Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 01.10.2003

LSG NRW: berufskrankheit, rente, arbeitsmarkt, gerichtsverfahren, körperschaden, asbest, verordnung, vorbeugung, erkenntnis, akte

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Vorinstanz:
Nachinstanz:
Sachgebiet:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Rechtskraft:
Landessozialgericht NRW, L 4 (2) U 94/02
01.10.2003
Landessozialgericht NRW
4. Senat
Urteil
L 4 (2) U 94/02
Sozialgericht Gelsenkirchen, S 10 U 299/01
Bundessozialgericht, B 2 U 24/00 R
Unfallversicherung
rechtskräftig
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 14.11.2002 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Klägers sind auch im zweitinstanzlichen
Verfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Verletztenrente wegen der Folgen der
Berufskrankheit Nr. 4103 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) -
Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) oder durch Asbeststaub verursachte
Erkrankung der Pleura -.
Im Mai 1999 zeigte der Arzt für Arbeitsmedizin Dr. I beim Kläger eine Asbestose der Pleura
als Berufskrankheit bei der Beklagten an. Der Kläger habe beruflich Umgang mit
Asbestverkleidungen gehabt. Die Beklagte zog Befundberichte bei, holte
Arbeitgeberauskünfte sowie eine Stellungnahme des technischen Aufsichtsdienstes (TAD)
ein. Anschließend wurde der Internist und Arbeitsmediziner Dr. T mit der Erstattung eines
Gutachtens nach Aktenlage beauftragt. Dieser gelangte in seinem Gutachten vom
29.10.1999 zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung einer
Berufskrankheit nach Nr. 4103 gegeben seien, sofern sich eine Asbestexposition bestätige.
Funktionsbeeinträchtigungen relevanten Ausmaßes lägen derzeit nicht vor. Nach
Einholung einer weiteren Stellungnahme des TAD sowie der Landesanstalt für
Arbeitsschutz Nordrhein- Westfalen erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 25.01.2000
die Veränderungen der Pleura als Folge einer Berufskrankheit nach Nr. 4103 der Anlage
zur BKV an. Die Gewährung von Rente lehnte sie mit der Begründung ab, dass die
geringfügigen asbeststaubbedingten Pleuraveränderungen keine
Funktionsbeeinträchtigungen in rentenberechtigendem Grade verursachten.
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Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein. Er begehrte die Gewährung von
Verletztenrente und Übergangsleistungen nach § 3 BKV. Die Beklagte zog Unterlagen der
behandelnden Internistin Dr. L, die Schwerbehindertenakte sowie die medizinischen
Unterlagen der Landesversicherungsanstalt Westfalen bei und holte eine Stellungnahme
von Dr. I ein. Mit Bescheid vom 30.03.2001 lehnte die Beklagte die Gewährung von
Maßnahmen nach § 3 BKV ab. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Mit Bescheid
vom 23.10.2001 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 25.01.2000
sowie gegen den Bescheid vom 30.03.2001 als unbegründet zurück.
Mit der am 21.11.2001 vor dem Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen erhobenen Klage hat der
Kläger die Gewährung einer Verletztenrente sowie von Übergangsleistungen nach § 3
BKV begehrt. Er hat u. a. vorgetragen, die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
sei von der Beklagten nicht zutreffend festgesetzt worden. Sie habe es unterlassen, eine
abstrakte Schadensberechnung vorzunehmen.
Mit Beschluss vom 20.12.2001 hat das SG das den Anspruch des Klägers auf Rente
betreffende Verfahren S 10 U 299/01 von dem den Anspruch auf Übergangsleistungen
betreffenden Verfahren abgetrennt und das Verfahren bezüglich der Übergangsleistungen
unter dem Az. S 10 U 333/01 weitergeführt.
Das SG hat den Internisten und Arzt für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. R mit der
Erstellung eines Gutachtens beauftragt. In dem Gutachten vom 09.09.2002 hat Dr. R
ausgeführt, beim Kläger seien als Folgen der Berufskrankheit Nr. 4103 der Anlage zur BKV
mehrere Pleuraplaques in beiden Lungen sowie eine geringfügige Lungenfibrose beider
Unterfelder festzustellen. Die Folgen der Berufskrankheit hätten keine
Funktionsbeeinträchtigungen zur Folge, so dass keine rentenberechtigende MdE vorliege.
Mit Gerichtsbescheid vom 14.11.2002 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung
hat es ausgeführt, nach § 56 Abs. 2 Sozialgesetzbuch 7. Buch (SGB VII) richte sich die
Bemessung der MdE nach dem Umfang der Beeinträchtigung des körperlichen und
geistigen Leistungsvermögens des Versicherten durch die Unfall- bzw.
Berufskrankheitenfolgen und dem Umfang der ihm dadurch verschlossenen
Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Die Beurteilung, in
welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Versicherten durch die
Unfallfolgen beeinträchtigt seien, liegen in erster Linie auf ärztlich-wissenschaftlichem
Gebiet. Die durch Asbest bedingten Veränderungen der Pleura verursachten nach den
Feststellungen der im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gehörten Ärzte keine
Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Klägers und rechtfertigten damit keine
Bemessung der MdE im rentenberechtigenden Grade. Aus radiologischen Veränderungen
der Lunge, die keine Beeinträchtigung des Leistungsvermögens zur Folge hätten, lasse
sich keine MdE ableiten, da sich der Umfang der einem Versicherten verschlossenen
Arbeitsmöglichkeiten ausschließlich nach dem Umfang der Beeinträchtigung seines
körperlichen und geistigen Leistungsvermögens durch die Unfall- bzw.
Berufskrankheitenfolgen bestimmten.
Gegen den am 25.11.2002 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 10.12.2000
Berufung eingelegt. Er verfolgt sein Begehren weiter. Nach § 56 Abs. 2 SGB VII sei die
MdE im Wege der abstrakten Schadensberechnung festzusetzen. Entscheidend sei nicht
das Ausmaß des Körperschadens, sondern in welchem Umfang die Arbeitsmöglichkeiten
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durch den Körperschaden vermindert bzw. entfallen
sind. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 20.03.1981, 8/8a RU
104/79, BSGE 51, 253 ff.) könne eine Berufskrankheit trotz fehlender Funktionsausfälle im
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Hinblick auf den Verlust einer Erwerbsmöglichkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine
MdE verursachen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 14.11.2002 zu ändern und
die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 25.01.2000 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 23.10.2001 zu verurteilen, ihm wegen der Folgen der
Berufskrankheit Nr. 4301 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) Rente
nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.
Die Beklagte und Beigeladene beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Die Beigeladene hat ausgeführt, nach der herrschenden Rechtsprechung richte sich die
MdE-Bewertung im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz nach Erfahrungssätzen,
soweit diese allgemein anerkannt seien. Vorliegend seien keine Anhaltspunkte dafür
ersichtlich, das die MdE-Bewertung den medizinischen Funktionsbeeinträchtigungen und
den Leistungseinschränkungen des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht
gerecht würden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der Beklagten sowie der beigezogen Akte des
Sozialgerichts Gelsenkirchen, (Az.: S 10 U 333/01) Bezug genommen, die Gegenstand der
mündlichen Verhandlung des Senats waren.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig.
Dem Kläger steht kein Anspruch auf Gewährung einer Rente nach § 56 SGB VII zu.
Die als Folge einer beruflich bedingten Asbeststaubeinwirkung nach Nr. 4103 der Anlage
BKV anerkannten Veränderungen der Pleura verursachen keine MdE im
rentenberechtigenden Grade. Der Senat nimmt nach eigener Überprüfung gemäß § 153
Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Bezug auf die Ausführungen des erstinstanzlichen
Gerichts, um Wiederholungen zu vermeiden. Ergänzend weist der Senat auf folgendes hin:
Die Bemessung des Grades der MdE, also die aufgrund von § 56 Abs. 1 SGB VII durch
eine Schätzung vorzunehmende Festlegung des konkreten Umfangs der sich aus der
Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden
verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens, ist nach
ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), der sich der Senat anschließt,
eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner
freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Neben
der Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ist dabei
die Anwendung medizinischer oder sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen
bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen
Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens
erforderlich. Als Ergebnis dieser Wertung ergibt sich die Erkenntnis über den Umfang der
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dem Versicherten versperrten Arbeitsmöglichkeiten. Hierbei kommt es stets auf die
gesamten Umstände des Einzelfalles an (BSG, Urteil vom 02.05.2001, B 2 U 24/00 R,
SozR 3 - 2200 § 581 Nr. 8; Urteil vom 18.03.2003, B 2 U 31/02 R.m.w.N). Das SG ist
zutreffend davon ausgegangen, dass für die Bemessung der MdE infolge einer Asbestose
als Berufskrankheit wie bei broncho- pulmonalen Erkrankungen allgemein auf das Ausmaß
der objektiv nachweisbaren pulmo-kardialen Einbußen abzustellen ist (BSG, Urteil vom
10.03.1994, 2 RU 13/93). Nach den Feststellungen der im Verwaltungs- und
Gerichtsverfahren gehörten Ärzte verursachen die asbestbedingten Lungenveränderungen
- mehrere Pleuraplaques in beiden Lungen und eine geringfügige Lungenfibrose beider
Unterfelder - keine funktionelle Beeinträchtigung von Atmung oder Kreislauf. Auch die
Tatsache, dass dem Kläger wegen der bestehenden Asbestose der staubbelastete
Teilbereich des Arbeitsmarktes verschlossen ist, begründet entgegen der Auffassung der
Klägerbevollmächtigten keine messbare MdE. Das Verbot, staubgefährdende Arbeiten zu
verrichten, schränkt nicht die körperlichen oder geistigen Kräfte des Klägers ein, sondern
dient nur der Vorbeugung gegen eine drohende, also noch nicht bestehende
Berufskrankheit. Es kann nicht zur Begründung einer noch nicht bestehenden MdE
herangezogen werden (BSG, Urteil vom 10.03.1994, 2 RU 13/93 m.w.N). Radiologische
Veränderungen der Lunge, die keine feststellbaren pulmo-kardialen Einbußen und damit
keine Beeinträchtigung des Leistungsvermögens zur Folge haben, begründen entgegen
der Auffassung der Klägerbevollmächtigten allein noch keine messbare MdE. Dies ergibt
sich entgegen der Auffassung der Klägerbevollmächtigten eindeutig aus dem Wortlaut des
§ 56 Abs. 2 SGB VII, wonach die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer
Beeinträchtigungen, also die feststellbare Beeinträchtigung des Leistungsvermögens auf
die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Versicherten auf dem gesamten Gebiet des
Erwerbslebens für die Bildung der MdE entscheidend ist. Der Gesetzgeber hat in § 56 Abs.
2 SGB VII keine neuen Grundsätze hinsichtlich der Bemessung des Grades der MdE
aufgestellt, vielmehr hat er die schon im Rahmen des § 581 Abs. 1
Reichsversicherungsordnung (RVO) geltenden Maßstäbe für die Bemessung des Grades
der MdE übernommen (BSG, Urteil vom 18.03.2003, B 2 U 31/02 R).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Anlass, die Revision nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, besteht nicht.