Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 18.02.2010

LSG NRW (wohnung, verschlechterung des gesundheitszustandes, höhe, unterkunftskosten, sozialhilfe, haus, pflege, schwiegertochter, kündigungsfrist, auszug)

Landessozialgericht NRW, L 9 SO 6/08
Datum:
18.02.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 9 SO 6/08
Vorinstanz:
Sozialgericht Aachen, S 19 SO 31/07
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen
vom 19.12.2007 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt auch die
Kosten des Berufungsverfahrens. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Kosten für die von der Klägerin
angemietete Wohnung "Am L 00" in I für die Monate Oktober und November 2006 zu
zahlen hat.
2
Die 1916 geborene schwerbehinderte (GdB 90 und Nachteilsausgleich "G") Klägerin
bewohnte im Jahr 2006 die Wohnung "Am L 00" in I zu einem Mietzins von zuletzt
insgesamt 421,14 Euro. Diese Wohnung befindet sich im 2. Stock, wobei das Haus über
keinen Aufzug verfügt. Vom 26.06.2006 bis zum 17.07.2006 befand sich die seinerzeit
90-jährige Klägerin im Krankenhaus in X. In medizinische Behandlung begab sie sich
wegen Gebrechlichkeit, massiven Rückenproblemen und dauerhaften Schmerzen. Der
Krankenhausbehandlung schloss sich eine geriatrische Rehabiliationsmaßnahme im
Haus D in B an, die bis zum 06.08.2006 andauerte. Danach befand sich die Klägerin
vom 07.08.2006 bis zum 03.09.2006 in stationärer Kurzzeitpflege im Senioren- und
Sozialzentrum I (Haus S). Nach Auskunft der Frau L (Haus S) war für die Klägerin
zunächst nur eine Kurzzeitpflege geplant. In deren Verlauf habe sich jedoch ein höherer
Pflegebedarf abgezeichnet, so dass die Klägerin dann in die vollstationäre Pflege
aufgenommen worden sei. Ab dem 04.09.2006 ist ihr Pflegestufe I zuerkannt. Am
22.08.2006 unterzeichnete die Klägerin eine Betreuungsverfügung und erteilte sowohl
ihrem Sohn als auch ihrer zur Betreuerin bestellten Schwiegertochter eine
Vorsorgevollmacht. Sohn und Schwiegertochter können die Klägerin wegen eigener
Berufstätigkeit nicht betreuen.
3
Unter dem 23.08.2006 kündigte die Klägerin das Mietverhältnis der alten Wohnung. Mit
Bescheid vom 26.09.2006 bewilligte ihr die Beklagte auf Antrag vom 28.08.2006
Leistungen zum notwendigen Lebensunterhalt in Einrichtungen nach § 35 12. Buch
4
Sozialgesetzbuch (SGB XII), weil das Einkommen und Vermögen der Klägerin nicht zur
Deckung der entstehenden Kosten ausreichte.
Mit Schreiben vom 13.09.2006 (Eingang: 15.09.2006) beantragte die Klägerin die
Übernahme der Unterkunftskosten für die Monate September bis November 2006 für die
Wohnung "Am L 00". Mit Bescheid vom 26.09.2006 lehnte die Beklagte den Antrag ab.
Zur Begründung verwies sie darauf, dass die Übernahme der Unterkunftskosten zur
Sicherstellung der Unterkunft nicht erforderlich sei, da die Unterbringung im Pflegeheim
gewährleistet sei.
5
Zur Begründung ihres dagegen am 15.10.2006 eingelegten Widerspruchs trug die
Klägerin vor, es habe sich während der Rehabilitationsmaßnahme gezeigt, dass sie
nicht mehr alleine leben könne und zukünftig auf die Hilfe Dritter angewiesen sei.
6
Mit Bescheid vom 13.03.2007 half die Beklagte dem Widerspruch teilweise ab und
übernahm die Unterkunftskosten für den Monat September 2006 mit der Begründung,
dass vor der Heimaufnahme bereits die Miete für September 2006 gezahlt gewesen sei.
Im Übrigen wies sie den Widerspruch zurück. Zur Begründung verwies sie darauf, dass
ein Anspruch auf Sozialhilfe nur auf die Beseitigung eines gegenwärtigen Notstandes
gerichtet sein könne. Auf Leistungen für die Vergangenheit bestehe kein Anspruch. Es
sei nicht Aufgabe der Sozialhilfe, Zahlungsverpflichtungen des Hilfesuchenden zu
übernehmen, die gerade nicht zur Behebung einer gegenwärtigen Notlage geeignet
seien oder auch Schulden zu tilgen, die der Hilfesuchende eingegangen sei. Kosten für
eine Wohnung, die vom Hilfeempfänger dauerhaft nicht mehr bewohnt werde, gehörten
nicht zum sozialhilferechtlichen Bedarf.
7
Hiergegen hat die Klägerin am 30.03.2007 Klage erhoben. Sie hat von ihrer Vermieterin
während des Klageverfahrens für die Monate Oktober und November 2006 eine
Nachzahlung in Höhe von insgesamt 6,56 Euro erhalten.
8
Die Klägerin meint, die Beklagte habe die Mietkosten zu tragen, weil vertragliche
Verpflichtungen, die der Mieter einer Wohnung eingegangen sei, erfüllt werden
müssten. Auch nach bisheriger Rechtsprechung seien Kosten für eine nicht mehr
bewohnte Unterkunft zu berücksichtigen, wenn es dem Hilfebedürftigen trotz intensiver
Bemühungen nicht gelinge, aus dem Mietverhältnis vorzeitig entlassen zu werden oder
einen Nachmieter zu stellen. Die Klägerin hat eine Bescheinigung ihrer Vermieterin vom
26.03.2007 vorgelegt, wonach es trotz intensiver Bemühungen nicht möglich gewesen
sei, vor Ablauf der Kündigungsfrist am 30.11.2006 einen Nachmieter für die Wohnung
zu finden.
9
Die Klägerin hat beantragt,
10
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 26.09.2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 13.03.2007 zu verurteilen, die Kosten für die Un terkunft
der Wohnung "Am L 00" in I für die Monate Oktober und November 2006 in Höhe von
835,72 zu zahlen.
11
Die Beklagte hat beantragt,
12
die Klage abzuweisen.
13
Sie hat an ihrem Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren festgehalten.
14
Mit Urteil vom 19.12.2007 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, die Kosten für die
Wohnung der Klägerin für Oktober und November 2006 in Höhe von 835,72 Euro
(zweimal 421,14 Euro Warmmiete abzüglich 6,56 Euro von der Vermieterin erhaltener
Nachzahlungen) zu zahlen. Die Kosten für Unterkunft und Heizung in diesen Monaten
seien für die angemessene Mietwohnung (§ 29 Abs. 1 Satz 2 SGB XII) in Höhe der
tatsächlichen Aufwendungen (§ 29 Abs. 1 Satz 1 SGB XII) ausnahmsweise zu
übernehmen, obwohl die Klägerin in dieser Zeit auf Kosten des Sozialhilfeträgers schon
anderweitig untergebracht war, weil der Auszug aus der Wohnung nach
sozialhilferechtlichen Grundsätzen notwendig gewesen sei und deswegen die
Kündigungsfrist nicht hätten nahtlos aufeinander abgestimmt werden können. Es sei
notwendig gewesen, dass die Klägerin ihren Unterkunftsbedarf ab Ende Juni 2006
zunächst stationär im Krankenhaus, dann stationär in der Kurzzeitpflege und seit Anfang
September 2006 durch Inanspruchnahme dauerhafter stationärer Pflege gedeckt habe.
Eine Kündigung vor August 2006 mit der Folge der dreimonatigen Kündigungsfrist sei
ihr auch nicht zumutbar gewesen, so dass sie alles Mögliche und Zumutbare getan
habe, um die Kosten so gering wie möglich zu halten. Denn bis zum Ablauf der
stationären Kurzzeitpflege habe die Klägerin darauf hoffen dürfen, wieder in ihre alte
Wohnung zurückkehren zu können. Da eine vorherige Vermietung auch unter
Einschaltung des Vermieters nicht möglich gewesen sei, habe sie ferner alles
Zumutbare und Mögliche getan, um die Kosten der doppelten Unterkunft so gering wie
möglich zu halten. Die Klägerin habe ihren Antrag auf Mietkostenübernahme bereits im
September 2006 gestellt, weshalb dem Anspruch auch nicht der Grundsatz "keine
Sozialhilfe für die Vergangenheit" entgegenstehe.
15
Gegen dieses ihr am 22.01.2008 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der
Beklagten vom 18.02.2008, mit der sie weiterhin die Auffassung vertritt, der
Gesundheitszustand der Klägerin habe schon im Juni, spätestens aber im Juli 2006
eine Rückkehr in die bisherige Wohnung ausgeschlossen, so dass auch zu diesem
Zeitpunkt bereits hätte gekündigt werden müssen. Über die Auflösung des
Mietverhältnisses habe die Klägerin auch früher mit ihrer Vermieterin sprechen müssen.
16
Die Beklagte beantragt,
17
das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 19.12.2007 zu ändern und die Klage ab
zuweisen.
18
Die Klägerin beantragt,
19
die Berufung zurückzuweisen.
20
Sie sei vor August 2006 noch gar nicht pflege- oder sonstwie besonders hilfebedürftig
gewesen. Der anderslautende Vortrag der Beklagten entbehre jeder Grundlage.
21
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts nimmt der Senat Bezug auf den
Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte der Beklagten. Diese Akten waren
Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
22
Entscheidungsgründe:
23
Die Berufung ist statthaft, weil der Streitwert 500 Euro übersteigt (vgl. § 144 Abs. 1 Satz
1 Nr. 1 SGG in seiner bis zum 30.03.2008 geltenden Fassung). Schon allein deshalb,
weil nur die Beklagte Berufungsführerin ist, sind Streitgegenstand allein die "doppelten"
Unterkunftskosten in Höhe von 835,72 Euro für die zum 30.11.2006 gekündigte
Wohnung "Am L 00" für die Zeit vom 01.10.2006 bis zum 30.11.2006.
24
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Beklagte
verurteilt, der Klägerin die Kosten für die Wohnung "Am L 00" für die Monate Oktober
und November 2006 in Höhe von 835,72 Euro zu zahlen. Hierbei nimmt der Senat
zunächst auf die zutreffenden Ausführungen im sozialgerichtlichen Urteil Bezug und
sieht insoweit gemäß § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der
Entscheidungsgründe ab.
25
Ergänzend weist der Senat auf folgendes hin: Nach den auch im Rahmen des § 29 SGB
XII geltenden (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 28.03.2006, Az: L 7
AS 122/05 ER und L 7 AS 121/05 ER, Rn. 43; Berlit in LPK, 8. Auflage, 2008, Rn. 71 zu
§ 29 SGB XII), bereits von der Verwaltungsgerichtsbarkeit unter Geltung des
Bundessozialhilfegesetzes entwickelten Grundsätzen sind ausnahmsweise doppelte
Mietaufwendungen als sozialhilferechtlicher Bedarf zu übernehmen, wenn der Auszug
aus der bisherigen Wohnung notwendig war und deswegen die Mietzeiträume wegen
der Kündigungsfrist nicht nahtlos aufeinander abgestimmt werden konnten. Die
Unterkunftskosten für die alte Wohnung sind neben den Kosten für die neue Unterkunft
dann zu übernehmen, wenn es notwendig gewesen ist, dass der Hilfeempfänger die
neue Wohnung zu diesem Zeitpunkt gemietet und bezogen hat. Zudem muss der
Hilfeempfänger alles ihm Mögliche und Zumutbare getan haben, die Aufwendungen für
die frühere Wohnung so gering wie möglich zu halten, wozu etwa die Suche nach einem
Nachmieter gehört (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 08.06.1999, Az.: 7 S
458/99; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 25.10.2001, Az.: 4 MA 2598/01).
26
Der Auszug aus der bisherigen Wohnung war erst im August 2006 notwendig. Dies ist
dokumentiert durch ein Telefonat der Beklagten mit dem Erbringer der Kurzzeitpflege,
dem Haus S (Frau L) vom 06.09.2006. In diesem hat Frau L - zeitnah - erläutert, dass
zunächst bei der Klägerin nur eine Kurzzeitpflege geplant gewesen war, und sich erst
währenddessen ein höherer Pflegebedarf als bisher angenommen abzeichnete, so dass
sie im Anschluss direkt in die voll stationäre Pflege aufgenommen wurde. Dass eine
Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin erst im August 2006 während
der Kurzzeitpflege eingetreten ist, wird auch dadurch erhärtet, dass sie ihrer
Schwiegertochter und ihrem Sohn erst am 22.08.2006 eine Vorsorgevollmacht erteilt
sowie eine Betreuungsverfügung unterzeichnet hat. Auch wurde kurz danach
(04.09.2006) eine Pflegestufe zuerkannt. Zudem wurde der Klägerin erst am 28.08.2006
ärztlich bescheinigt, dass sie infolge Erkrankung keine eigenen Entscheidungen mehr
treffen konnte. Da zudem wegen der Berufstätigkeit ihres Sohnes und ihrer
Schwiegertochter eine Hilfeleistung durch Angehörige jedenfalls nicht umfassend
gewährleistet war, hat der Senat keinerlei Zweifel daran, dass ein Auszug der Klägerin
aus ihrer im 2. Stock gelegenen Mietwohnung ohne Aufzug krankheitsbedingt aufgrund
einer deutlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes erst Ende August 2006
notwendig war.
27
Am 23.08.2006 hat die Klägerin dann auch die Wohnung gekündigt. Wirksam wurde die
Kündigung damit erst zum 30.11.2006. Auf einen früheren Kündigungszeitpunkt hat sich
die Vermieterin ausweislich ihres Schreibens vom 24.08.2006 auch nicht eingelassen.
28
Die Klägerin war also Anfang September 2006 infolge fehlender privater
Betreuungsalternativen gezwungen, in ein Pflegeheim zu ziehen, konnte aber ihre
bisherige Wohnung erst zum Ablauf des 30.11.2006 kündigen. Trotz intensiver
Bemühungen ist ein Nachmieter ausweislich des weiteren Schreibens ihrer -
ehemaligen - Vermieterin vom 26.03.2007 auch erst zum 01.01.2007 gefunden worden.
Ihrer Pflicht, die Aufwendungen für die frühere Wohnung so gering wie möglich zu
halten, ist die Klägerin also vollumfänglich nachgekommen.
Der Verurteilung der Beklagten steht auch nicht der Grundsatz "keine Sozialhilfe für die
Vergangenheit" entgegen, weil das Einsetzen der Sozialhilfe davon abhängt, ob im
Zeitpunkt der Behördenentscheidung ein sozialhilferechtlicher Bedarf besteht
(Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteil vom 21.02.2003, Az: 20 K 7946/01, Rn. 21-23
m.w.N.). Bei Erlass des Ablehnungsbescheides vom 26.09.2006 bestand aber gerade
ein solcher Bedarf in Form der Verpflichtung zur Übernahme der "doppelten
Unterkunftskosten".
29
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
30
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 1 Nr. 1
und 2 SGG).
31