Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 15.09.2010

LSG NRW (eintritt des versicherungsfalls, versicherungsfall, eintritt des versicherungsfalles, tätigkeit, festsetzung, vollzeitbeschäftigung, arbeitsentgelt, unbestimmter rechtsbegriff, höhe, familie)

Landessozialgericht NRW, L 17 U 26/09
Datum:
15.09.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
17. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 17 U 26/09
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 21 U 189/05
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 2 U 24/10 R
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts
Dortmund vom 19. Dezember 2008 wird zurückgewiesen. Kosten sind
auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird
zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten darüber, ob der für die Verletztenrente der Klägerin maßgebende
Jahresarbeitsverdienst (JAV) neu festzusetzen ist.
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Die 1965 geborene Klägerin war nach ihrer Ausbildung zur Krankenpflegerin ab dem
01.10.1989 als Krankenschwester tätig, in der Zeit vom 01.06.1990 bis zum 30.06.1991
und vom 01.02.1992 bis zum 31.03.1995 in Teilzeit. In der Zeit vom 22.07.1999 bis zum
27.10.1999 befand sie sich im Mutterschutz, hatte sodann vom 28.10.1999 bis zum
06.12.1999 ihren Jahresurlaub und bezog vom 07.12.1999 bis zum 31.01.2000
Erziehungsgeld. Für den Zeitraum vom 01.02.2000 bis zum 31.08.2002 vereinbarte sie
mit ihrem Arbeitgeber eine befristete Teilzeittätigkeit (19,25 Stunden wöchentlich) im
Rahmen des Erziehungsurlaubs. Aus dieser Tätigkeit erzielte sie in der Zeit vom
01.04.2000 bis zum 31.03.2001 einschließlich Einmalzahlungen ein Brutto-
Arbeitsentgelt in Höhe von 18.076,74 EUR. Am 06.04.2001 erlitt die Klägerin einen
Bandscheibenvorfall und war in der Folgezeit arbeitsunfähig.
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Mit Bescheid vom 25.05.2005 erkannte die Beklagte die bandscheibenbedingte
Erkrankung der Lendenwirbelsäule der Klägerin als Berufskrankheit (BK) nach der Nr.
2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) an und stellte den
07.04.2001 als Tag des Versicherungsfalls fest. Ab dem 04.02.2002 bewilligte die
Beklagte der Klägerin Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
von 20 v.H. und legte der Rentenberechnung einen JAV in Höhe von 18.076,74 EUR
zugrunde.
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Gegen die Festsetzung des JAV erhob die Klägerin Widerspruch und machte geltend,
indem bei der Berechnung des JAV die Tätigkeit in der Elternteilzeit als
Berechnungsgrundlage herangezogen werde, liege eine unverhältnismäßige
Benachteiligung ihrer Familie. Wegen der fehlenden Betreuungsmöglichkeiten für
Kinder unter drei Jahren habe sie keine Alternative zur Beantragung von
Erziehungsurlaub gesehen. Es sei für sie nicht nachvollziehbar, dass allein aufgrund
des Ausbruchs der BK während der Teilzeit diese zugrunde gelegt werde, zumal ihre
Vollzeitbeschäftigung die BK begünstigt habe und eine erneute Vollzeitbeschäftigung
schon zu Beginn der Teilzeit geplant gewesen sei. Daher sei bei der Festsetzung des
JAV die Vollzeitbeschäftigung als Krankenschwester auf einer Intensivstation zu
berücksichtigen.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 25.08.2005 wies die Beklagte den Widerspruch gegen
die Festsetzung des JAV zurück und führte zur Begründung aus, mit Blick auf den am
07.04.2001 eingetretenen Versicherungsfall berechne sich der JAV gemäß § 82 Abs. 1
Satz 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) aus
der Summe der in der Zeit vom 01.04.2000 bis 31.03.2001 erzielten Entgelte. Unter
Berücksichtigung der Entgeltangaben des Arbeitgebers zu den laufenden Entgelten und
der in diesem Zeitraum gewährten Einmalzahlung sei der JAV in Höhe von 18.076,74
EUR zugrunde zu legen. Dieser JAV sei nicht in erheblichem Maße unbillig. Die
Klägerin habe bereits in der Zeit vor Eintritt der Elternzeit Teilzeittätigkeit verrichtet.
Nach der Geburt der Tochter habe sie die Mutterschutzfrist sowie Elternzeit in Anspruch
genommen. Schließlich habe sie dann am 01.02.2000 erneut eine befristete
Teilzeittätigkeit aufgrund der Erziehung des Kindes aufgenommen. Eine
Berücksichtigung von Teilzeit führe deswegen nicht zur unbilligen Härte, weil § 87 SGB
VII lediglich atypische Fallkonstellationen erfassen wolle. Unter Berücksichtigung der
Ausbildung, der Lebensstellung und der beruflichen Chronik sowie der Tätigkeit im
Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls habe sich keine entsprechende atypische
Fallkonstellation erkennen lassen.
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Dagegen hat die Klägerin am 01.09.2005 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Dortmund
erhoben und ausgeführt, ihre Lebensstellung sei insgesamt durch ihre Einkünfte aus
einer Vollzeittätigkeit geprägt gewesen.
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Die Beklagte hat vorgetragen, bei § 87 SGB VII handele es sich um eine eng
auszulegende Ausnahmeregelung. Hätte der Gesetzgeber das Auffüllen einer
Einkommensminderung während der Inanspruchnahme der Elternzeit sozialpolitisch
regeln wollen, hätte er dies gesetzlich formulieren können.
8
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 19.12.2008 abgewiesen.
9
Gegen das ihr am 22.01.2009 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 18.02.2009
Berufung eingelegt.
10
Sie trägt vor, die Festsetzung des JAV sei in erheblichem Maße unbillig und daher
korrekturbedürftig, weil der angesetzte JAV im Ergebnis der durch ihr Erwerbsleben
bestimmten Einkommenssituation nicht entspreche. Zu Unrecht sei nicht berücksichtigt
worden, dass sie während ihrer Berufstätigkeit ganz überwiegend eine Vollzeitstelle
inne gehabt und sich hieran ihr Lebensstandard orientiert habe. Denn von insgesamt 18
Jahren und 1 Monat Beschäftigung in der Zeit vom 01.07.1984 bis zum 31.08.2002 habe
sie lediglich 6 Jahre und 6 Monate eine Teilzeitbeschäftigung, die übrige Zeit dagegen
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eine Vollzeitbeschäftigung ausgeübt. Durch das aus Vollzeittätigkeit erzielte
Einkommen sei mithin ihr Lebensstandard bestimmt worden. Überdies habe das Entgelt
während der Zeiten, in denen sie weniger als Vollzeit gearbeitet habe, aufgrund der
Nachtdiensttätigkeit im Wesentlichen dem entsprochen, welches sie während ihrer
Vollzeitbeschäftigung erzielt habe. Insoweit sei ihr materieller Lebensstandard auch in
den Zeiten der Teilzeittätigkeit der Höhe nach durch Einkünfte bestimmt worden, die
denen aus Vollzeittätigkeit weitgehend entsprochen hätten. Damit berücksichtige der
festgestellte JAV im Ergebnis nicht ihre überwiegende Einkommenssituation, auf die sie
sich nahezu ausschließlich - mit eben der Ausnahme des Zeitraumes vom 01.02.2000
bis zum 31.08.2002 - habe einrichten können. Der Versicherungsfall sei zufällig und
durch sie nicht beeinflussbar zu einem Zeitpunkt eingetreten, in dem sie sich im
Rahmen des Erziehungsurlaubs in einer hierdurch zwangsweise befristeten
Teilzeittätigkeit befunden habe. Angesichts des Eintritts des Versicherungsfalls im
Zeitraum des für die Einkommenssituation nicht repräsentativen Zeitraums des
Erziehungsurlaubs bedürfe es eines auch zeitlichen Korrektivs des JAV. Die
Anwendung der §§ 82 ff. SGB VII widerspreche hier insbesondere auch den sozial- und
familienpolitischen Zielen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Als
Bemessungsgrundlage für den JAV starr den Zeitraum des Jahres vor Eintritt des
Versicherungsfalles zu Grunde zu legen, der nicht der regelmäßigen
Einkommenssituation entspreche, verstoße bei einer derartigen Konstellation gegen Art.
6 des Grundgesetzes (GG) sowie gegen Art. 3 GG. Art. 6 GG unterstelle Ehe und
Familie dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung, der es gebiete, dass Ehe und
Familie Förderung erfahren und die Betreuung und Erziehung von Kindern - die im
sozialpolitischen, aber auch wirtschaftlichen Interesse der Allgemeinheit und des
Staates lägen - nicht den Betroffenen zum Nachteil gereiche. Art. 3 Abs. 1 GG gebiete,
wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln.
Vorliegend werde eine Gruppe von Normadressaten - hier: von Müttern in einer ihrer
Lebenssituation vergleichbaren Situation, bei denen die Arbeitszeit infolge
Erziehungsurlaubs zwingend (und nicht aufgrund freier Willensentscheidung) reduziert
sei - anders behandelt als andere Normadressaten (hier: Mütter, die Erziehungsurlaub
nicht in Anspruch nehmen). Offenbar habe der Gesetzgeber diesen Fall in der
Vergangenheit nicht bedacht. Insoweit sei auch auf einen Entwurf der
Unfallversicherungs-Projektgruppe des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und
die dort geplante Leistungsreform der gesetzlichen Unfallversicherung zu verweisen.
Dort werde zu § 88 SGB VII des Entwurfs ausgeführt, durch diese Vorschrift solle
verhindert werden, dass Versicherte einen Nachteil dadurch erleiden, dass ein
Versicherungsfall in der Zeit eintritt, in der sie aufgrund einer Elternzeit kein oder nur ein
vermindertes Einkommen haben.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 19.12.2008
abzuändern und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 25.05.2005 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.08.2005 zu verpflichten, die Höhe des
Jahresarbeitsverdienstes unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu
festzusetzen.
12
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
13
Sie trägt vor, das Bundessozialgericht (BSG) habe auch für die Auslegung des dem § 87
SGB VII entsprechenden § 577 Reichsversicherungsordnung (RVO) den allgemeinen
Grundsatz des Unfallversicherungsrechts zugrunde gelegt, dass für die Berechnung der
Leistungen die Verhältnisse im Jahr vor dem Arbeitsunfall maßgebend seien. In den
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Vorjahren erzielte Entgelte oder nach dem Versicherungsfall zu erwartende höhere
Entgelte seien nicht zu berücksichtigen. Minderungen des Arbeitseinkommens oder
Arbeitsentgelts, die sich aus einer auf Dauer akzeptierten Senkung des
Lebensstandards ergäben, würden nicht ausgeglichen. Mit Hilfe der in § 87 Satz 2 SGB
VII genannten Kriterien dürften die in §§ 82, 84 bis 86 SGB VII geltenden Grundsätze
nicht in Frage gestellt werden Der Grundsatz sei nur dann nicht maßgebend, wenn
innerhalb des betreffenden Jahres beim Versicherten eine wesentliche Änderung der
beruflichen Situation verbunden mit einer erheblichen Änderung seines Einkommens
nicht nur vorübergehend eingetreten sei. Das sei bei der Klägerin nicht der Fall.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen. Beide Akten waren Gegenstand der
mündlichen Verhandlung.
15
Entscheidungsgründe:
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Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht
abgewiesen. Die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid der Beklagten vom
25.05.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.08.2005 nicht im Sinne
von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da diese Entscheidung
rechtmäßig ist. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, der Klägerin im Hinblick auf den der
Verletztenrente zugrunde gelegten JAV einen neuen Bescheid zu erteilen.
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Berechnungsgrundlage für die der Klägerin aus Anlass der anerkannten BK dem
Grunde nach unstreitig zustehende Verletztenrente ist - neben dem Grad der MdE - der
JAV. Hierfür ist im Regelfall der Gesamtbetrag aller Arbeitsentgelte und
Arbeitseinkommen (§§ 14, 15 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch [SGB IV]) des
Versicherten in den letzten zwölf Kalendermonaten vor dem Monat, in dem der
Versicherungsfall eingetreten ist, maßgebend (§ 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Unter
Berücksichtigung dieser Vorgaben hat die Beklagte der Verletztenrente zutreffend einen
JAV von 18.076,74 EUR zugrunde gelegt, weil dieser Betrag dem Brutto-Arbeitsentgelt
entspricht, welches die Klägerin in der Zeit vom 01.04.2000 bis zum 31.03.2001 und
damit in dem Zwölfmonatszeitraum vor dem Monat des Eintritts des Versicherungsfalls
erzielt hat.
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Diese Festsetzung ist entgegen der Auffassung der Klägerin nicht in erheblichem Maße
unbillig, so dass eine Bestimmung des JAV nach § 87 Satz 1 SGB VII nach billigem
Ermessen im Rahmen des Mindest- und des Höchst-JAV (vgl. § 85 SGB VII)
ausscheidet.
19
Die Wertung, ob der berechnete JAV "in erheblichem Maße unbillig" ist, hat das Gericht
in vollem Umfang selbst vorzunehmen. Unbilligkeit im Sinne des § 87 Satz 1 SGB VII ist
ein unbestimmter Rechtsbegriff; erst bei Vorliegen seiner Voraussetzungen hat der
Versicherungsträger Ermessenserwägungen anzustellen (vgl. BSG SozR 2200 § 577
Nr. 9; BSG, Urteil vom 28.01.1993 - 2 RU 15/92 = HV-Info 1993, 972; BSG SozR 4-2700
§ 87 Nr. 1). Über das Vorliegen einer erheblichen Unbilligkeit in diesem Sinne kann nur
im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände entschieden werden. Dabei sind
die in § 87 Satz 2 SGB VII genannten Bewertungsgesichtspunkte (Fähigkeiten,
Ausbildung, Lebensstellung und Tätigkeit der Versicherten im Zeitpunkt des
Versicherungsfalls) zu berücksichtigen (vgl. BSG SozR 3-2200 § 577 Nr. 2).
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Unter Würdigung der vom Gesetzgeber aufgeführten Bewertungsgesichtspunkte
entspricht der von der Beklagten festgesetzte JAV in Höhe von 18.076,74 EUR nicht nur
den Fähigkeiten, der Ausbildung und der Tätigkeit der Klägerin im Zeitpunkt des
Versicherungsfalls (07.04.2001), sondern auch ihrer zu diesem Zeitpunkt erreichten
"Lebensstellung". Eine Korrektur des JAV mit Blick auf die zuletzt bis zum 21.07.1999
ausgeübte Vollzeitbeschäftigung über die Regelung in § 87 SGB VII kommt damit
entgegen der Auffassung der Klägerin nicht in Betracht. Abgesehen davon, dass ihr
Vorbringen, sie habe während ihrer Berufstätigkeit ganz überwiegend eine Vollzeitstelle
inne gehabt und ihr Lebensstandard habe sich hieran orientiert, schon in tatsächlicher
Hinsicht nur sehr bedingt zutrifft, weil sie jedenfalls in der Zeit nach Abschluss ihrer
Ausbildung bis zum Eintritt des Versicherungsfalls in einem Zeitraum von 65 Monaten
und 21 Tagen (01.10.1989 bis 30.04.1990, 01.07.1991 bis 31.02.1992 und 01.04.1995
bis 21.07.1999) eine Vollzeitstelle inne gehabt hat, während sie in einem fast
deckungsgleichen Zeitraum von 65 Monaten und 6 Tagen (01.06.1990 bis 30.06.1991,
01.02.1992 bis 31.03.1995 und 01.02.2000 bis 06.04.2001) einer Teilzeitbeschäftigung
nachgegangen ist, widerspricht eine Berücksichtigung der Erwerbseinkünfte außerhalb
des Zwölfmonatszeitraums sowohl der gesetzgeberischen Grundentscheidung in § 82
Abs. 1 Satz 1 SGB VII als auch der Regelung in § 87 Satz 2 SGB VII, wonach es auf die
Verhältnisse im Zeitpunkt des Versicherungsfalls ankommt. Die Festsetzung eines JAV
nach billigem Ermessen gemäß § 87 Satz 1 SGB VII kommt damit von vornherein nicht
in Betracht, wenn der nach den §§ 82 bis 86 SGB VII ermittelte JAV der Lebensstellung
des Versicherten in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat des Versicherungsfalls
entspricht (vgl. LSG Berlin, Urteil vom 09.08.2004 - L 16 U 79/03; Keller, in: Hauck/Noftz,
SGB VII, K § 87 Rz. 6). Dies gründet sich in folgenden Erwägungen:
21
§ 82 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sieht die Addition aller Arbeitsentgelte und
Arbeitseinkommen des Versicherten im Jahre vor dem Versicherungsfall als JAV vor. Es
wird also darauf abgestellt, welche Beträge der Versicherte im letzten Jahr vor dem
Versicherungsfall insgesamt an Entgelt oder Einkommen durch Arbeit erworben hat.
Damit wird im Regelfall der zur Zeit des Versicherungsfalls erreichte Lebensstandard
des Versicherten erfasst (vgl. BSG SozR 2200 § 571 Nr. 1; BSG SozR 2200 § 571 Nr.
15; BSG SozR 2200 § 577 Nr. 9; Burchhardt in Becker/Burchhardt/Krasney/Kruschinsky,
Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII), § 82 Rz. 11; Schmitt, SGB VII, 4. Aufl.2009, §
82 Rz. 4; Schudmann in: jurisPK-SGB VII, § 82 Rz. 22). Der Gesetzgeber geht mit
anderen Worten typisierend davon aus, dass die Arbeitsentgelts- oder
Einkommenssituation des Versicherten im letzten Jahr vor dem Versicherungsfall im
Wesentlichen den vor dem Unfall erreichten Lebensstandard wiedergibt. Damit aber ist
eine Heranziehung von Arbeitsentgelten aus zurückliegenden Jahren auch im Rahmen
des § 87 SGB VII nicht möglich. Denn § 87 SGB VII ergänzt nur die Vorschrift des § 82
SGB VII, ohne die dort getroffene grundsätzliche Regelung anzutasten (vgl. zu § 577
RVO: BSG SozR 2200 § 571 Nr. 1; BSGE 50, 264 = SozR 2200 § 571 Nr. 19). Ohnedies
wäre aufgrund des Fehlens eines entsprechenden Anhaltspunktes im Gesetz auch
völlig unklar, wie weit ein Rückgriff auf Erwerbseinkommen in vergangenen Zeiträumen
zu erfolgen hätte (zurückliegende drei, fünf oder sieben Jahre vor dem
Versicherungsfall, gar das gesamte Erwerbsleben?).
22
Zutreffend hat die Beklagte darauf hingewiesen, dass das BSG bereits für die
Auslegung des § 577 RVO, der Vorläuferregelung von § 87 SGB VII, den allgemeinen
Grundsatz des Unfallversicherungsrechts zugrunde gelegt hat, dass für die Berechnung
der Leistungen die Verhältnisse im Jahr vor dem Versicherungsunfall maßgebend sind
(vgl. BSG SozR 2200 § 571 Nr. 1; BSGE 50, 264 = SozR 2200 § 571 Nr. 19; BSG, Urteil
23
vom 28.01.1993 - 2 RU 15/92 - HV-Info 1993, 972). In Vorjahren erzielte Entgelte oder
nach dem Versicherungsfall zu erwartende höhere Entgelte sind grundsätzlich nicht zu
berücksichtigen, so dass ein zeitliches Korrektiv des JAV entgegen der Auffassung der
Klägerin nicht geboten ist. Dieser Grundsatz kommt nur dann nicht zum Tragen, wenn
innerhalb des maßgeblichen Jahres beim Versicherten eine wesentliche Änderung der
beruflichen Situation verbunden mit einer erheblichen Änderung des
Arbeitseinkommens eingetreten ist. Dies aber ist bei der Klägerin, die bereits seit dem
01.02.2000 ihre Teilzeittätigkeit im Rahmen ihres Erziehungsurlaubs ausübte, mit Blick
auf den hier maßgeblichen Jahreszeitraum vom 01.04.2000 bis zum 31.03.2001 nicht
der Fall.
Die Auslegung des § 577 RVO durch das BSG hat den Gesetzgeber auch nicht
veranlasst, den § 87 SGB VII abweichend zu regeln, vielmehr ist zur Einführung dieser
Vorschrift durch das Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz vom 07.08.1996 zum
01.01.1997 in der amtlichen Begründung ausgeführt worden, die Vorschrift über die
Festsetzung des JAV nach billigem Ermessen entspreche geltendem Recht (BT-Drucks.
13/2204, S. 96). Insofern kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die
Auslegung des § 577 RVO durch das BSG auch unter der Geltung von § 87 SGB VII
noch Gültigkeit beansprucht (vgl. Dahm, in: Lauterbach, SGB VII, § 87 Rz. 4).
24
Dass der Eintritt des Versicherungsfalls während einer Elternzeit und einer damit
verbundenen Verminderung des Erwerbseinkommens nicht ohne weiteres zur
Unbilligkeit der JAV-Festsetzung im Sinne von § 87 Satz 1 SGB VII führt, wird mittelbar
auch daran deutlich, dass nach dem von der Klägerin in Bezug genommenen
Arbeitsentwurf aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales zur Leistungsreform
der gesetzlichen Unfallversicherung eine Neuregelung in § 88 SGB VII angedacht war,
nach der die Möglichkeit einer Korrektur des JAV im Sinne der Klägerin möglich
gewesen wäre. Würde diese Fallkonstellation bereits nach geltendem Recht von § 87
SGB VII erfasst, bedürfte es einer entsprechenden Neuregelung nicht. Die geplante
Regelung ist aber weder gesetzlich verankert worden noch überhaupt in einen
Gesetzentwurf gelangt, sondern vielmehr ein bloßer Arbeitsentwurf geblieben, so dass
die Klägerin hieraus de lege lata nichts herleiten kann.
25
Entgegen der Mutmaßung der Klägerin kann auch nicht davon ausgegangen werden,
der Gesetzgeber habe den Fall des Eintritts des Versicherungsfalls während der
Elternzeit bislang schlichtweg nicht bedacht. Denn die Problemstellung, dass sich ein in
der Elternzeit vermindertes Arbeitsentgelt auf die Höhe einer Sozialleistung
auszuwirken vermag, war dem Gesetzgeber durchaus bekannt. So hat er beispielsweise
für den Bereich der Arbeitsförderung in § 130 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch
Drittes Buch - Arbeitsförderung (SGB III) geregelt, dass bei der Ermittlung des
Bemessungszeitraums solche Zeiten außer Betracht bleiben, in denen der Arbeitslose
Elterngeld oder Erziehungsgeld bezogen hat. Diese Regelung, die entsprechend bereits
in § 112 Abs. 2 Satz 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) enthalten war, schützt den
Arbeitnehmer, der während des Bezugs von Erziehungs- oder Elterngeld einer
Beschäftigung nachgeht, vor den nachteiligen Folgen bei der Bemessung des
Arbeitslosengeldes, wenn er wegen der Betreuung eines Kindes ein geringeres
Arbeitsentgelt erzielt oder den zeitlichen Umfang seiner Beschäftigung reduziert hat.
26
Dass vorliegend bei der Ermittlung des JAV nicht das Arbeitsentgelt zugrunde gelegt
wird, das die Klägerin zuletzt im Rahmen ihrer Vollzeitbeschäftigung erzielt hat bzw. -
ohne den Versicherungsfall - nach Ende der Elternzeit gegebenenfalls wieder hätte
27
erzielen können, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Eine Verpflichtung des Gesetzgebers, bei Versicherten, die den Versicherungsfall
während der Elternzeit erleiden, den JAV nicht - wie im Regelfall - nach den
Verhältnissen im Jahr vor dem Versicherungsunfall zu bestimmen, sondern entweder
anhand des vor der Kindererziehung erzielten Arbeitsentgelts oder desjenigen Entgelts,
das die Versicherten nach einer Wiederaufnahme ihrer vor der Elternzeit verrichteten
Tätigkeit voraussichtlich erzielt hätten, lässt sich zunächst nicht aus Art. 6 Abs. 1 GG
herleiten. Diese Norm unterstellt zwar Ehe und Familie dem besonderen Schutz der
staatlichen Ordnung, verpflichtet den Staat jedoch nicht, jegliche die Familie treffende
Belastung auszugleichen oder die Familie ohne Rücksicht auf sonstige öffentliche
Belange zu fördern. Daher lassen sich aus der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG
auch in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip keine konkreten Folgerungen dafür
ableiten, wie in den einzelnen Rechtsgebieten und Teilsystemen ein
Familienlastenausgleich zu verwirklichen ist. Insoweit besteht vielmehr grundsätzlich
Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers (vgl. BVerfGE 87, 1, 36 = SozR 3-5761 Allg. Nr.
1), ohne dass aus dem Förderungsgebot des Art. 6 Abs. 1 GG konkrete Ansprüche auf
bestimmte staatliche Leistungen hergeleitet werden könnten (vgl. BVerfGE 107, 205,
213 = SozR 4-2500 § 10 Nr. 1).
28
Auch Art. 6 Abs. 4 GG scheidet als Grundlage für das Begehren der Klägerin aus.
Unabhängig davon, ob diese Norm Müttern über die Zeit der Schwangerschaft und über
die ersten Monate nach der Geburt hinaus überhaupt Schutz gewährt, können aus ihr
jedenfalls keine besonderen Rechte für Sachverhalte hergeleitet werden, die nicht allein
Mütter betreffen. Davon abgesehen folgt auch aus dem Schutzauftrag des Art. 6 Abs. 4
GG nicht, dass der Gesetzgeber gehalten wäre, jede mit der Mutterschaft
zusammenhängende wirtschaftliche Belastung auszugleichen und dem
Förderungsgebot ohne Rücksicht auf sonstige Belange nachzukommen (vgl. BSGE
100, 295 = SozR 4-4300 § 132 Nr. 1).
29
Ferner lässt sich auch ein Verstoß gegen das allgemeine Gleichbehandlungsgebot aus
Art. 3 Abs. 1 GG nicht begründen. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG
gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches
ungleich zu behandeln. Er gilt für ungleiche Belastungen wie auch für ungleiche
Begünstigungen (vgl. etwa BVerfGE 110, 412, 431 m.w.N.). Die von der Klägerin
behauptete Ungleichbehandlung von Müttern, bei denen der Versicherungsfall zu einer
Zeit eintritt, in der sie einer Tätigkeit nachgehen, bei welcher die Arbeitszeit infolge
Erziehungsurlaubs zwingend reduziert ist, im Vergleich zu Müttern, die
Erziehungsurlaub nicht in Anspruch nehmen, liegt schon in tatsächlicher Hinsicht nicht
vor. Denn bei einer Anwendung der §§ 82 bis 87 SGB VII, bei der für die Berechnung
der Leistungen generell die Verhältnisse in den zwölf Kalendermonaten vor dem Monat
des Versicherungsfalls zugrunde gelegt werden, werden alle Versicherten gleich
behandelt. Insofern stellt sich eher die Frage, ob hier wesentlich ungleiche
Personengruppen - einerseits Versicherte, die wegen ihres Erziehungsurlaubs nicht
(mehr) die Möglichkeit zu einer Vollzeitbeschäftigung haben und dadurch einen
Minderverdienst erzielen, andererseits Versicherte, die entsprechende
Einschränkungen nicht (erzwungenermaßen) hinnehmen mussten - auch ungleich
behandelt werden müssten, indem bei der ersten Personengruppe abweichend von der
Regel auf Zeiträume außerhalb des grundsätzlich maßgebenden Zwölfmonatszeitraums
zurückzugreifen ist. Dies aber ist unter Berücksichtigung des
Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht geboten.
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Das Anliegen des Gesetzgebers, das Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen aus weit
zurückliegenden oder aber zukünftigen Beschäftigungszeiten als Grundlage für die
Bestimmung der Höhe des JAV grundsätzlich auszuschließen, ist schon deshalb nicht
zu beanstanden, weil typisierend davon ausgegangen werden kann, dass das im
Zwölfmonatszeitraum vor dem Monat des Versicherungsfalls erzielte
Erwerbseinkommen den sozialen Lebensstandard des Versicherten repräsentiert. Zu
berücksichtigen ist ferner, dass die Verletztenrente eine Entschädigung besonderer Art
ist. Sie setzt nicht voraus, dass durch den Versicherungsfall überhaupt ein messbarer
wirtschaftlicher Schaden entstanden ist. Vielmehr gleicht sie einen möglichen Schaden
aus. Nicht eine Minderung des Erwerbseinkommens, sondern die Minderung der
Erwerbsfähigkeit soll entschädigt werden. Diese Beeinträchtigung wird nicht am Beruf
des Versicherten, sondern an den Verhältnissen des allgemeinen Erwerbslebens
gemessen (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die andere Berechnungsgröße, der JAV, wird
zwar grundsätzlich nach Maßgabe des § 82 Abs. 1 SGB VII nach dem tatsächlich vor
dem Versicherungsfall erzielten Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen bestimmt, aber
eben begrenzt auf das Erwerbseinkommen im Jahr vor dem Versicherungsfall, so dass
als Renten- und damit als Schadensbemessungsfaktoren die Erwerbs- und
Erwerbsfähigkeitsverhältnisse maßgebend sind, die unmittelbar vor dem
Versicherungsfall bestanden; aus ihnen wird auf einen "abstrakten", in Zukunft
gleichbleibenden Schaden geschlossen, während spätere Erwerbsmöglichkeiten außer
Betracht bleiben (vgl. BSG SozR 2200 § 571 Nrn. 1 und 15; BSGE 51, 178, 180 = SozR
2200 § 571 Nr. 20). Vor diesem Hintergrund sind ausreichende Gründe dafür, ein wegen
Kindererziehung vermindertes Arbeitsentgelt im Unterschied zu anderen Sachverhalten
(etwa Verlust eines langjährig inne gehabten, gut bezahlten Arbeitsplatzes, Aufnahme
einer neuen, erheblich schlechter entlohnten Tätigkeit, Eintritt des Versicherungsfalls in
dieser Tätigkeit nach einem Jahr) von einer Berücksichtigung im maßgebenden
Zwölfmonatszeitraum auszunehmen, nicht ersichtlich.
31
Eine Verletzung des Gleichheitssatzes lässt sich schließlich auch unter
Berücksichtigung des die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers einengenden
Schutzauftrags aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht feststellen. Die Förderung der Betreuung und
Erziehung von Kindern liegt im familien- und sozialpolitischen Ermessen des
Gesetzgebers. Der Gesetzgeber, der sich im Rahmen seines Ermessens bei der
Ausgestaltung von staatlichen Leistungen für eine familienpolitische Förderung durch
Gewährung von Erziehungsgeld (bzw. Elterngeld) und Erziehungsurlaub (bzw.
Elternzeit) entschieden hat, ist nicht dazu verpflichtet, diese Förderung auch im
Zusammenhang mit anderen sozialrechtlichen Regelungen in gleicher Weise zur
Geltung zu bringen (vgl. auch BVerfG NZA-RR 2005, 154, Nichtannahmebeschluss zu
BSG SozR 4-4300 § 124 Nr. 1).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
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