Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 09.08.2006

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Landessozialgericht NRW, L 11 (2) KR 59/05
Datum:
09.08.2006
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
11. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 11 (2) KR 59/05
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 5 KR 88/03
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom
13.04.2004 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht
zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten für eine topische Immuntherapie.
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Der 1981 geborene Kläger leidet seit Oktober 2001 an einer Alopecia areata
(kreisförmiger Haarverlust), die zu einem völligen Verlust der Körperbehaarung
einschließlich der Augenbrauen und Wimpern führen kann (Alopecia areata totalis).
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Der Kläger beantragte am 25.11.2002 bei der Beklagten die Kostenübernahme für eine
topische Immuntherapie mit Diphenylcyclopropenon (DCP). Beigefügt war eine
Erklärung der Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Venerologie der Universität L,
in der angegeben wird, bei dem Kläger bestehe eine Alopecia areata, die seit Oktober
2001 progredient sei bis zur Alopecia areata totalis. Ein früherer Therapieversuch sei
letztlich erfolglos geblieben, so dass jetzt die Durchführung einer topischen
Immuntherapie mit DCP empfohlen werde. Es handele sich nicht um eine originäre
Kassenleistung gemäß dem Leistungskatalog der GKV.
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Mit Bescheid vom 26.11.2002 lehnte die Beklagte die Gewährung der Leistung ab, da
es sich um eine außervertragliche Methode handele und die für die Anerkennung
erforderliche Entscheidung des (früheren) Bundesausschusses der Ärzte und
Krankenkassen (jetzt: Gemeinsamer Bundesausschuss) nicht vorliege. Mit seinem
Widerspruch machte der Kläger geltend, entgegen der Ansicht der Beklagten handele
es sich nicht um eine neue Methode. Die Behandlung sei vielmehr vor 20 Jahren
entwickelt worden und inzwischen wissenschaftlich anerkannt. Er wies darauf hin, der
Verlust der gesamten Körperbehaarung einschließlich der Augenbrauen und Wimpern
bedeute für ihn eine erhebliche psychische Belastung, er befürchte außerdem wegen
seines Aussehens Benachteiligung im Berufsleben. Die Beklagte lehnte zunächst mit
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weiterem Bescheid vom 10.12.2002 erneut die Gewährung der Leistung ab und wies mit
Widerspruchsbescheid vom 11.03.2003 den Widerspruch zurück.
Der Kläger hat sich vom 04.12.2002 bis zum 24.09.2003 mit DCP in der
Universitätsklinik L behandeln lassen; die Behandlung ist wegen mangelnden Erfolges
eingestellt worden. Hierfür sind dem Kläger Kosten in Höhe von 731,24 Euro
entstanden.
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Zur Begründung der Klage hat der Kläger vorgetragen, soweit die Anerkennung des
Bundesausschusses fehle und sich dieser noch nicht mit dem Verfahren befasst habe,
liege ein der Beklagten zuzurechnender Systemmangel vor. Allein von der Universität L
sei die Methode in den letzten Jahren an zahlreichen Patienten angewandt worden. Es
handele sich um eine wissenschaftlich dokumentierte und belegte
Behandlungsmethode.
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Das Sozialgericht hat zunächst eine Auskunft des Bundesausschusses eingeholt, der
unter dem 07.04.2003 mitgeteilt hat, bei DCP handele es sich nicht um ein
zugelassenes Medikament. Mit dem Verfahren der topischen Immuntherapie sei der
Ausschuss bisher nicht befasst worden. Weiter hat das Sozialgericht von Prof. Dr. I
(Universität N) eine Auskunft eingeholt, der diese Behandlungsmethode entwickelt hat.
Er hat mitgeteilt, der wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit sei seit 1983 durch
eine von ihm erstellte Studie erbracht. Das Sozialgericht hat zu den von Prof. Dr. I
benannten Veröffentlichungen eine weitere Auskunft des Bundesausschusses
eingeholt, der in seinem Antwortschreiben vom 29.10.2003 mitgeteilt hat, nach
Durchsicht der Originalstudien sei festzustellen, dass es an Studien mit der
erforderlichen Methodik handele. Der wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit
ergebe sich aus den Studien nicht, es handele sich um eine Behandlung mit
experimentellem Charakter. Wegen der Einzelheiten wird auf die vorgenannten
Unterlagen Bezug genommen.
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Mit Urteil vom 23.04.2005 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Ein
Leistungsanspruch bestehe nicht, da es sich bei der Immuntherapie mit DCP um eine
neue Methode handele, die bislang vom Gemeinsamen Bundesausschuss nicht
anerkannt worden sei. Ein Systemmangel sei zu verneinen, da auf Grund der
schwachen Datenlage nach der Auskunft des Bundesausschusses eine Bewertung der
topischen Immuntherapie nicht möglich sei. Unerheblich sei, dass die Methode seit
mehreren Jahren unter anderem von Prof. Dr. I und an der Universitätsklinik L
angewandt werde.
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Der Kläger hält im Berufungsverfahren an seiner Auffassung fest, dass ein
Systemmangel vorliege. Auf Grund des Wissensstandes sei es nicht nachvollziehbar,
dass noch keine der antragsbefugten Stellen einen Antrag auf Überprüfung beim
Bundesausschuss gestellt haben. Das Fehlen von Langzeitergebnissen oder größeren
Studien sei nicht relevant, weil solche Unterlagen durch die Erprobung in der Praxis
ersetzt worden seien. Insoweit sei zu beachten, dass es keine anerkannte alternative
Behandlungsmethode gebe, die zum Leistungskatalog der GKV zählt.
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Der Kläger beantragt,
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das angefochtene Urteil des Sozialgerichts Köln vom 13.04.2005 (Aktenzeichen: S 5 KR
88/03) sowie den Bescheid der Beklagten vom 18.12.2002 in der Fassung des
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Widerspruchsbescheides vom 11.03.2003 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen,
dem Kläger die Kosten einer topischen Immuntherapie mittels DCP in Höhe von 731,24
EUR zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Der Senat hat von der Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Veneralogie des
Klinikums der Universität L eine Auskunft zu der Behandlung des Klägers eingeholt. Sie
hat unter dem 23.01.2006 mitgeteilt, dass die Behandlung wegen mangelnden Erfolges
eingestellt worden sei. DCP sei kein Fertigarzneimittel, es werde aus eigener Apotheke
für die Sprechstunde angemischt.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, auch hinsichtlich des
Vorbringens der Beteiligten, wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der
Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, der Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat zu Recht
die Klage abgewiesen, denn der Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung der ihm für
die Behandlung mittels topischer Immuntherapie mit DCP entstandenen Kosten.
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Der Kläger hat im Berufungsverfahren klargestellt, dass es nur um die Kostenerstattung
für die durchgeführte Behandlung geht. Nachdem er seinen Erstattungsanspruch
beziffert hat, ist die Klage zulässig.
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Ein Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 5. Buch Sozialgesetzbuch
(SGB V) setzt in jedem Fall voraus, dass es sich bei der selbst beschafften Behandlung
um eine von dem Leistungskatalog der GKV umfasste Leistung handelt. Dies trifft für die
topische Immuntherapie mit DCP nicht zu.
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Es kann dahinstehen, ob im Falle des Klägers eine Krankheit im
krankenversicherungsrechtlichen Sinne vorliegt. Krankheit im Sinne des § 27 Abs. 1
SGB V ist ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender
Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf, oder den Betroffenen
arbeitsunfähig macht. Einer körperlichen Unregelmäßigkeit kommt nur dann
Krankheitswert zu, wenn der Versicherte in seinen Körperfunktionen beeinträchtigt wird
oder wenn die anatomische Abweichung entstellend wirkt (zuletzt zusammenfassend
BSG SozR 4-2500, § 27 Nr. 3). Eine Beeinträchtigung von Körperfunktionen durch den
Haarverlust ist nicht ersichtlich. Ob eine entstellende Wirkung der Augenbrauen und
Augenwimpern zu bejahen ist, kann dahinstehen, da ein Leistungsanspruch auch bei
Vorliegen einer Krankheit zu verneinen ist.
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Das Sozialgericht hat zutreffend entschieden, dass der Leistungsanspruch an der
fehlenden Anerkennung der Behandlungsmethode durch den Gemeinsamen
Bundesausschuss scheitert. Nach der Rechtsprechung des BSG unterliegen ambulant
durchgeführte Pharmakotherapien dem Erlaubnisvorbehalt des § 135 Abs. 1 SGB V,
wenn die eingesetzten Präparate keine Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz (AMG)
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benötigen, wie das bei Rezepturarzneimitteln oder Arzneimitteln der Fall ist, die für den
einzelnen Patienten auf besondere Anforderung hergestellt werden (BSG SozR 3-2500
§ 31 Nr. 5; SozR 3-2500 § 135 Nr. 14). Dies trifft für DCP zu, da es sich nicht um ein
Fertigarzneimittel im Sinne des § 4 Abs. 1 AMG handelt, so dass keine Zulassung nach
dem AMG erforderlich ist. In der Auskunft vom 23.01.2006 hat die Universitätsklinik L die
Aussage des Bundesausschusses bestätigt, dass DCP kein Fertigarzneimittel ist.
Vielmehr wird das Mittel im konkreten Fall in der hauseigenen Apotheke angemischt.
Somit bedarf eine Therapie mittels DCP der - hier fehlenden - Anerkennung durch den
Gemeinsamen Bundesausschuss.
Ein Kostenerstattungsanspruch lässt sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt eines
Systemversagens begründen. Der vom Kläger gerügte Systemmangel liegt nicht vor.
Von einem pflichtwidrigen Untätigbleiben des Gemeinsamen Bundesausschusses bzw.
der antragsbefugten Stellen könnte nur dann die Rede sein, wenn trotz "Beratungsreife"
kein entsprechender Antrag gestellt worden wäre. Da es grundsätzlich auch in Fällen
eines Systemversagens nicht ausreicht, dass eine Behandlungsmethode nur verbreitet
ist, sondern ihre Wirksamkeit in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl
von Behandlungsfällen auf Grund wissenschaftlich einwandfrei geführter Statistiken
belegt werden muss (vgl. BSGE 86, 54), kann eine pflichtwidrige Versäumnis nur
angenommen werden, wenn tatsächlich solche wissenschaftlichen Nachweise zur
Wirksamkeit Anlass zur Überprüfung der fraglichen Methode geben. Insoweit hat der
Gemeinsame Bundesausschuss in seiner Stellungnahme vom 29.10.2003 zu den von
Prof. Dr. I benannten Studien darauf hingewiesen, es mangele an Studien mit der
erforderlichen methodischen Qualität. Diese Auskunft des Bundesausschusses ist der
Kläger nicht fundiert entgegengetreten. In seiner Berufungsbegründung führt er im
Gegenteil aus, das Fehlen von Langzeitergebnissen oder Studien sei irrelevant, räumt
also indirekt ein, dass solche wissenschaftlich aussagekräftigen Unterlagen nicht
vorliegen. Es gibt daher keinen Anhalt für ein Systemversagen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
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Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
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