Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 18.06.2008

LSG NRW: schutz der familie, berufliche tätigkeit, gleichgestellte zeit, begriff, verordnung, mitgliedstaat, arbeitslosigkeit, grenzgänger, eugh, beendigung

Landessozialgericht NRW, L 12 AL 178/06
Datum:
18.06.2008
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 12 AL 178/06
Vorinstanz:
Sozialgericht Aachen, S 11 AL 50/06
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 11a AL 25/08 R
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen
vom 28.11.2006 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind
auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird
zugelassen.
Tatbestand:
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Streitig ist, ob der Kläger trotz seines Wohnsitzes in den Niederlanden für die Zeit vom
06.01. bis 20.08.2006 Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) hat.
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Der 1961 geborene Kläger arbeitete in einem von vornherein befristeten
Arbeitsverhältnis bis 31.08.2003 als Sozialpädagoge in B. Ab 01.09.2003 bezog er für
seine am 00.00.2003 geborene Tochter Erziehungsgeld, und zwar bis 24.01.2004; seit
Juli 2004 wohnt er in den Niederlanden und ist seit 21.08.2006 wieder beitragspflichtig
beschäftigt.
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Mit Bescheid vom 13.02.2006 lehnte die Beklagte seinen Antrag auf Alg vom
06.01.2006 ab, weil er seinen Wohnsitz nicht in Deutschland habe. Seinen dagegen
erhobenen Widerspruch begründete er mit einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung
gegenüber anderen EU-Bürgern. Er habe in den Niederlanden keinen
Leistungsanspruch, stehe dem deutschen Arbeitsmarkt so zur Verfügung, als würde er
in Deutschland wohnen und habe angesichts seines Berufs auch nur dort eine
realistische Vermittlungschance.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 03.04.2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.
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Am 30.06.2006 hat der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Aachen Klage erhoben. Er
hat die Ansicht vertreten, die Berufung auf den Territorialitätsgrundsatz schränke die
Arbeitnehmerfreizügigkeit ein. Sie verstoße auch gegen den verfassungsrechtlich
garantierten Schutz der Familie, da die Kindererziehungszeit als eine einer
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Beschäftigung gleichgestellte Zeit anzusehen sei und es somit nicht darauf ankommen
könne, dass er erst nach dem Ende seiner letzten Erwerbstätigkeit in die Niederlande
verzogen sei. Für eine Anbindung an das deutsche Sozialleistungssystem spreche
auch, dass Kindergeld nach deutschem Recht gezahlt worden sei.
Der Kläger hat beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13.02.2006 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 03.04.2006 zu verurteilen, ihm Arbeitslosengeld unter
Zugrundelegung seines Antrags vom 06.01.2006 zu zahlen.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat die Auffassung vertreten, auch unter der ausweitenden Auslegung, die der
sozialrechtliche Territorialitätsgrundsatz in der sogenannten Miethe-Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) sowie in der Entscheidung des
Bundessozialgerichts (BSG) vom 09.02.1994 - B 11 RAr 1/93 - erfahren habe, stehe
dem Kläger ein Alg-Anspruch nicht zu.
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Mit Urteil vom 28.06.2006 hat das SG die Klage abgewiesen. Sie sei unbegründet, weil
der Kläger keinen Anspruch auf Alg habe. Zur Begründung hat es weiter wie folgt
ausgeführt:
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"Nach § 30 Abs. 1 SGB I gelten die Vorschriften des Sozialgesetzbuchs (SGB) für
Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des
SGB haben. Dass dies beim Kläger nicht der Fall ist, ist zwischen den Beteiligten
unstreitig. Er kann sich auch nicht mit Erfolg auf den in § 30 Abs. 2 SGB I enthaltenen
Vorbehalt zu Gunsten des überstaatlichen Rechts berufen. Als für den vorliegenden Fall
einschlägiges überstaatliches Recht kommt nur Art. 71 der Verordnung (EWG) Nr.
1408/71 vom 14. Juni 1971 in Betracht, die jedoch deswegen nicht zur Anwendung
gelangt, weil der Kläger kein Grenzgänger im Sinne dieser Verordnung ist.
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Grenzgänger sind arbeitslose Arbeitnehmer, die während ihrer letzten Beschäftigung im
Gebiet eines anderen Mitgliedstaates als des zuständigen (Beschäftigungs-)Staates
gewohnt haben. Die Frage der Identität von Wohn- und Beschäftigungsstaat bestimmt
sich damit nach dem Zeitpunkt der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses bzw.
des Arbeitsverhältnisses (BSG, Urteil vom 07.03.2003, B 7 AL 42/02 R; Schlegel, in:
Spelbrink/Eicher, Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, § 37, Rn. 160). Hat
ein Arbeitnehmer seine berufliche Tätigkeit durchgehend in seinem Wohnsitzstaat
ausgeübt und verlegt er erst nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses bzw.
Arbeitsverhältnisses den Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat, kann er dadurch,
dass er sich in einem anderen als dem Wohnstaat um Arbeitsvermittlung und Aufnahme
einer Beschäftigung bemüht, die Eigenschaft als echter oder unechter Grenzgänger
nicht nachträglich begründen (BSG, Urteil vom 03.07.2003, B 7 AL 42/02 R; BSG, Urteil
vom 08.07.1993, 7 RAr 44/92). Die Anwendung von Art. 71 EWGV 1408/71 scheidet
daher aus, wenn der Wohnsitz erst nach Eintritt der Arbeitslosigkeit vom
Beschäftigungsort in einen anderen Mitgliedsstaat verlegt wird (BSG, SozR 3-6050 Art.
71 Nr. 8).
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Das letzte Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis endete am 31.08.2003; zu diesem
Zeitpunkt wohnte der Kläger noch im Geltungsbereich des SGB.
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Dass der Kläger sich im folgenden Zeitraum der Erziehung seiner Tochter gewidmet hat,
unterstellt ihn nicht dem besonderen Grenzgängerschutz aus Art. 71 EWGV 1408/71.
Zwar ist es für die Anwendung von Art. 71 EWGV 1408/71 unschädlich, wenn der
Arbeitnehmer während eines (ggf. das Arbeitsverhältnis abschließenden)
Erziehungsurlaubs den Wohnstaat wechselt (BSG SozR 3-6050 Art. 71 Nr. 5). Der
Kläger hat dies jedoch gerade nicht im Rahmen eines Erziehungsurlaubs im rechtlichen
Sinne getan, denn sein letztes Arbeitsverhältnis hatte bereits vor dem Umzug geendet.
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Es kann dahinstehen, ob die Erziehung als solche eine Beschäftigung im Sinne der
EWGV 1408/71 ist. Jedenfalls setzt die Anwendbarkeit von Art. 71 EWGV 1408/71 ein
Auseinanderfallen des Beschäftigungs- und des Wohnorts voraus (ausführlich BSG,
a.a.O.), woran es hier fehlt, denn die Erziehung erfolgt gerade am Wohnort des Klägers.
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Aus diesem Grund ist auch die Rechtsprechung zur Einbeziehung von Pflegekräften in
den Schutz von Art. 71 EWGV 1408/71 (vgl. EuGH, Urteil vom 08.07.2004, C-31/02, C-
502/01, SozR 4-3300 § 44 Nr. 2; SG Aachen, Vorlagebeschluss vom 18.01.2002, S 8 (9)
RJ 2/00) nicht anwendbar."
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Gegen das ihm am 01.12.2006 zugestellte Urteil hat der Kläger am 18.12.2006 Berufung
eingelegt. Er hat den Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Bund vom
23.11.2007 in Kopie vorgelegt, in dem die Kindererziehungszeiten für die am
00.00.2003 geborene Tochter vom 01.03.2004 bis 31.12.2004 und vom 01.01.2005 bis
31.01.2006 vorgemerkt sind. Zur Begründung der Berufung trägt er vor, entsprechend
dem Versicherungsverlauf sei für ihn von September 2003 bis einschließlich Januar
2006 eine Pflichtbeitragszeit Kindererziehung gemäß § 56 Sozialgesetzbuch Sechstes
Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) festgestellt. Er sei seit 21.08.2006
erneut beitragspflichtig beschäftigt und das Kindergeld für seine Tochter sei
durchgehend an seine Ehefrau gezahlt worden. Im Hinblick auf diesen Sachverhalt sei
der von ihm geltend gemachte Anspruch auf Zahlung von Alg für die Zeit ab
Antragstellung im Januar 2006 bis 20.08.2006 unter weitergehender Berücksichtigung
der Voraussetzungen des § 26 Abs. 2 a SGB III i.V.m. Art. 71 EWGV Nr. 1408/71
begründet. Unerheblich sei in diesem Zusammenhang, dass er seinen Wohnsitz erst
nach Eintritt der Arbeitslosigkeit vom Beschäftigungsort in den anderen Mitgliedstaat
verlegt habe. Denn Anknüpfungspunkt sei in diesem Zusammenhang § 26 Abs. 2 a
SGB III.
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Der Kläger beantragt
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das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 28.11.2006 zu ändern und nach dem
erstinstanzlichen Antrag zu erkennen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und tritt dem Berufungsvorbringen des
Klägers entgegen. Insoweit wird auf ihren Schriftsatz vom 23.01.2008 verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte verwiesen. Auf den Inhalt der den Kläger betreffenden Leistungsakte der
Beklagten, der ebenfalls Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, wird
Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist unbegründet.
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Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Alg für
die Zeit vom 06.01. bis 20.08.2006. Zur Begründung verweist der Senat auf die
Ausführungen in den Entscheidungsgründen der erstinstanzlichen Entscheidung (§ 153
Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG - ).
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Das Berufungsvorbringen des Klägers vermag an der Entscheidung nichts zu ändern.
Wenn der Kläger dabei geltend macht, sein Anspruch auf Alg sei unter weitergehender
Berücksichtigung der Voraussetzungen des § 26 Abs. 2 a SGB III i.V.m. Art. 71 EWGV
1408/71 begründet, weil Anknüpfungspunkt § 26 Abs. 2 a SGB III und in diesem
Zusammenhang unerheblich sei, dass er seinen Wohnsitz erst nach Eintritt der
Arbeitslosigkeit vom Beschäftigungsort in den anderen Mitgliedstaat verlegt habe, und
soweit er damit geltend macht, dass die Kindererziehungszeit als
Versicherungspflichtzeit bei Anwendung des Art. 71 Abs. 1 EWGV 1408/71 wie eine
Beschäftigung zu werten sei, ist ihm nicht zu folgen. Der in Art. 71 Abs. 1 EWGV
1408/71 verwendete Begriff der Beschäftigung ist in der Verordnung nicht näher
erläutert. Zwar definiert Art. 1 Buchst. s EWGV 4108/71 den Begriff der
Beschäftigungszeit. Die Norm umschreibt jedoch nicht den Begriff der Beschäftigung.
Der Begriff der Beschäftigungszeit hat eine eigenständige Bedeutung, etwa bei der
Zusammenrechnung von Beschäftigungszeiten nach Art. 67 EWGV 1408/71, wonach
der zuständige Träger eines Mitgliedstaates, nach dessen Rechtsvorschriften der
Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs von
der Zurücklegung von Beschäftigungszeiten abhängig ist, soweit erforderlich,
Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten berücksichtigt, die als Arbeitnehmer nach
den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates zurückgelegt wurden, als handele
es sich um Beschäftigungszeiten, die nach den eigenen Rechtsvorschriften
zurückgelegt worden sind. Hierfür ordnet Art. 71 Buchst. s EWGV 1408/71 an, dass
Beschäftigungszeiten all die Zeiten sind, die nach den Rechtsvorschriften, unter denen
sie zurückgelegt worden sind, als solche bestimmt oder anerkannt sind, ferner alle
gleichgestellten Zeiten, soweit sie nach diesen Rechtsvorschriften als den
Beschäftigungszeiten gleichwertig anerkannt sind. Für das deutsche Recht ist dies
insoweit von Bedeutung, als nach § 107 AFG gleichgestellte Zeiten, wie etwa die Zeit
eines Krankengeldbezugs, auch bei Geltendmachung eines Anspruchs gegen einen
ausländischen Träger in die Berechnung einer eventuellen Anwartschaftszeit
einzubeziehen sind. Art. 1 Buchst. s EWGV 1408/71 regelt hingegen nicht den Inhalt
dessen, was Beschäftigung im Sinne des Art. 71 EWGV 1408/71 ist, wie schon sein
Wortlaut deutlich macht, der gerade zwischen Beschäftigungszeiten und
gleichgestellten Zeiten unterscheidet (so: BSG, Urteil vom 03.07.2003.- B 7 AL 42/02 R -
Rnr. 18).
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Ist nach den Ausführungen des BSG, denen sich der Senat anschließt, somit zwischen
dem Begriff der Beschäftigung und dem der Beschäftigungszeit zu unterscheiden und ist
die Kindererziehungszeit lediglich Versicherungspflichtzeit, bzw. steht der Erziehende
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lediglich in einem Versicherungspflichtverhältnis, folgt daraus nicht, dass die
Kindererziehungszeit als Beschäftigung im Sinne der genannten Vorschriften der
EWGV 1408/71 zu werten ist. Insoweit gibt es, was die Beklagte zutreffend anmerkt,
keine Hinweise in der Rechtsprechung darauf, dass nicht an die Beschäftigung, sondern
lediglich an ein beliebiges Versicherungspflichtverhältnis anzuknüpfen sei.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG.
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Der Senat hat die Revision zugelassen, weil er der Frage, ob das
Versicherungspflichtverhältnis der Kindererziehungszeit wegen des Schutzes der
Familie einer Beschäftigung gleichgestellt werden kann, grundsätzliche Bedeutung
beimisst (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
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