Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 19.11.2007

LSG NRW: anspruch auf bewilligung, pass, verweigerung, rechtskraft, strafbarkeit, auslandsvertretung, abgabe, sozialhilfe, ausreise, bedürftigkeit

Landessozialgericht NRW, L 20 B 78/07 AY
Datum:
19.11.2007
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
20. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 20 B 78/07 AY
Vorinstanz:
Sozialgericht Gelsenkirchen, S 8 AY 23/07
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts
Gelsenkirchen vom 20.09.2007 abgeändert. Der Klägerin wird für das
Klageverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt T, E,
beigeordnet.
Gründe:
1
Die zulässige Beschwerde der Klägerin vom 02.10.2007, der das Sozialgericht nicht
abgeholfen hat (Beschluss vom 08.10.2007), ist begründet.
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Das Sozialgericht hat einen Anspruch der Klägerin auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe PKH) für das beim Sozialgericht anhängig gemachte Klageverfahren
im Ergebnis zu Unrecht verneint.
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Gemäß §§ 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG), 114 Abs. 1 Zivilprozessordnung besteht ein
Anspruch auf Prozesskostenhilfe, wenn der Kläger die Kosten der Prozessführung nicht,
nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann und wenn die beabsichtigte
Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
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Ein Rechtsschutzbegehren hat unter Berücksichtigung des Rechts auf effektiven
Rechtsschutz (Art 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz [GG]) sowie des Prinzips der
Rechtsschutzgleichheit (Art 3 Abs. 1 i.V.m. Art 20 Abs. 3 GG) in der Regel schon dann
hinreichende Erfolgsaussichten, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der
Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt
(grundlegend BVerfG, Beschluss v. 13.03.1990, 2 BvR 94/88, BVerfGE 81, 347, 356 ff.;
vgl. auch Keller/Leitherer in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 8. Auflage 2005, § 193 Rnr. 7b
m.w.N.).
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Der sich gegen eine Kürzung der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
(AsylbLG) gemäß § 1a Ziffer 2 AsylbLG wegen der Verweigerung einer sog.
Freiwilligkeitserklärung der aus dem Iran stammenden Klägerin - deren Bedürftigkeit
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keinen Zweifeln ausgesetzt ist - richtenden Klage kann eine hinreichende
Erfolgsaussicht unter Beachtung dieser Maßgaben nicht abgesprochen werden.
Die vom Sozialgericht nach der gebotenen summarischen Prüfung gewonnene
Einschätzung, die Verweigerung einer "Freiwilligkeitserklärung" gegenüber den
iranischen Behörden stelle eine Mitwirkungsverpflichtung des vollziehbar zur Ausreise
verpflichteten Ausländers dar, entspricht der Rechtsprechung des Senats (LSG NRW,
Beschluss vom 29.01.2007, L 20 B 69/06 AY ER) und der - soweit ersichtlich -
einhellligen Rechtsprechung der Sozial- und Verwaltungsgerichte zum
Asylbewerberleistungsgesetz (vgl. nur LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom
28.09.2007, L 8 B 11/06 AY ER; OVG Lüneburg, Urteil vom 11.12.2002, 4 LB 471/02;
SG Detmold, Urteil vom 13.11.2006, S 19 AY 18/06 - Berufungsverfahren anhängig:
LSG NRW L 20 AY 2/07; SG Düsseldorf, Beschluss vom 04.10.2006, S 24 AY 9/06).
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Der Senat hält die Rechtsfrage gleichwohl weiterhin für grundsätzlich klärungsbedürftig.
Es fehlt an einer obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung der -
nunmehr überwiegend zuständigen - Sozialgerichte in einem Hauptsacheverfahren. Im
Rahmen der über eine summarische Prüfung hinausgehenden rechtlichen Bewertung
erscheint eine eingehende Auseinandersetzung etwa mit der Rechtsprechung der
ordentlichen Gerichte zur Strafbarkeit des unerlaubten Aufenthalts eines iranischen
Staatsangehörigen ohne Pass erforderlich. So soll es bei einem vollziehbar
ausreisepflichtigen iranischen Staatsangehörigen, der nicht freiwillig in den Iran
zurückkehren will, unzumutbar im Sinne des § 48 Abs. 2 AufenthG sein, sich einen Pass
bei seiner Auslandsvertretung zu beschaffen, solange sein Herkunftsstaat eine
Passerteilung davon abhängig mache, dass er seinen abgelaufenen iranischen Pass
mit einem darin vermerkten Aufenthaltstitel vorlegt und ihm abverlangt, eine sog.
Freiwilligkeitserklärung des Inhalts abzugeben, aus freien Stücken ausreisen zu wollen,
da dies auch für Antragsteller gelte, die eine derartige Erklärung nur wahrheitswidrig
abgeben könnten (OLG Nürnberg, Urteil vom 16.01.2007, 2 St OLG Ss 242/06). Die
Abgabe einer Freiwilligkeitserklärung gehöre nicht zu den Mitwirkungspflichten eines
vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 10.02.2006,
16 Wx 238/06; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 27.07.1999, 20 W 306-99). Auch der
Auffassung, es liege eine völkerrechtswidrige Praxis der iranischen
Auslandsvertretungungen vor (VG Frankfurt, Urteil vom 08.06.2005, 2 E 339/05), kann in
diesem Zusammenhang Bedeutung zukommen (vgl. die ausführliche
Auseinandersetzung mit diesen Aspekten LSG Sachsen-Anhalt, a.a.O.).
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Die grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit der streitentscheidenden, schwierigen
Rechtsfrage begründet eine hinreichende Erfolgsaussicht der anhängigen Klage und
einen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe.
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Kosten sind nicht zu erstatten, § 127 Abs. 4 ZPO.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
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