverteilung, verfügung, form, rechtskraft, begriff

Landessozialgericht NRW, L 20 B 6/07 AS ER
Datum:
13.06.2007
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
20. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 20 B 6/07 AS ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Duisburg, S 31 AS 193/06 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Duisburg vom 06.01.2007 wird zurückgewiesen. Die
Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der
Antragsteller.
Gründe:
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Die Beteiligten streiten, nachdem sie für die Zwecke des Verfahrens auf Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes übrige Streitpunkte streitlos und zur endgültigen
Überprüfung im Hauptsacheverfahren gestellt haben, noch darüber, ob
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a) vom Einkommen des Antragstellers zu 1), das dieser aus selbstständiger Tätigkeit
erzielt, für die Zwecke der Berechnung der von den Antragstellern bezogenen
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II) im Rahmen der Berechnung der Anrechnung dieses
Einkommens auf die Leistungen nach § 11 Abs. 2 SGB II Absetzungen in Höhe von
insgesamt 280,00 EUR vorzunehmen sind (§ 11 Abs. 2 S. 2 SGB II: 100,00 EUR, § 11
Abs. 2 S. 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II: 180,00 EUR), und
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b) ob das anzurechnende Einkommen nach der sog. horizontalen oder der sog.
vertikalen Methode auf die Bedarfe der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft
anzurechnen ist.
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zu a) Der Senat geht mit dem Sozialgericht davon aus, dass vom anrechenbaren
Einkommen des Antragstellers zu 1) nach §§ 11 Abs. 2, 30 SGB II monatlich ein Betrag
von insgesamt 280,00 EUR abzusetzen ist. Zur Begründung nimmt der Senat Bezug auf
die Ausführungen des Sozialgerichts im angefochtenen Beschluss vom 06.01.2007 zu
II.2.c.bb., die er sich nach eigener Prüfung zu eigen macht (§ 142 Abs. 2 S. 3
Sozialgerichtsgesetz [SGG]). Denn bei summarischer Prüfung erscheint es nicht
naheliegend, den Begriff des Einkommens in § 11 Abs. 2 bzw. § 30 SGB II nur auf
Einkommen aus nichtselbstständiger Tätigkeit zu beziehen. Einkommen aus
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Erwerbstätigkeit, auf das sowohl § 11 Abs. 2 S. 2 als auch § 11 Abs. 2 S. 1 Nr. 6 i.V.m. §
30 SGB II abstellen, sind vielmehr Einnahmen, die der Hilfebedürftige unter Einsatz und
Verwertung seiner Arbeitskraft erzielt. Dabei erscheint es plausibel, eine Abgrenzung
von Erwerbseinkommen zu sonstigem Einkommen nach Maßgabe der Einkunftsarten
des Steuerrechts vorzunehmen. Erwerbseinkommen liegt deshalb insbesondere vor,
wenn Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb, selbstständiger Arbeit
i.S.d. §§ 2 Abs. 1 Nr. 1 - 3, 13 Abs. 1 und 2, 15 Abs. 1, 18 Abs. 1 des
Einkommensteuergesetzes (EStG) oder aus nichtselbstständiger Arbeit i.S.d. § 2 Abs. 1
Nr. 4, 19 Abs. 1 EStG erzielt werden (Birk, in: LPK-SGB II, 2. Aufl. 2007, § 30 Rn. 5).
zu b) Zur Frage nach der zutreffenden Anrechnungsmethode bei der Berücksichtigung
des Einkommens bei den einzelnen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft hat das
Sozialgericht ebenfalls zutreffend die sog. horizontale Methode angewandt.
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Nach Ansicht des Senats ergibt sich dies bei summarischer Prüfung bereits aus dem
Gesetzeswortlaut in § 9 Abs. 2 S. 3 SGB II. Nach dieser Vorschrift gilt, ist in einer
Bedarfsgemeinschaft nicht der gesamte Bedarf aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt,
jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum
Gesamtbedarf als hilfebedürftig. Im Einzelfall führt diese Regelung dazu, dass in einer
Bedarfsgemeinschaft selbst derjenige, dessen individueller Bedarf durch Einkommen
gedeckt ist, wie ein Hilfebedürftiger behandelt wird und ihm auf diese Weise, ohne dass
individuelle Hilfebedürftigkeit vorliegt, ein anteiliger individueller Anspruch gleichwohl
zugestanden werden muss (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 07.11.2006 - B 7b AS 8/06
R zu II.3. im Zusammenhang der Erörterung des eigenständigen Leistungsanspruchs
und damit auch der Notwendigkeit einer Klage jedes einzelnen Mitglieds einer
Bedarfsgemeinschaft trotz eines nur einheitlich erteilten einzigen Leistungsbescheids).
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Nicht zulässig ist bei summarischer Prüfung demgegenüber die sog. vertikale
Anrechnungsmethode, bei der zunächst beim Einkommensempfänger das Einkommen
auf dessen gesamten Bedarf angerechnet wird und nur im Falle eines fortbestehenden
Überhangs eine weitere Verteilung auf andere Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft
erfolgt mit der Folge, dass der Einkommensempfänger ggf. - wie im vorliegenden
Verfahren der Antragsteller der zu 1) - als nicht bedürftig angesehen wird.
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Eine solche vertikale Vorgehensweise übersieht gerade, dass § 9 Abs. 2 S. 3 SGB II
den Einkommensbezieher in einer Bedarfsgemeinschaft wie einen Hilfsbedürftigen
behandelt und ihm deshalb einen individuellen anteiligen Anspruch auch bei
mangelnder individueller Hilfebedürftigkeit zugesteht. Wenn demgegenüber (z.B. von
Brühl/Schoch, in: LPK a.a.O., § 9 Rn. 44) vertreten wird, § 9 Abs. 2 S. 3 SGB II sei nur
insoweit anzuwenden, als der individuelle Bedarf eines Mitglieds der
Bedarfsgemeinschaft nicht bereits aus eigenen Mitteln und Kräften gedeckt werden
könne, so widerspricht dies dem deutlichen Gesetzeswortlaut. Dem Senat erscheint es
bei summarischer Prüfung nicht zulässig, eine den Wortlaut deutlich überschreitende
restriktive Auslegung des § 9 Abs. 2 S. 3 SGB II unter Berufung auf den Sinn und Zweck
des Gesetzes zur Anwendung zu bringen. Dies gilt um so mehr, als der Gesetzeszweck
in den Gesetzesmaterialien gar nicht näher erläutert wird (vgl. dazu a.a.O., Rn. 40).
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Gesichtspunkte, welche die Lastenverteilung für Aufwendungen nach dem SGB II
zwischen der Bundesagentur für Arbeit und kommunalen Trägern in den Blick nehmen
(vgl. hierzu Kievel, Die Bedeutung des § 9 Abs. 2 S. 3 SGB II und die Frage, ob das
Berechnungsprogramm der Bundesagentur für Arbeit das Gesetz richtig umsetzt -
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Gleichzeitig ein Beitrag zur Frage der Verteilung der Geldleistungen auf die
Bundesagentur für Arbeit und die kommunalen Träger, in: ZfF 2005, S. 217 - 227;
Gerlach, Unberechtigte Belastung der Kommunen durch die Hintertür?, in: Die
Gemeinde SH 2006, S. 254 - 267) können demgegenüber bei summarischer Prüfung
von vornherein keinen Einfluss auf die Auslegung des § 9 Abs. 2 S. 3 SGB II haben.
Denn sie haben keine Anbindung an den Wortlaut der Vorschrift, und auch eine
Anbindung an den Sinn und Zweck der Vorschrift ist nicht ersichtlich. Zwar mag es unter
diesem Gesichtspunkt der Lastenverteilung für die beteiligten Leistungsträger von
großem wirtschaftlichen Interesse sein, ob die sog. horizontale oder die sog. vertikale
Anrechnungsmethode anzuwenden ist. Das jeweilige Ergebnis kann jedoch nur eine
Nebenfolge der Auslegung der Vorschrift sein; den Inhalt der Vorschrift selbst kann dies
Ergebnis jedoch nicht bestimmen. Etwa als ungerechtfertigt anzusehende finanzielle
Folgen auf der Seite des einen oder anderen Leistungsträgers könnten ggf. vielmehr
allenfalls Grund sein, den Gesetzgeber im Bereich der Kostenlastverteilung zu einer
Überprüfung der bestehenden Regelung zu veranlassen.
An der hier gefundenen Auslegung des § 9 Abs. 2 Satz 3 SGG könnte es auch nichts
ändern, wenn - was der Senat offen lassen kann - im Bereich der Sozialhilfe eine
andere Anrechnungsmethode für Einkommen innerhalb von Bezugsgemeinschaften
anzuwenden sein sollte. Denn die Ansicht, dass im Bereich der Sozialhilfe geltende
Grundsätze auch im Bereich des Arbeitslosengeldes II anzuwenden seien, weil im
Vergleich zur Sozialhilfe - insbesondere zur Hilfe zum Lebensunterhalt - in diesem
Punkt keine Unterschiede beständen (so etwa Gerlach, a.a.O., S. 256) übersieht, dass
der Gesetzgeber im SGB II im Unterschied zur früheren Sozialhilfe das Institut der
Bedarfsgemeinschaft mit den für sie geltenden Sonderregelungen in dieser Form
erstmals geregelt hat; Unterschiede in den Anrechnungsweisen des Einkommens
zwischen Sozialhilfe und Grundsicherung für Arbeitsuchende können deshalb ggf.
durchaus vom Gesetzgeber akzeptiert worden sein.
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Bei summarischer Prüfung sprechen auch nicht etwa die überwiegenden Gründe für
eine Verfassungswidrigkeit des § 9 Abs. 2 S. 3 SGB II (in der vom Senat einstweilen für
zutreffend gehaltenen Lesart), weil ein - als Einzelperson betrachtetes - Mitglied der
Bedarfsgemeinschaft an sich in der Lage wäre, seinen eigenen Bedarf vollständig aus
eigenem Einkommen zu decken und ihn die horizontale Anrechnungsmethode
gleichwohl sozialleistungsbedürftig mache (so etwa Kievel, a.a.O., S. 220, der darin
unter Berufung auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26.11.1998 -
BVerwGE 108, 36 ff. 38 einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz [GG] sieht). Der
Senat folgt insoweit ebenfalls der Entscheidung des BSG vom 07.11.2006 - B 7b AS
8/06 R, die (zu II.4. und m.w.N. zu den gegenläufigen Ansichten) dieser Ansicht "in
dieser Allgemeinheit nicht gefolgt" ist. Denn diese Ansicht übersieht, dass das SGB II
selbst dem individuell nicht Bedürftigen, dessen Einkommen jedoch ggf. im höheren
Maße als bei Anwendung der vertikalen Anrechnungsmethode bei einer horizontalen
Anrechnung für Bedarfe übriger Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft zur Verfügung
stehen muss, gleichsam im Gegenzug einen Leistungsanspruch nach dem SGB II
zugesteht. Das BSG hat insoweit ausgeführt, das verfassungsrechtliche Problem läge
mithin allenfalls in der "Kürzung" der Leistungsansprüche der bedürftigen Mitglieder
einer Bedarfsgemeinschaft (welche bei horizontaler Anrechnung ihre eigenen Bedarfe
ggf. in höherem Umfang durch das Einkommen des Einkommensbeziehers gedeckt
sehen müssen als bei vertikaler Anrechnung). Diese Rechtsfolge sei jedoch zumindest
so lange hinzunehmen, als es sich um eine "funktionierende" Bedarfsgemeinschaft
handele. In solchen funktionierenden Bedarfsgemeinschaften darf auch nach Ansicht
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des Senats typisierend vom Wirtschaften "aus einem Topf" ausgegangen werden; denn
Bedenken, die bei Anwendung der horizontalen Anrechnungsmethode wegen der mit
ihr einhergehenden rechtlichen Hilfebedürftigkeit auch des an sich ausreichend mit
eigenen Mitteln versorgten Einkommensbeziehers mit Blick auf Art. 1 Abs. 1 GG
ausgelöst werden, müssen wegen der Notlage der als Einheit wirtschaftenden,
funktionierenden Bedarfsgemeinschaft als ganzer akademisch anmuten. Jedenfalls
erschiene es im Rahmen des Verfahrens auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes
nicht recht nachvollziehbar, einen Anspruch der Antragsteller (insbesondere des
Antragstellers zu 1) aufgrund einer Anwendung der vertikalen Anrechnungsmethode im
Vergleich zur horizontalen Methode mit der Begründung zu verkürzen, die Anwendung
der horizontalen Methode verletze den Antragsteller zu 1) in Verfassungsrechten.
Sprechen bei summarischer Prüfung nach allem insgesamt die überwiegenden Gründe
für die sog. horizontale Methode der Einkommensanrechnung in
Bedarfsgemeinschaften des SGB II, so ist das Verfahren auf Gewährung einstweiligen
Rechtsschutzes darüber hinaus nicht geeignet, eine in alle Einzelheiten gehende
rechtliche Abwägung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung wie in einem
Hauptsacheverfahren durchzuführen. Die Antragsgegnerin mag zwar zu Recht eine
große praktische Relevanz über den vorliegenden Fall hinaus und damit ein hohes
Klärungsbedürfnis für diese Frage reklamieren. Gleichwohl ist es ihr zumutbar, eine
abschließende Klärung im Hauptsacheverfahren herbeizuführen. Denn (nur) dort findet
keine Beschränkung auf eine summarische Prüfung statt, und einzig dort kann auch
wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 160 Abs. 2 Nr. 1
Sozialgerichtsgesetz (SGG) ggf. eine höchstrichterliche Klärung herbeigeführt werden;
allein eine solche wäre jedoch geeignet, über den Einzelfall hinaus eine
Rechtserkenntnis zu liefern, die auch für andere Anwendungsfälle letztlich
Rechtssicherheit schafft.
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Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Hinsichtlich der Antragstellerin zu 2), der vom Sozialgericht keine Leistungen
zugesprochen wurden, berücksichtigt der Senat dabei, dass bei summarischer Prüfung
angesichts der konkreten Umstände ihrer beruflichen Vita und ihrer familiären Situation
die besseren Gründe für die von den Beteiligten im Erörterungstermin vom 03.05.2007
getroffene vergleichsweise Lösung einer Darlehensgewährung gesprochen haben.
Zwar standen der Antragstellerin zu 2) ersichtlich keine nicht rückzahlbaren
Zuschussleistungen zu; der Grad ihres Unterliegens ist i.V.m. mit dem gänzlichen
Obsiegen der Antragsteller zu 1) sowie 2) bis 5) jedoch so gering, dass es insgesamt
gerechtfertigt erscheint, der Antragsgegnerin die gesamten außergerichtlichen Kosten
der Antragsteller aufzuerlegen.
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Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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