Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 24.10.2001

LSG NRW: abfindung, leistung des arbeitgebers, ordentliche kündigung, sozialplan, kündigungsfrist, beendigung, entschädigung, arbeitslosenversicherung, betriebsrat, unternehmen

Landessozialgericht NRW, L 12 AL 111/00
Datum:
24.10.2001
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 12 AL 111/00
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 29 AL 236/99
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 11 AL 257/01 B
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund
vom 17.04.2000 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind
auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht
zugelassen.
Tatbestand:
1
Streitig ist das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld wegen Zahlung einer
Abfindung durch den Arbeitgeber.
2
Der 1942 geborene Kläger war in der Zeit vom 10.09.1964 bis zum 31.03.1999 als
Vorarbeiter in der Zieherei der ... AG beschäftigt. Die Arbeitgeberin des Klägers führte im
Sommer des Jahres 1998 umfangreiche Umstrukturierungsarbeiten durch, in dessen
Zuge Personal abgebaut wurde. Aufgrund der damit einhergehenden Betriebsänderung
schlossen der Betriebsrat, der bei der Arbeitgeberin des Klägers gebildet war, und die
Arbeitgeber seite einen Interessenausgleich und Sozialplan. Der Kläger war von dieser
Betriebsänderung betroffen. Aus betriebs- und personen bedingten Gründen wurde das
Arbeitsverhältnis unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von 7 Monaten am 11.08.1998
zum 31.03.1999 gekündigt. Wegen des Verlustes des Arbeitsplatzes und sozialen
Besitzstandes war eine Abfindung von 75.000,00 DM vereinbart. Die
Tarifvertragsparteien hatten der Kündigung am 07.08.1998 zugestimmt.
3
Am 04.02.1999 meldete der Kläger sich arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld.
4
Mit Bescheid vom 15.04.1999 stellte die Beklagte das Ruhen des Anspruchs auf
Arbeitslosengeld bis zum 11.08.1999 mit der Begründung, die ordentliche Kündigung
durch den Arbeitgeber sei nur gegen Zahlung einer Abfindung möglich gewesen, fest.
Daher gelte eine Kündigungsfrist von einem Jahr, die nicht eingehalten worden sei.
Folglich ruhe der Leistungsanspruch für diesen Zeitraum.
5
Den hiergegen am 28.04.1999 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit
Widerspruchsbescheid vom 08.07.1999 als unbegründet zurück, beschränkte aber den
Ruhenszeitraum auf die Zeit bis zum 25.07.1999.
6
Dagegen hat der Kläger am 04.08.1999 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Dortmund
erhoben, die er u. a. damit begründete, die im Manteltarifvertrag für die Arbeiter,
Angestellten und Auszubildenden der metallverarbeitenden Industrie Nordrhein-
Westfalens (MTV Metall NRW) aufgeführten Möglichkeiten der Kündigung eines an sich
unkündbaren älteren Arbeitnehmers seien alternativ zu verstehen. Die Zustimmung der
Tarifvertragsparteien habe mit der Zahlung der Abfindung nichts zu tun, so dass § 143 a
Sozialgesetzbuch 3. Buch (SGB III) nicht anwendbar sei. Dieser bestimme das Ruhen
des Anspruchs, wenn der Arbeitnehmer nur bei Zahlung einer
Entlassungsentschädigung ordentlich gekündigt werden könne, § 20 MTV knüpfe aber
gerade nicht an das Vorliegen eines mit der Zahlung von Entlassungsentschädigungen
verbundenen Sozialplanes an, sondern lasse die Kündigung unter den genannten
Voraussetzungen grundsätzlich im Falle von Betriebsänderungen zu. Diese müssten
jedoch nicht zwingend mit einem Sozialplan einhergehen. Die Zustimmung der
Tarifvertragsparteien sei auch nicht wegen der Gewährung der Abfindung erfolgt. Die
von der Beklagten vorgenommene Gesetzesauslegung sei verfassungswidrig, da sie
nicht tarifgebundene Arbeitnehmer bevorteile.
7
Vor dem Sozialgericht hat der Kläger beantragt,
8
den Bescheid vom 15.04.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
08.07.1999 aufzuheben.
9
Die Beklagte hat beantragt,
10
die Klage abzuweisen.
11
Sie hat sich zur Stützung ihrer Auffassung auf ein Urteil des Bundessozialgerichts
(BSG) vom 05.02.1998 (SozR 3-4100 § 117 Nr. 15) bezogen.
12
Mit Urteil vom 17.04.2000 hat das SG die Klage mit folgender Begründung abgewiesen:
Die Beklagte habe zu Recht das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld für die Zeit
bis zum 25.07.1999 festgestellt. Das Arbeitsverhältnis habe nur bei Zahlung einer
Entlassungsentschädigung ordentlich gekündigt werden können. Daher sei die
Beklagte zutreffend von der fiktiven 1-jährigen Kündigungsfrist des § 143 a Abs. 1 SGB
III ausgegangen. Sei bereits ein Sozialplan erstellt worden, der für den betroffenen
Arbeitnehmer eine Entschädigung vorsehe, so sei selbst dann, wenn neben der
Kündigungsmöglichkeit gegen Zahlung einer Abfindung eine zweite
Kündigungsmöglichkeit (Zustimmung der Tarifsvertragsparteien) bestanden habe, allein
maßgeblich, dass die Kündigung in solchen Fällen mit Zustimmung der
Tarifvertragsparteien nicht realisierbar gewesen wäre, wenn eine
Entlassungsentschädigung nicht gezahlt worden wäre. Die verfassungsrechlichen
Bedenken hinsichtlich des § 143 a Abs. 1 SGB III teile die Kammer nicht.
13
Gegen das ihm am 22.05.2000 zugestellte Urteil hat der Kläger am 16.06.2000 Berufung
eingelegt, mit der er sein Begehren weiter verfolgt. Er macht im Wesentlichen geltend:
Das SG und die Beklagte seien zu Unrecht von einem Ruhenstatbestand ausgegangen.
Das von der Beklagten zitierte Urteil des BSG sei unzutreffend, da dort verkannt werde,
14
dass bei Betriebsänderungen durchaus auch Entlassungen möglich seien, die nicht mit
einer Entlassungsentschädigung verknüpft seien. Eine Betriebsänderung ziehe
keineswegs zwangsläufig einen Sozialplan mit Leistungen des Arbeitgebers nach sich.
Die in § 20 Nr. 4 des MTV Metall NRW genannten Ausnahmetatbestände zur
grundsätzlichen Unkündbarkeit älterer Arbeitnehmer seien nicht kumulative, sondern
alternative Möglichkeiten zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses. Die Beklagte
unterstelle jedoch unzulässigerweise, dass die Zustimmung der Tarifvertragsparteien
nur im Hinblick auf die Abfindungsgewährung erfolgt sei. Nach dem Wortlaut des § 143
a Abs. 1 Satz 4 SGB III seien jedoch die Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt, wenn
die Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf einen Ausnahmezustand von
grundsätzlicher tarifvertraglicher Unkündbarkeit gestützt sei, wie z. B. der
Ausnahmeregelung "Zustimmung der Tarifvertragsparteien", die völlig losgelöst von der
Zahlung einer möglichen, aber nicht vorgesehenen Zahlung einer Ermessens-
Entlassungs-Entschädigung sei. Die Heranziehung der fiktiven Kündigungsfrist von
einem Jahr könne nach dem klaren Gesetzeswortlaut daher ausschließlich bei einer
zwingend vorgeschriebenen Leistung des Arbeitgebers in Betracht kommen.
Letztendlich verstosse die Entscheidung der Beklagten gegen Artikel 3 Abs. 3
Grundgesetz, da die tarifgebundenen Arbeitnehmer schlechter behandelt würden als
nicht tarifgebundene.
Der Kläger beantragt,
15
das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 17.04.2000 zu ändern und nach seinem
erstinstanzlichen Antrag zu erkennen.
16
Die Beklagte beantragt,
17
die Berufung zurückzuweisen.
18
Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und betont:
19
Der Arbeitgeber des Klägers hätte eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses praktisch
ohne Zahlung einer Abfindung nicht realisieren können. In diesem Sinne habe das BSG
in dem zitierten Urteil vom 05.02.1998 in SozR 3-4100 § 117 Nr. 15 entschieden.
Danach sei allein ausschlaggebend, ob der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis auch
ohne eine Abfindungszahlung hätte kündigen können. Gerade diese Fallgestaltung sei
vorliegend nicht gegeben.
20
Der Senat hat die Beteiligten auf die zu dem § 143 a SGB III wortgleiche Vorschrift des §
117 Abs. 2 Satz 4 AFG ergangene Entscheidung des BSG vom 29.01.2001 in SozR 3 -
4100 § 117 Nr. 22 hingewiesen.
21
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten und der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten Bezug
genommen. Diese Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
22
Entscheidungsgründe:
23
Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet.
24
Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Bescheid vom 15.04.1999 in
25
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.07.1999 ist rechtmäßig. Zutreffend
hat die Beklagte festgestellt, dass der Anspruch auf Arbeitslosengeld bis zum
25.07.1999 ruhte.
Das Ruhen des Arbeitslosengeldanspruches beurteilt sich nach § 143 a SGB III in der
Fassung des am 01.04.1999 in Kraft getretenen Entlassungsentschädigungs-
Änderungsgesetzes (EEÄndG vom 24.3.1999; BGBl. I 396), denn der Anspruch auf
Arbeitslosengeld ist erst mit der zum 01.04.1999 eingetretenen Arbeitslosigkeit
entstanden. Es galt daher eine (fingierte) Kündigungsfrist von einem Jahr, weil der
Kläger nur bei Zahlung einer Entlassungsentschädigung ordentlich gekündigt werden
konnte (§ 143 a Abs. 1 Satz 4 SGB III).
26
Nach § 20 Nr. 4 des hier anwendbaren MTV Metall NRW konnte dem Kläger, der das
55. Lebensjahr vollendet hatte und dem Unternehmen mehr als 10 Jahren angehörte,
grundsätzlich nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden. Die Möglichkeit einer
ordentlichen Kündigung wird allerdings durch die Möglichkeit der sonstigen
Änderungskündigung oder bei Betriebsänderung, wenn ein anderer zumutbarer
Arbeitsplatz nicht vorhanden ist, oder bei Zustimmung der Tarifvertragsparteien (wieder)
eröffnet. Die weitere Kündigungsmöglichkeit "Zustimmung der Tarifvertragsparteien"
wurde mit Wirkung vom 01.04.1995 durch die Tarifvertragsparteien beschlossen. Diese
Kündigungsmöglichkeit ist neben die Möglichkeiten, Änderungskündigungen, die nicht
den Zwecke der Entgeltsminderung verfolgen, oder Kündigungen bei Betriebsänderung
getreten. Im Falle des Klägers lag zum einen die Zustimmung der Tarifvertragsparteien
vor, zum anderen war unstreitig ein Sozialplan aufgestellt worden, der eine Abfindung
für den Kläger vorsah. Selbst wenn daher die Kündigungsmöglichkeit "Zustimmung der
Tarifvertragsparteien" besonders in § 20 Nr. 4 MTV Metall NRW aufgeführt wird, kann
dies nach der Auffassung des Senats jedoch auf den konkreten Fall des Klägers
bezogen nur in Zusammenhang mit der Betriebsänderung gesehen werden. Denn es
steht zu vermuten, dass die auf der Grundlage des Sozialplanes gezahlte Abfindung
nicht ausschließlich als Ausgleich für den Verlust eines sozialen Besitzstandes gezahlt
wurde, sondern auch künftige, nunmehr untergehende Arbeitsentgeltansprüche
ausgleichen sollte (vgl. insoweit zur Anwendbarkeit des wortgleichen § 117 Abs. 2 Satz
4 AFG: BSG-Urteil vom 29.01.2001 in SozR 3-4100 § 177 Nr. 22 unter Hinweis auf die
Entstehungsgeschichte). Entscheidend ist darauf abzustellen, dass der Arbeitgeber im
Hinblick auf das Alter und die lange Dauer der Betriebszugehörigkeit keine realisierbare
alternative Möglichkeit der ordentlichen Kündigung des Kläger auch ohne Abfindung
hatte. Sodann erscheint das zeitweilige Ruhen des Anspruches auf Arbeitslosengeld
gerechtfertigt, weil dadurch ins gesamt der Praxis entgegengewirkt werden sollte, ältere,
an sich unkündbare Arbeitnehmer gegen Zahlung von Abfindung freizusetzen und damit
u. a. die Arbeitslosenversicherung zu belasten (vgl. BSG aaO; Begründung des
EEÄndG, BT-Drucks. 14/394 S. 6.). Jedenfalls erfasst die Regelung des § 143 a Abs. 1
SGB III solche tarifvertraglichen Bestimmungen, in deren die Möglichkeit zur
ordentlichen Kündigung erst durch die Zubilligung der Entlassungsentschädigung
eröffnet wird (Gagel, Sozialgesetzbuch III - Arbeitsförderung -, § 143 a SGB III, Rdnr. 61).
27
Dem steht auch nicht entgegen, dass die tatsächlich gezahlte Abfindung auf einem
zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat geschlossen Sozialplan beruhte (siehe BSG
a.a.O.). Ohne die durch den Tarifvertrag eröffnete Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis
ordentlich zu kündigen, wäre die Abfindungsregelung des Sozialplanes für den Kläger
erst gar nicht zum Tragen gekommen. Insoweit besteht nach der Auffassung des Senats
eine "Verbindung" zwischen der Möglichkeit der ordentlichen Kündigung durch
28
Zustimmung der Tarifvertragsparteien und der Zahlung der Abfindung. Hätte der Kläger
keinen Anpruch auf eine Abfindung aus dem Sozialplan gehabt, so hätten die
Tarifvertragsparteien - bei lebensnaher Betrachtung - der ordentlichen Kündigung nicht
zugestimmt.
Entscheidend für das Ruhen des Anspruches auf Arbeitslosengeld ist letztlich, dass der
Kläger allein "wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses" eine Abfindung erhalten
hat (BSG a.a.O.).
29
Anhaltspunkte dafür, dass vorliegend ausnahmsweise eine fristgebundende
außerordentliche Kündigung vorlag, sind nicht gegeben.
30
Hinsichtlich der verfassungrechtlichen Bedenken des Klägers verweist der Senat auf die
von ihm für zutreffend gehaltenen detaillierten Ausführungen in dem zitierten Urteil des
BSG vom 29.01.2001.
31
Wegen der vorzitierten Entscheidung des BSG zu der wortgleichen Vorschrift des § 117
Abs. 2 Satz 4 AFG hat der Senat die Revision nicht zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1
oder 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
32
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
33