Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 08.12.2003

LSG NRW: krankenpflege, vorläufiger rechtsschutz, aufschiebende wirkung, ärztliche verordnung, hauptsache, sicherstellung, sozialhilfe, erlass, versorgung, haushalt

Landessozialgericht NRW, L 5 B 77/03 KR ER
Datum:
08.12.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 5 B 77/03 KR ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 40 KR 270/03 ER
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerden des Antragstellers werden die Beschlüsse des
Sozialgerichts Dortmund vom 23.10.2003 geändert. Dem Antragsteller
wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe unter
Beiordnung von Rechtsanwältin C, L, bewilligt. Die Antragsgegnerin
wird verpflichtet, den Antragsteller ab September 2003 von den Kosten
für häusliche Krankenpflege im Umfang von 14 Stunden täglich
freizustellen bzw. ihm in diesem Umfang nach ärztlicher Verordnung bis
zur erstinstanzlichen Entscheidung in der Hauptsache häusliche
Krankenpflege zu gewähren. Der weitergehende Antrag des
Antragstellers wird abgelehnt. Die Antragsgegnerin hat dem
Antragsteller 90 % der Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
Gründe:
1
I.
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Der im April 2000 geborene Antragsteller (Ast.) ist familienversichertes Mitglied der
Antragsgegnerin (Ag.), er lebt mit seinen Eltern und einem 1995 geborenen
Geschwisterkind in einem gemeinsamen Haushalt. Wegen einer angeborenen
neuromuskulären Erkrankung besteht eine respiratorische Insuffizienz mit der
Notwendigkeit einer maschinellen Langzeitbeatmung (derzeit im Umfang von
mindestens 16 Stunden). Er erhält seit Januar 2002 Leistungen aus der
Pflegeversicherung nach der Pflegestufe III.
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Nach der Entlassung des Ast. aus der Kinderklinik der Städtischen Kliniken E bewilligte
die Ag. auf der Grundlage eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung (MDK) von Dr. S (Ärztin für Kinder- und Jugendmedizin) vom
04.04.2001 häusliche Krankenpflege im Umfang von 12 Stunden täglich. Aufgrund
ärztlicher Verordnung vom 28.09.2001 und eines weiteren Gutachtens von Dr. S vom
09.11.2001 wurde nach einer Aktennotiz vom 29.11.2001 häusliche Krankenpflege im
Umfang von 14 Stunden täglich ab 01.10.2001 genehmigt. In der Genehmigung vom
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30.07.2002 für das Quartal 01.07. bis 30.09.2002 wurde der Ast. darauf hingewiesen,
die Genehmigung gelte nur so lange, als der MDK nicht aufgrund einer neuen
Beurteilung zu einer geringeren Stundenzahl komme.
Auf die Folgeverordnung der behandelnden Kinderärzte Dres. T/I vom 10.01.2003 für
das I. Quartal 2003 im Umfang von 14 Stunden täglich holte die Ag. ein weiteres
Gutachten des MDK ein, das Dr. S unter dem 05.03.2003 erstattete. Sie führte aus, die
bereits im letzten Gutachten beschriebene Situation (Tracheostoma, maschinelle
Beatmung, PEG-Sonde, Kontrakturen, Hüftluxation) bestehe nach wie vor. Die
Spontanatmung habe sich verbessert, fallweise sei eine Atmung über die künstliche
Nase für sechs bis acht Stunden möglich, jedoch mit Unterbrechungen von
unterschiedlicher Dauer zwischen vier Stunden und 10 Minuten; die Notwendigkeit der
Umstellung auf die maschinelle Beatmung sei nicht vorhersehbar. Eine Beobachtung
sei daher über 24 Stunden geboten. Gleichzeitig führte sie unter Aufzählung einzelner
der in der Anlage zu den "Richtlinien über die Verordnung von häuslicher
Krankenpflege nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 und Abs. 7 SGB V" (vom 16.02.2000 (BAnz
Nr. 91 vom 13.05.2000)) genannten Maßnahmen aus, es resultiere - bis auf die Phasen
der 16-stündigen Beatmung und der spezifischen Krankenbeobachtung - ein
Gesamthilfebedarf für die Behandlungspflege von 133 Minuten. Grundsätzlich sei die
Mutter in der Lage, sämtliche anfallenden pflegerischen Tätigkeiten durchzuführen,
allein durch den Pflegedienst zu erbringen seien die Wartung der Geräte sowie deren
Funktionsprüfung sowie ein Trachealkanülenwechsel.
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Mit Bescheid vom 17.06.2003 bewilligte die Beklagte ab 01.07.2003 häusliche
Krankenpflege nur im Umfang von maximal sechs Stunden täglich. Auf den
Widerspruchspruch des Ast. gewährte sie die Leistungen im bisherigen Umfang wegen
der von ihr angenommenen aufschiebenden Wirkung des Widerspruches während der
Dauer des Widerspruchsverfahrens. Sie holte im Widerspruchsverfahren eine
Stellungnahme von Dr. S vom 11.07.2003 ein, die darin ausführte, der Umfang der
erforderlichen Behandlungspflege betrage dem Grunde nach 16 Stunden
(krankenspezifische Beobachtung bei maschineller Beatmung). In dieser Phase werde
zusätzlich eine Behandlungspflege von 133 Minuten erbracht. Der Ast. machte geltend,
die Voraussetzungen für eine Rücknahme des seinerzeit die Behandlungspflege
bewilligenden Bescheides lägen nicht vor. Er sei weiterhin und unverändert auf
Behandlungspflege rund um die Uhr angewiesen, denn er dürfe auch nicht zwei
Minuten ohne optische und akustische Überwachung durch eine mit der Intensivpflege
vertrauten Pflegeperson sein. Es könne jederzeit zu lebensbedrohlichen Notfällen
kommen. Der Charakter als Behandlungspflege gehe insoweit nicht dadurch verloren,
dass in dieser Zeit andere Verrichtungen wie etwa Krankengymnastik oder Grundpflege
erbracht würden. Die Mutter könne die Behandlungspflege nicht in einem weiteren
Umfang übernehmen, im Gegenteil sei davon auszugehen, dass sie durch die bisherige
Pflege und die übrigen Verpflichtungen wie Haushalt und Versorgung des weiteren
Kindes bereits überlastet sei, so dass eine Erhöhung der Stunden erforderlich sein
werde.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 23.09.2003 wies die Ag. den Widerspruch zurück, wobei
sie darauf hinwies, die laufende Zahlung werde mit dem gleichen Tag eingestellt.
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Der Ast. hat am 26.09.2003 Klage in der Hauptsache erhoben und zugleich um
vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Dabei hat er für die Zeit ab 17.07.2003
häusliche Krankenpflege im Umfang von 16 Stunden begehrt und sich insoweit auf ein
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Schreiben der Dres. T/I vom 07.07.2003 und eine Verordnung dieser Ärzte vom
25.09.2003 (für die Zeit vom 01.10. bis 31.12.2003) sowie ein Attest des Arztes für
Allgemeinmedizin Dr. U, in dem Dr. U wegen eines psychischen
Erschöpfungssyndroms der Mutter zu deren Entlastung im Rahmen der Pflege rät,
bezogen. Zur Sicherstellung seiner Atmung benötige er über 24 Stunden
ununterbrochen eine krankheitsspezifische Beaufsichtigung. Es sei realitätsfern, wenn
die Ag. nur sechs Stunden häusliche Krankenpflege täglich bewilligt habe, seine Mutter
sei nicht in der Lage, für 18 Stunden die erforderliche Pflege zu übernehmen. Im
Gegenteil sei ihre gesundheitliche Situation angespannt, im Vergleich zur
Vergangenheit seien weitere Entlastungen notwendig, da sie trotz der 14-stündigen
Entlastung durch den Pflegedienst überfordert sei. Die Ag. hat demgegenüber auf das
Gutachten des MDK vom 05.03.2003 verwiesen, in dem nur ein Gesamthilfebedarf von
133 Minuten für die Behandlungspflege festgestellt worden sei. Der Ast. habe auch nicht
glaubhaft gemacht, welche irreparablen Nachteile drohten, gegebenenfalls könne er in
zumutbarer Weise auf die Inanspruchnahme von Sozialhilfe verwiesen werden.
Mit Beschluss vom 23.10.2003 hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Es ist davon
ausgegangen, dass "neben einer 16-stündigen Überwachung nur 133 Minuten
Behandlungspflege" erforderlich seien. Ob und in welchem Umfang die Mutter und der
Vater die Überwachung mit übernehmen könnten, müsse im Hauptsacheverfahren
geklärt werden. Bedenken gegen den Erlass einer einstweiligen Anordnung bestünden
auch wegen des Verbots der Vorwegnahme der Hauptsache, da die Gewährung
häuslicher Krankenpflege nach deren Gewährung nicht mehr rückgängig gemacht
werden könne. Mit Beschluss vom gleichen Tag hat das Sozialgericht auch die
Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren abgelehnt.
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Gegen diese ihm am 24.10.2003 zugestellten Beschlüsse hat der Ast. am 05.11.2003
Beschwerden eingelegt, denen das Sozialgericht nicht abgeholfen hat.
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Er wiederholt seine Auffassung, er benötige die Behandlungspflege im Umfang von 24
Stunden, da er ständig zur Sicherstellung der Atmung beobachtet werden müsse. Es sei
eine lückenlose krankheitsspezifische Beobachtung notwendig. Nur wegen der
Mitwirkung seiner Mutter an der erforderlichen Pflege sei eine Reduzierung des
Einsatzes des Pflegedienstes auf 16 Stunden täglich möglich. Eine Beteiligung der
Mutter über acht Stunden hinaus komme nicht in Betracht, denn bereits zum jetzigen
Zeitpunkt sei sie so erschöpft, dass ihre eigene Gesundheit betroffen sei. Der Vater sei
nicht einsetzbar, er nehme an einem Metadonprogramm teil. Im Übrigen habe das
Sozialgericht nicht beachtet, dass angesichts der Gefährdung für Leben und Gesundheit
entweder eine eingehende Sachverhaltsaufklärung erforderlich oder eine
Folgenabwägung vorzunehmen sei, die in diesem Fall zu seinen Gunsten ausfallen
müsse. Zur Glaubhaftmachung hat er Bescheinigungen der Dres. T/I vom 03.11.2003,
des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. U1 vom 04.11.2003 und eine Stellungnahme des
Pflegedienstes zu dem Beschluss des Sozialgerichts überreicht.
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Der Ast. beantragt sinngemäß,
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die Beschlüsse des Sozialgerichts Dortmund vom 23.10.2003 zu ändern und 1. ihm für
das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe zu gewähren, 2. im Wege der
einstweiligen Anordnung die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen und die Ag.
zu verpflichten, aufgrund der ärztlichen Verordnung vom 17.07.2003 weitere zwei
Stunden Sicherungspflege zu gewähren, hilfsweise die Ag. im Wege der einstweiligen
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Anordnung zu verpflichten, die notwendige häusliche Krankenpflege für Leistungen der
medizinischen Behandlungspflege im verordneten Umfang von 16 Stunden zu
gewähren.
Die Ag. beantragt,
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die Beschwerden zurückzuweisen.
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Sie verweist auf die Gutachten des MDK und meint, aus dem Vortrag des Ast. ergäben
sich keine neuen Argumente.
16
II.
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Die Beschwerden sind zulässig. Die Beschwerde gegen den Prozesskostenhilfe
versagenden Beschluss ist begründet, da nach den nachstehenden Ausführungen die
Rechtsverfolgung Aussicht auf Erfolg hatte und der Ast., der Sozialhilfe bezieht, die
Kosten seiner erforderlichen Vertretung nicht aufbringen kann. Hinsichtlich der
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat die Beschwerde auch im Wesentlichen
Erfolg, denn der Ast. hat über die eingeräumten sechs Stunden häusliche
Krankenpflege täglich hinaus Anspruch auf weitere acht Stunden, also auf 14 Stunden
tägliche Behandlungspflege.
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Zutreffend ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass hier vorläufiger Rechtsschutz
nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu gewähren ist. Da häusliche
Krankenpflege immer nur abschnittsweise bewilligt wird (nämlich für den in der
ärztlichen Verordnung genannten Zeitraum, hier also quartalsweise), haben
Bewilligungen eine Dauerwirkung nur für die Zeit des Bewilligungszeitraumes (s.a. zur
ohnehin begrenzten Bindungswirkung von Bewilligungen BSG SozR 3-2500 § 27 Nr.
12). Der Bescheid vom 30.07.2002 gilt auch ausdrücklich nur für die Zeit vom 01.07. bis
30.09.2002. Die Ablehnung der Leistung für einen neuen Abschnitt unterfällt daher nicht
§ 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X); dementsprechend liegt auch kein Fall
der aufschiebenden Wirkung nach § 86a Abs. 1 SGG vor, wenn die Bewilligung einer
Folgeverordnung abgelehnt oder die Leistung nicht im bisherigen Umfang bewilligt wird.
Aus dem Umstand, dass die Bewilligung nur eine Rechtsposition für die Dauer des
Bewilligungszeitraums begründet, folgt weiter, dass hier eine Regelungsanordnung
nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Begründung einer Rechtsposition in Betracht kommt.
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Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines
Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz
begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit,
bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache
abzuwarten, voraus (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl., § 86b Rdn. 27 f.). Sowohl ein
Anordnungsanspruch wie ein Anordnungsgrund liegen vor.
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Das Sozialgericht hat die Voraussetzungen des Anspruchs auf medizinische
Behandlungspflege verkannt und daher zu Unrecht das Bestehen eines
Anordnungsanspruchs verneint. Nach dem gegenwärtigen Sachstand spricht vielmehr
deutlich mehr dafür, dass der Ast. mindestens im Umfang von 14 Stunden täglich
Anspruch auf Behandlungspflege nach § 37 Abs. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch
(SGB V) hat. Zur Behandlungspflege zählen alle Pflegemaßnahmen, die durch eine
bestimmte Erkrankung verursacht werden, spezifisch auf den Krankheitszustand
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ausgerichtet sind und dazu beitragen, eines der Behandlungsziele des § 27 Abs. 1 Satz
1 SGB V zu erreichen (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 2; SozR 3- 2500 § 37 Nr. 1).
Entgegen der Annahme der Ag., der das Sozialgericht gefolgt ist, beträgt danach der
Umfang der erforderlichen Behandlungspflege nicht nur 133 Minuten, sondern es ist
Behandlungspflege für 24 Stunden notwendig. Das BSG hat in seinem Urteil vom
28.01.1999 (SozR 3-2500 § 37 Nr. 1) entschieden, dass selbst die reine Beobachtung
der Atmung und der technischen Apparaturen eine krankheitsspezifische
Beaufsichtigung und damit Bestandteil der Behandlungspflege sei. Somit besteht
Anspruch auf Behandlungspflege rund um die Uhr, wenn zur Sicherung der Atmung
eine ununterbrochene Behandlung erforderlich ist. So liegt es hier. Dr. S hat insoweit in
ihrem Gutachten vom 09.11.2001 nach den Grundsätzen der genannten Entscheidung
des BSG die Notwendigkeit von Behandlungspflege im Umfang von 18 Stunden und in
dem Gutachten vom 05.03.2003 bzw. der Stellungnahme vom 11.07.2003 im Umfang
von 16 Stunden bejaht. Dabei hat sie aber offenkundig nur die Zeiten der maschinellen
Beatmung berücksichtigt. Aus ihrem Gutachten, insbesondere dem Gutachten vom
05.03.2003, ergibt sich aber darüber hinausgehend, dass auch in den Phasen der
Spontanatmung über eine künstliche Nase, die (tagsüber) zwischen sechs bis acht
Stunden betragen können (und bei Infekten der oberen Atemwege völlig entfallen, s. die
Stellungnahme des Pflegedienstes zu dem angefochtenen Beschluss)
Unterbrechungen mit unterschiedlicher Dauer zwischen 10 Minuten und vier Stunden
anfallen, wobei die Notwendigkeit der Umstellung auf eine maschinelle Beatmung nicht
möglich ist. Somit ist auch während dieser Zeit eine genaue Beobachtung des Ast.
bezüglich der Vitalzeichen erforderlich, so dass, wie Dr. S im Gutachten vom 05.03.2003
auch ausdrücklich einräumt, eine Beobachtung über 24 Stunden geboten ist. Da es sich
um eine krankheitsspezifische Beaufsichtigung handelt, ist sie Bestandteil der
Behandlungspflege. Soweit Dr. S im Gutachten vom 05.03.2003 gemeint hat, nach den
Kriterien der Richtlinien über die häusliche Krankenpflege sei nur Behandlungspflege
im Umfang von 133 Minuten täglich notwendig, ist darauf hinzuweisen, dass in den
Richtlinien keine klaren Aussagen zur Behandlungspflege für Fälle der vorliegenden Art
getroffen werden. Zur Leistungsposition Nr. 8 "Beatmungsgerät" der Anlage zu den
Richtlinien werden als Leistungen nur Anpassung und Überprüfung der Einstellungen
des Beamtmungsgeräts an Vitalparameter sowie Maßnahmen am Gerät genannt, die
Leistungsposition Nr. 24 "spezielle Krankenbeobachtung" ist ersichtlich eher auf
Akutfälle ausgerichtet. Eine krankheitsspezifische Beaufsichtigung zur Abwehr akuter
Gefährdungen findet sich in dem Leistungsverzeichnis nicht. Es ist in Fällen der
vorliegenden Art andererseits auch nicht zielführend, wenn mechanisch die einzelnen
Leistungspostionen der Anlage durchgegangen und insoweit Minutenwerte vergeben
werden, wenn gleichzeitig feststeht, dass das Krankheitsbild die ständige Beobachtung
des Versicherten erfordert, weil dies zur Sicherstellung der Atmung erforderlich ist. Zwar
heisst es in der Ziff. 3 der Richtlinien, nicht im Leistungsverzeichnis enthaltene
Maßnahmen dürften nicht verordnet werden. Sofern dies bedeuten würde, dass die
Beobachtung bei maschineller Beatmung nicht als Behandlungspflege verordnet
werden darf, wären die Richtlinien wohl insoweit mangels Vereinbarkeit mit
höherrangigem Recht nichtig, da in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6, Abs. 7
SGB V nur Regelungen zur ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen
Versorgung getroffen, nicht aber notwendige Maßnahmen der Behandlungspflege
ausgeschlossen werden dürfen (vgl. BSG SozR 3-2500 § 27 Nr. 12).
Der damit an sich gegebene Leistungsanspruch für 24 Stunden ist jedoch von zwei
Seiten her begrenzt: Zum einen ist der Anspruch auf häusliche Krankenpflege
ausgeschlossen, soweit eine im Haushalt lebende Person die erforderliche Pflege
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erbringen kann (§ 37 Abs. 3 SGB V), zum anderen ist zu berücksichtigen, dass der Ast.
auch Leistungen nach dem SGB XI erhält und während der 24-stündigen
Beaufsichtigung durch den Pflegedienst auch Leistungen der Grundpflege anfallen.
Insoweit ist nach der Entscheidung des BSG vom 28.01.1999 (a.a.O.) davon
auszugehen, dass während der Erbringung der Leistungen der Grundpflege die
Behandlungspflege in den Hintergrund tritt, mit anderen Worten, insoweit nur eine
Leistungspflicht der Pflegekasse besteht. Ob insoweit tatsächlich eine eindeutige
Trennung beider Maßnahmen möglich ist und wie die Aufteilung im konkreten Fall
aussehen würde, kann in diesem Verfahren nicht abschließend entschieden werden.
Aus dem Pflegegutachten des MDK vom 15.03.2002 ergibt sich jedenfalls, dass
krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen, insbesondere das Absaugen im Kontext mit
der Körperpflege und der Nahrungsaufnahme zeitlich bei der Grundpflege mit
berücksichtigt worden sind. Zudem ist die Beaufsichtigung zur Sicherstellung der
Atmung auch während der sonstigen Leistungen der Grundpflege möglich. Der
Grundpflegebedarf ist in dem genannten Gutachten mit insgesamt 246 Minuten täglich
ermittelt worden, so dass es bei einer groben Schätzung gerechtfertigt erscheint, wenn
zumindest für drei Stunden täglich davon ausgegangen wird, dass die Grundpflege die
Behandlungspflege "verdrängt", also insoweit (nur) die Leistungspflicht der Pflegekasse
besteht.
Im Umfang von sieben bis acht Stunden täglich kann die Mutter des Ast. die
erforderliche Beaufsichtigung übernehmen, so dass insoweit der Anspruch auf
Krankenpflege ausgeschlossen ist (§ 37 Abs. 3 SGB V). Dass sie in die
Behandlungsmaßnahmen eingewiesen und grundsätzlich zur adäquaten Übernahme
der Behandlungspflege in der Lage ist, wird in dem MDK-Gutachten durchgehend
hervorgehoben und auch vom Ast. nicht in Frage gestellt. Streitig ist allein der zeitliche
Umfang der zumutbaren Übernahme. Nach der Stellungnahme des Pflegedienstes kann
die Mutter nach eigener Angabe höchstens acht bis 10 Stunden die Pflege übernehmen.
In der Vergangenheit ist auch der behandelnde Kinderarzt offenkundig davon
ausgegangen, dass die Mutter 10 Stunden täglich die Pflege übernehmen kann, da nur
14 Stunden täglich häusliche Krankenpflege beantragt worden war. Da die Frage,
inwieweit nicht die Grundpflege nach dem SGB XI der Behandlungspflege vorgeht,
bislang nicht erörtert und geprüft worden war, wird der von Dres. T/I geforderten
Entlastung der Mutter (bei der er davon ausgeht, dass sie 10 Stunden täglich die Pflege
zu übernehmen hat), Rechnung getragen, wenn die Ag. von der nach "Abzug" der
Grundpflege verbleibenden Zeit von 21 Stunden Behandlungspflege 14 Stunden zu
übernehmen hat. Eine weitergehende Belastung der Mutter, die bereits seit über zwei
Jahren in die Pflege eingebunden ist, so dass das bescheinigte Erschöpfungssyndrom
nachvollziehbar erscheint, hält der Senat - auch unter Berücksichtigung der Versorgung
eines weiteren minderjährigen Kindes - nicht für zumutbar. Bei dem Vater des Ast. muss
nach der Bescheinigung von Dr. U vom 04.11.2003 davon ausgegangen werden, dass
der Vater nicht die erforderliche Zuverlässigkeit für die Übernahme der
Behandlungspflege aufbringt, denn wenn er sich in einem Metadonprogramm befindet,
muss schon eine langjährige Drogenkarriere vorgelegen haben. Dies spricht dagegen,
dass der Vater die Verantwortung für die Pflege des Ast. dauerhaft übernehmen kann;
ggf. kann im Hauptsacheverfahren genauer geklärt werden, ob und in welchem Umfang
der Vater unter Umständen doch auch den Ast. pflegen könnte. Auf der anderen Seite
spricht derzeit nichts dafür, dass unter Berücksichtigung der vorrangigen Grundpflege
die geforderten 16 Stunden häuslicher Krankenpflege erforderlich sind. Insoweit ist auch
zu berücksichtigen, dass die Mutter offenbar selbst davon ausgeht, die Pflege zumindest
für ca. sieben bis acht Stunden täglich erbringen zu können. Ohnehin liegt für die Zeit
23
vor dem 01.10.2003 keine ärztliche Verordnung in diesem Umfang vor, Dres. T/I haben
insoweit lediglich im Schreiben vom 07.07.2003 um Überprüfung einer entsprechenden
Erhöhung gebeten, nachdem sie in ihrer Verordnung vom 01.07.2003 noch 14 Stunden
genannt hatten. Der Ast. hat auch nicht vorgetragen, dass seit Juli 2003 tatsächlich
Behandlungspflege in diesem Umfang erbracht worden ist.
Die Dringlichkeit der Entscheidung - der Anordnungsgrund - ergibt sich schon aus der
Tatsache, dass der Ast. vital auf die Leistungen der Behandlungspflege angewiesen
und angesichts des Bezugs von Sozialhilfe wirtschaftlich nicht in der Lage ist, sich die
Leistungen (vorläufig) selbst zu beschaffen. Soweit das Sozialgericht Bedenken gegen
den Erlass einer einstweiligen Anordnung geäussert hat, weil die Hauptsache nicht
vorweggenommen werden dürfe, hat es nicht bedacht, dass dieses Argument nicht gilt,
wenn - wie hier - ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes irreparable, für den
Ast. unzumutbare Nachteile drohen (vgl. nur Meyer-Ladewig, § 86b Rdn. 31; Senat,
Beschluss vom 25.02.2002 - L 5 B 3/02 KR ER = NZS 2002, 498, 499). Darüber hinaus
wäre dieses Argument auch gegen die Versagung der einstweiligen Anordnung
anzuführen, denn wenn - wie hier - die finanziellen Mittel zur Selbstbeschaffung der
Leistungen fehlen, wäre bei Ablehnung der Anordnung ein endgültiger Rechtsverlust zu
besorgen, da Sachleistungen naturgemäß nicht rückwirkend erbracht werden können
(vgl. dazu BSG, Urteil vom 25.03.2003 - B 1 KR 17/01 R -). Auf die Inanspruchnahme
von Sozialhilfe kann der Ast. nicht verwiesen werden (Senat, a.a.O.).
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Zur Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass ein Leistungsanspruch nur besteht, wenn
jeweils vertragsärztliche Verordnungen von häuslicher Krankenpflege im Umfang von
mindestens 14 Stunden täglich erfolgen. Der Senat hat die Verpflichtung der Ag. zeitlich
bis zur erstinstanzlichen Entscheidung begrenzt. Obsiegt der Ast., kann er aus dem
Urteil vollstrecken (§ 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Wird die Klage abgewiesen, kann er ggf.
erneut um vorläufigen Rechtsschutz nachsuchen, über den dann unter Berücksichtigung
der im erstinstanzlichen Verfahren gewonnenen Erkenntnisse zu entscheiden wäre.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Senat hat bei seiner Entscheidung
berücksichtigt, dass der Ast. zu einem geringen Teil mit seinem Antrag erfolglos
geblieben ist.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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