Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 27.09.2010

LSG NRW (aufschiebende wirkung, vollziehung, sgg, anordnung, wirkung, begründung, beschwerde, ast, gkg, festsetzung)

Landessozialgericht NRW, L 6 AS 777/10 B ER
Datum:
27.09.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 6 AS 777/10 B ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 14 AS 1131/10 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Dortmund vom 09.04.2010 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt auch die Kosten des zweiten Rechtszuges.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000 EUR
festgesetzt.
Gründe:
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I. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist der Bescheid der Antragsgegnerin (Ag.)
vom 14.01.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.03.2010, mit dem sie
die Antragstellerin (Ast.) nach § 60 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 Zweites Buches
Sozialgesetzbuch (SGB II) zur Auskunftserteilung über ihr Einkommen und Vermögen
herangezogen hat. Die Ag. beabsichtigte, die damit angeforderten Erklärungen
auszuwerten für die Entscheidung über einen möglichen Anspruch auf Leistungen nach
dem SGB II des unter selber Anschrift wohnhaften Herrn G-K L. Zugleich hat die Ag. im
Bescheid vom 14.01.2010 die sofortige Vollziehung bei Androhung von Zwangsgeld iHv
1.500 EUR angeordnet. Zur Begründung hat sie ausgeführt: "Das öffentliche Interesse
besteht in einem verantwortungsvollen Umgang mit Steuermitteln. Es ist derzeit davon
auszugehen, dass der Auskunftsanspruch ohne die Anordnung der sofortigen
Vollziehung erst in ca. 2 Jahren erfolgen kann, wenn Widerspruch und Klage erhoben
werden sollten, da bereits allein ein durchschnittliches Klageverfahren derzeit ca. 1 1/2
Jahre dauert. Für diesen Zeitraum müssten (unter Umständen zu Unrecht) SGB II-
Leistungen gewährt werden, welche anschließend gegebenenfalls zurückgefordert
werden müssten. Ob diese Steuermittel überhaupt wieder vereinnahmt werden können,
wäre zudem ungewiss. Daher ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung geboten."
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Dagegen hat die Ast. am 16.03.2010 Klage bei dem Sozialgericht (SG) Dortmund
erhoben (Az. S 14 AS 1080/10) und beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage
gem. § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) anzuordnen. Das SG hat
dem Antrag mit Beschluss vom 09.04.2010 entsprochen und ausgeführt, die
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aufschiebende Wirkung entfalle nicht wegen § 86 a Abs. 2 Nr. 5 SGG, weil die Ag. die
Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht tragfähig begründet habe. Die gegebene
Begründung betreffe u.a. Rückforderungsaussichten bezüglich Leistungen, über die die
Ag. noch gar nicht entschieden habe. Die Dauer sozialgerichtlicher Verfahren begründe
keine Abweichung von der gesetzgeberischen Entscheidung, nach der der Widerspruch
aufschiebende Wirkung entfalten solle. Die aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe
führe immer dann, wenn die Auskunftsadressaten ihre Rechte wahrnähmen, auch zu
langwierigen sozialgerichtlichen Verfahren. Im Einzelfall anerkennungsfähige
fiskalische Interessen seien hier im Übrigen nicht ansatzweise erkennbar dargetan.
Gegen diesen ihr am 14.04.2010 zugestellten Beschluss richtet sich die Beschwerde
der Ag. vom 05.05.2010: Sie habe die Voraussetzungen für die Gewährung von
Leistungen an Herrn L zu klären. Die dafür benötigten Angaben etc. müsse die Ast
machen. Das erfordere auch die Anordnung sofortiger Vollziehung, die sie hinreichend
begründet habe.
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Wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- und der
Verwaltungsakte verwiesen.
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II. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
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Das SG hat zu Recht die aufschiebende Wirkung der dort anhängigen Klage S 14 AS
1080/10 angeordnet. Zutreffend ist es im Rahmen der nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
SGG gebotenen Interessenabwägung davon ausgegangen, dass die streitige
Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 86a Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 SGG durch die
Ag. nicht ausreichend begründet worden ist. Es fehlt insgesamt an der Darlegung des
besonderen, die sofortige Vollziehung des Bescheides vom 14.01.2010 rechtfertigenden
öffentlichen Interesses. Auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung, denen sich
der Senat anschließt, wird in entsprechender Anwendung des § 153 Abs. 2 SGG Bezug
genommen.
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Ergänzend und zum Beschwerdevorbringen gilt Folgendes:
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Generell erfordert die schriftliche Begründung des besonderen Interesses an der
sofortigen Vollziehung eine Darstellung, aus der hervorgeht, warum in diesem
besonderen Einzelfall ausnahmsweise von der grundsätzlichen Wertentscheidung des
Gesetzgebers zugunsten der aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen - als
Regelfall - gegen den betreffenden Bescheid abgewichen wird (vgl. Landessozialgericht
- LSG - NRW, Beschluss vom 20.12.2007, L 9 B 189/07 AS ER, juris, mwN; Hessisches
LSG, Beschluss v. 12.02.2004, L 10 AL 1212/03 ER, Breith 2005, 704 ff.; LSG
Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 30.09.2002, L 4 KR 122/02 ER, juris). Bei der
Prüfung nach § 86b Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGG wird die Begründung der
Vollziehbarkeitsanordnung darauf hin untersucht, ob sie eine auf den konkreten
Einzelfall abstellende Darstellung des besonderen öffentlichen Interesses bzw
Drittinteresses an der sofortigen Vollziehung beinhaltet und Gründe nennt, die in der
Sache geeignet sind, die Anordnung zu tragen. Dies ist vorliegend nicht feststellbar.
Wenn es aber bereits an einer ausreichenden Begründung der Vollzugsanordnung fehlt,
bedarf es keiner (summarischen) Prüfung der Rechtmäßigkeit des Bescheides mehr (so
auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29.01.2008, L 10 B 2195/07 AS ER,
juris).
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Im Übrigen dürfte es nach der Leistungsablehnung gegenüber Herrn L (bestätigt durch
Beschluss des SG vom 06.08.2010 S 14 AS 2866/10 ER) auch an einem dringenden
Vollzugsinteresse der Ag. fehlen, zumal das SG offensichtlich ohne weitere
Ermittlungen die ablehnende Entscheidung der Ag. hat bestätigen können (vgl. LSG
Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 18.03.2010, L 5 AS 487/09 B ER Rn. 33, 34, juris)
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Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 197a SGG.
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Die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren erfolgt gemäß § 197a
Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 52 Gerichtskostengesetz (GKG). Im Rahmen der
Ermessensentscheidung nach § 52 Abs. 1 GKG erscheint dem Senat vor dem
Hintergrund des Leistungsanspruchs des Herrn L die Festsetzung des einfachen Werts
als angemessen.
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Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde beim Bundessozialgericht
angefochten werden (§ 177 SGG).
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