Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 23.10.2000

LSG NRW: freiwillige versicherung, eidesstattliche erklärung, verordnung, zwangsarbeit, fabrik, abgrenzung, arbeitsentgelt, beitragszeit, bayern, anerkennung

Landessozialgericht NRW, L 3 RJ 60/99
Datum:
23.10.2000
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 3 RJ 60/99
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 39 (8) RJ 34/96
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 16.12.1998 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche
Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision
wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Streitig sind Ansprüche des Klägers gegenüber der deutschen
Arbeiterrentenversicherung hinsichtlich nach dem FRG (Fremdrentengesetz) zu
berücksichtigender Versicherungszeiten in Polen, behaupteter Versicherungszeiten im
Ghetto B ... und behaupteter Versicherungszeiten im DP-Lager L .../D ... mit dazwischen
liegenden Ersatzzeiten.
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Der am ...1923 in S .../Polen geborene Kläger ist jüdischer Abstammung und lebt seit
seiner Auswanderung 1949 in Israel, dessen Staatsangehörigkeit er angenommen hat.
Der Kläger ist Verfolgter im Sinne von § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes und
bezieht eine laufende Rente von rund 1.300,-- DM wegen eines verfolgungsbedingten
Gesundheitsschadens.
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Im Entschädigungsverfahren ließ der Kläger bei seinem am 30.09.1950 gestellten
Antrag die Frage nach einer Vorkriegstätigkeit unbeantwortet und gab an, derzeit als
Tischler zu arbeiten.
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Bei dem 1957 gestellten Antrag auf Entschädigung für Schäden an Körper und
Gesundheit gab der Kläger auf die Frage nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen
Verhältnissen vor der Verfolgung an, sein Vater sei selbständiger Tischler mit
Meisterprüfung gewesen, habe eine Möbeltischlerei mit 40 bis 50 Arbeitern besessen,
hieraus in den Jahren von 1936 bis 1939 2.000,-- bis 3.000,-- Zloty monatlich erlöst.
Hiermit antwortete der Kläger auf die Aufforderung, die Lebensverhältnisse der Eltern
bei Kindern anzugeben, die bei Beginn ihrer Verfolgung ihre Schul- oder
Berufsausbildung noch nicht abgeschlossen haben. In einer eidesstattlichen
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Versicherung bekräftigte der Kläger noch einmal, sein Vater habe im eigenen Haus eine
große Möbeltischlerei besessen, sei ein wohlhabender Mensch gewesen und habe
insbesondere in den letzten Jahren vor Ausbruch des Krieges ein geschätztes
monatliches Reineinkommen von 2.000,-- bis 3.000,-- Zloty erzielt. Von Beginn der
Verfolgung an habe er schwere Zwangsarbeit zu leisten gehabt. Der Zeuge A ... S ...
bestätigte dies in einer eigenen eidesstattlichen Erklärung, ebenso der Zeuge J ... B ...,
der zudem angab, im Betrieb des Vaters des Klägers als Tischler gearbeitet zu haben,
in dem nach seiner Schätzung dauernd 40 bis 50 Arbeiter beschäftigt gewesen seien.
Gegenüber dem Gutachter Dr. G ... gab der Kläger an, im Arbeitslager B ... bereits 1942
vom Lagerleiter S ... auf das Schwerste misshandelt worden zu sein. Gegenüber dem
Nervenarzt Dr. L ... gab der Kläger an, vor dem Krieg noch Schüler gewesen zu sein und
ab 1942 zu Zwangsarbeiten herangezogen worden zu sein. Der damalige
Prozessbevollmächtigte des Klägers trug noch mit Schreiben vom 17.07.1959 vor, der
Antragsteller sei vor dem Kriege noch ein Kind gewesen, weshalb seine
Entschädigungseinstufung nach den Verhältnissen des Vaters zu bestimmen sei. Hierzu
legte er eine eidesstattliche Erklärung der M ... G ... vor, wonach der Vater des Klägers
Inhaber einer Tischlerei mit 18 bis 20 Beschäftigten war.
Gegenüber dem Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr. S ... gab der Kläger an, in seiner Heimatstadt
bis zum 16. Lebensjahr die Mittel schule besucht zu haben und ab 1939 im Ghetto
inhaftiert gewesen zu sein.
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Im Juni 1990 beantragte der Kläger Altersruhegeld wegen Vollendung des 65.
Lebensjahres vom frühestmöglichen Zeit punkt an unter Berücksichtigung sämtlicher
Versicherungszeiten sowie unter Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen. Nun
gab er an, er habe von etwa 1937 bis zum Beginn der Verfolgung im Jahre 1939 als
Tischler gelernt und gearbeitet, sei während des Krieges Verfolgungsmaßnahmen
ausgesetzt gewesen und nach dem Krieg in die amerikanische Besatzungszone
Deutschlands, insbesondere nach Bayern gelangt. In einem Fragebogen aus Dezember
1990 gab der Kläger an, er habe vom 01.07.1937 bis 1941 als Tischler beim Arbeitgeber
M ... K ... in S ... zu einem nicht mehr erinnerlichen Entgelt gearbeitet. Es sei auch nicht
erinnerlich, zu welcher Versicherungsanstalt Beiträge entrichtet worden seien.
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Dem Antrag beigefügt war eine Erklärung der M ... G ..., wonach M ... K ... mehr als 10
Jahre vor dem Jahre 1939 Inhaber einer Schreinerei in S ... mit 18 bis 20
Werkstattbeschäftigten gewesen sei. Der Kläger brachte eine Erklärung des J ... A ...,
geboren ...1925 in S ... bei, der angab, der Kläger habe in den ersten Kriegsjahren und
auch zuvor in der Tischlerei seines Vaters M ... K ... gearbeitet und sei u.a. für seine
eigene Ausbildung verantwortlich gewesen. Er sei auch "bestimmt" sozialversichert
gewesen.
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In einem weiteren Fragebogen gab der Kläger nun an, vom 01.08.1937 bis Ende 1941
oder Anfang 1942 als Tischler bei M ... K ... zu einem nicht mehr erinnerlichem
Arbeitsentgelt gearbeitet zu haben. Neben dem Arbeitsentgelt habe er Kost, Unterkunft
und/oder weitere Sachbezüge erhalten. Auf die Frage nach einem Arbeitsverhältnis bei
Verwandten gab der Kläger an, er sei durchgehend bei seinem Vater M ... K ...
beschäftigt gewesen.
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Mit Schreiben des Prozessbevollmächtigten vom 02.12.1991 beantragte der Kläger die
Berücksichtigung auch der Zeit der Zwangsarbeit als Versicherungszeit. Er sei während
der Verfolgungszeit im Ghetto S ... inhaftiert gewesen und habe dort auch
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Zwangsarbeiten leisten müssen.
Hierzu legte der Kläger eine Erklärung des schon im Entschädigungsverfahren
benannten Zeugen J ... B ... [J ... B ...] vor, wonach der Kläger noch als Jugendlicher ab
etwa 1937/38 in der Tischlerei seines Vaters gearbeitet und dort auch weitergearbeitet
habe, als er selbst 1940 die Arbeit verlassen musste. Sie seien alle versichert gewesen.
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Die Tatsache, dass der Kläger der Sohn des Inhabers gewesen sei, habe in keiner
Weise eine Rolle gespielt, dies sei offensichtlich gewesen. In in der Zeit des
gemeinsamen Ghettoaufenthaltes in S ... hätten sie zusammen im Shop H ...
Militärmöbel hergestellt.
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Die Beklagte zog die Entschädigungsakten des Klägers bei und holte eine Auskunft der
Verbindungsstelle zur polnischen Sozialversicherung ein, wonach in Polen keine
Unterlagen mehr vorlagen. Die Zeit vom 01.08.1937 bis Dezember 1941 sei jedoch
ohnehin nicht anzurechnen, da für den Personenkreis mithelfender Familienmitglieder
Versicherungspflicht erst ab dem 01.07.1965 eingeführt worden sei.
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Mit Bescheid vom 19.01.1993 lehnte die Beklagte den Antrag ab, da keine auf die
Wartezeit anrechenbaren Versicherungszeiten vorhanden seien. Die Vorkriegszeit sei
nicht rentenversicherungspflichtig zurückgelegt worden, da mithelfende
Familienmitglieder bei Handwerkern erst vom 01.07.1965 an in die gesetzliche
Rentenversicherung Polens einbezogen worden seien. Für die Arbeitszeiten während
des Ghettoaufenthaltes seien keine Nachweise über deutsche Beitragszeiten
vorhanden. Es habe sich auch nicht um glaubhaft gemachte Zeiten einer
versicherungspflichtigen Tätigkeit gehandelt, sondern um Zwangsarbeiten. Die Zeit des
Ghettoaufenthalts sei zwar grundsätzlich Ersatzzeit im Sinne der RVO, jedoch wegen
des Fehlens vorhergehender Beitrags- oder Beschäftigungszeiten nicht anrechenbar.
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Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom
02.12.1993 zurück.
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Im Klageverfahren hat der Kläger weiterhin behauptet, während der Beschäftigung in
der Tischlerei seines Vaters seien Beiträge zur Rentenversicherung abgeführt worden.
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Nachdem das Sozialgericht den Kläger darauf hingewiesen hatte, dass nach
damaligem polnischen Recht die Beschäftigung insbesondere bei Eltern
versicherungsfrei war, hat der Kläger dies nunmehr so erklärt, der Vater sei nicht Allein-
sondern nur Mitinhaber der Schreinerei zusammen mit seinem Onkel gewesen. Auch
habe der Vater sehr wohl für ihn alle Sozialabgaben entrichtet, einschließlich der
Beiträge zur polnischen Rentenversicherung. Es habe nämlich die Möglichkeit
freiwilliger Beitragsleistung bestanden. Hierzu hat der Kläger eine weitere
eidesstattliche Versicherung des J ... B ... vorgelegt, wonach dieser sich jetzt genau
erinnere, dass der Kläger versichert gewesen sei, da er mit ihm Lohnkarten und
Abrechnungen verglichen habe.
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Erstmals im Klageverfahren hat der Kläger außerdem angegeben, er habe von Mitte
1946 bis zu seiner Ausreise Ende 1948 im DP-Lager Leipheim versicherungspflichtig
gearbeitet. Zu dieser Tätigkeit gab er zunächst an, Helfer des Sekretariats der
Lageradministration gewesen zu sein. Mit eidesstattlicher Erklärung berichtigte er dies
später dahin, er habe für die Lageradministration Hilfsarbeiten ausgeübt und u.a. Möbel
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repariert. Für diese Tätigkeit habe er ein kleines Gehalt ("nichts Ernstes" nach der
Wiedergabe seines israelischen Anwalts) sowie Verpflegung und Bekleidung erhalten.
Das Sozialgericht hat die Zeugen J ... A ... und J ... B ... in Israel vernehmen lassen und
Auskunftsersuchen zu Beschäftigungszeiten des Klägers von Mitte 1946 bis Ende 1948
an verschiedene Einrichtungen gerichtet. Zum Ergebnis dieser Ermittlungen wird auf
den Inhalt der Prozessakten Bezug genommen.
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Mit Urteil vom 16.12.1998 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und es als nicht
glaubhaft angesehen, dass der Kläger vor dem Kriege versicherungspflichtig unter
Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen gearbeitet habe. Schon der Aufenthalt im
Ghetto S ... sei nicht glaubhaft gemacht, weshalb es auf die weiteren Voraussetzungen
zur Anerkennung der Ghettozeit als versicherungspflichtiger Beschäftigungszeit nicht
ankomme. Pflichbeitragszeiten im DP-Lager Leipheim seien auch nicht nachgewiesen,
nicht einmal glaubhaft gemacht für den Fall, dass Versicherungsunterlagen
untergegangen seien. Es sei nicht einmal sicher, ob sich der Kläger im DP-Lager
Leipheim aufgehalten habe. Versicherungsunterlagen gebe es nicht mehr.
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Gegen das am 24.02.1999 zugestellte Urteil richtet sich die am 17.03.1999
eingegangene Berufung des Klägers, mit der er anregt, die Beweisanforderungen
soweit zu verändern, dass ein Anspruch zustande komme. Die Beschäftigungszeit im
Ghetto S ... sei gleichzeitig Beitragszeit und Bestandteil der Ersatzzeit von November
1939 bis zur Befreiung im April 1945. Die Beklagte müsse dies anerkennen, da sie es
auch in Vergleichsfällen anerkannt habe. Mit einer weiteren eidesstattlichen Erklärung
vom 18.03.1999 gibt der Kläger an, das Geschäft seines Vaters sei 1940 unter
Treuhandschaft gestellt worden. Er habe mit seinem Vater zusammen dort
weitergearbeitet. 1942 sei er in der Fabrik H ... angestellt worden, auch sein Vater sei
dort angestellt worden. Sie seien in einer Gruppe unter Bewachung vom Ghetto aus
geführt worden, da die Fabrik außerhalb des Ghettos gelegen habe. Im Juli 1943 sei
eine ganze Gruppe von Arbeitern mit seinem Vater und ihm zur Filiale der Fabrik H ... in
B ... überführt worden. Er dürfte auch versicherungspflichtig seitens der Arbeitsstellen
gewesen sein. Wenn man ihn nicht versichert habe, könne ihm dies nicht zur Last gelegt
werden.
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Im Termin zur mündlichen Verhandlung ist der Kläger nicht erschienen; er war in diesem
Termin auch nicht vertreten.
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Seinem schriftsätzlichen Vorbringen ist zu entnehmen, dass er beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 16.12.1998 zu ändern und nach seinen
erstinstanzlichen Anträgen zu erkennen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für richtig. Zu Einzelheiten wird auf den Inhalt
der Prozessakten, der beigezogenen Verwaltungsakten des Klägers bei der Beklagten
und der gleichfalls beigezogenen Akten aus den Entschädigungsverfahren Bezug
genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Der Senat hat in Abwesenheit des Klägers und seines Prozessbevollmächtigten
verhandelt und entschieden, da mit der ordnungsgemäßen Ladung auf diese
Möglichkeit hingewiesen worden war (§§ 110 Abs. 1 Satz 2, 126 SGG -
Sozialgerichtsgesetz -).
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Die zulässige Berufung ist unbegründet. Mit dem angefochtenen Urteil hat das
Sozialgericht auch unter Berücksichtigung des weiteren Vortrags und der
Ermittlungsergebnisse im Berufungsverfahren im Ergebnis zutreffend entschieden, dass
dem Kläger Leistungen der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung nicht zustehen,
da es insoweit an rentenrechtlich berücksichtigungsfähigen Zeiten vor dem Krieg, im
Ghetto und im DP-Lager nach dem Krieg gleichermaßen fehlt.
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Ansprüche des Klägers auf Leistungen der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung
setzen nach § 1248 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 3 der nach § 300 Abs. 2 SGB VI hier noch
maß geblichen Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) anrechenbare
Versicherungszeiten voraus.
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Hieran fehlt es zunächst hinsichtlich der vom Kläger behaupteten
versicherungspflichtigen Zeiten ab Juli 1937 bis 1941/1942 in der Tischlerei seines
Vaters bzw. des Vaters und des Onkels.
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Eine Berücksichtigung dieser Zeit setzt nach § 17 Abs. 1b FRG (Fremdrentengesetz) in
der hier noch anwendbaren Fassung bis zum 31.12.1991 i.V.m. § 4 FRG im
Mindestmaß voraus, dass die behauptete Beitragszeit glaubhaft gemacht worden ist.
Dies ist jedoch nicht der Fall, da es bei Ausschöpfung der erreichbaren Beweisquellen
nicht überwiegend wahrscheinlich ist, dass der Kläger im angegebenen Zeitraum zum
einen so zialversicherungspflichtig gearbeitet, hat und dass zum anderen für diesen
Zeitraum Sozialversicherungsbeiträge auch tatsächlich abgeführt worden sind.
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Wegen des Zeitablaufes und der typischerweise wie wohl auch im Falle des Klägers
dramatischen nachfolgenden Ereignisse in den Lebensläufen der in Betracht
kommenden Antragsteller sind präzise Angaben zur Höhe der sozialversicherten
Entlohnung oder gar den tatsächlichen Umständen der Beitragsabführung regelmäßig
nicht möglich.
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Eine Glaubhaftmachung hinsichtlich der Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen
kann sich daher in der Konsequenz der durch §§ 3 WGSVG, 4 FRG zugelassenen
Beweiserleichterung als Schlussfolgerung aus dem Sachverhalt nur dann ergeben,
wenn sich unter Anwendung des für das jeweils in Betracht kommen de Gebiet und das
für die in Betracht kommende Zeit geltenden Sozialversicherungsrechts für ein
konkretisiertes Beschäftigungsverhältnis auch die Abführung von
Sozialversicherungsbeiträgen als überwiegend wahrscheinliche Sachverhaltsvariante
darstellt.
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Dies setzt hinsichtlich der tatsächlichen Grundlagen zu nächst im Mindestmaß ein
hinsichtlich seines Inhaltes, seines zeitlichen Verlaufes wie auch der tatsächlichen
Entlohnung hinreichend onturiertes und konkretisiertes Beschäftigungsverhältnis
voraus.
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Bereits dies ist auf dem Hintergrund der mit den nunmehrigen Sachverhaltsangaben
völlig unvereinbaren Angaben des Klägers und seiner Gewährsperson J ... B ... im
Entschädigungsverfahren nicht der Fall, was einer weiteren Darlegung nicht bedarf.
Denn auch unter Zugrundelegung der aktuellen Eigenangaben des Klägers und seiner
Gewährsperson, soweit sie untereinander vereinbar sind, wäre eine Abführung von
Sozialversicherungsbeiträgen für die Zeit der Tätigkeit des Klägers in der Werkstatt
seines Vaters und seines Onkels bereits deswegen unwahrscheinlich, weil diese
Tätigkeit nach dem damals geltenden polnischen Sozialversicherungsrecht
versicherungsfrei gewesen wäre.
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Nach Art. 5 Abs. 1 Nr. 7 des polnischen Sozialversicherungsgesetzes vom 28. März
1933 in der Fassung der Verordnung des Staatspräsidenten betreffend die Abänderung
des Sozialversicherungsgesetzes vom 24. Oktober 1934 (dort Art. 1 Nr. 2) waren die in
einem Handwerksbetrieb beschäftigten Verwandten absteigender Linie, Geschwister
und Verwandten aufsteigender Linie des Arbeitgebers versicherungsfrei, sofern sie mit
ihm in Hausgemeinschaft lebten. Die vorübergehend oder auch aktuell vom Kläger
behauptete freiwillige Versicherung in der polnischen Rentenversicherung sah das
damalige polnische Recht nicht vor.
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Eine echte oder fiktive (§ 14 Abs. 2 WGSVG) Beitragszeit kann auch nicht für die
Zeiträume der vom Kläger angegebenen Aufenthalte in den Ghettos S .../S ... und B ...
an genommen werden. Für diese in der damaligen Provinz Ostober schlesien
gelegenen Ghettos galt ab dem 01. Januar 1942 nach der Verordnung über die
Einführung der Reichsversicherung in der Provinz Schlesien vom 16. Januar 1940 und
der sie ersetzenden Verordnung über die Einführung der Reichsversicherung in den
eingegliederten Ostgebieten vom 22. Dezember 1941 Reichsrecht, mithin auch die
RVO.
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Nach deren Vorschriften setzt die Einnahme eines dem Grunde nach
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhält nisses auch unter
Berücksichtigung der Zwangslage der Juden in den von den Deutschen besetzten
Gebieten Grundelemente eines aus beidseitigem freien Willensentschluss begründeten
Arbeitsverhältnisses jedenfalls solange voraus, wie der Ge setzgeber keine
entschädigungsrechtlichen Sondertatbestände schafft (BSG SozR 5070 § 14 Nr. 9;
SozR 3 2200 § 1248 Nr. 15, BSGE 80, 250 [Ghetto Lodz]; BSG, NJW 1999, 3144
[Ghetto Sosnowitz]; BSG SGB 1999, 557 - Ghetteo Krenau -; SozR 3-5070 § 14 Nr. 3 =
NZS 2000, 249 ff - Ghetto Prystain -; SozR 3-5070 § 14 Nr. 2 - Ghetto Zagorow).
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Nach dieser Rechtsprechung kommt es für die Abgrenzung einer
versicherungspflichtigen Beschäftigung von (nicht versicherter) Zwangsarbeit zwar nicht
darauf an, welche Beweggründe jemanden zur Aufnahme einer Beschäftigung
veranlasst haben.
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Ferner bleiben allgemeine sonstige Lebensumstände des Versicherten außer Betracht,
die nicht die Arbeit und das Arbeitsentgelt als solche, sondern sein häusliches, familiä
res, wohn- und aufenthaltsbezogenes Umfeld betreffen. Unerheblich ist insbesondere,
ob der Arbeitsbereich z.B. wegen drastischer Strafandrohungen praktisch nicht
verlassen werden konnte, ob also die Durchführung der Arbeit frei oder unfrei war.
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Dagegen ist das Beschäftigungsverhältnis selbst stets daraufhin zu untersuchen, ob es
"frei" im Sinne eines aus eigenem Antrieb begründeten Vertragsabschlusses gewesen
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ist. Der Betroffene muss aus eigenem Willensentschluss ein konkretes Arbeits- und
Beschäftigungsverhältnis eingegangen sein, die tatsächlich einem Arbeitgeber
geschuldete Arbeitsleistungen erbracht haben, und es muss ihm hierfür im Aus tausch
eine den Umständen entsprechend angemessene Gegenleistung gewährt worden sein.
Auf diese Kriterien ist der Kläger mit Schreiben des Senats vom 07.09.1999
hingewiesen und zu weiterem Sachvortrag aufgefordert worden.
Auch nach dem ergänzten Sachvortrag ist nicht festzustellen, dass der Kläger von S ...
aus oder in B ... in einem den Kriterien der BSG-Rechtsprechung entsprechenden
Beschäftigungsverhältnis gestanden hat, noch erschlösse sich dies aus der
Gesamtschau der im Verfahrensverlauf verfügbar gewordenen Informationen.
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Nach den Angaben des Klägers und seiner Zeugen im Entschädigungsverfahren war
die nunmehr als sozialversicherungspflichtige Beschäftigungszeit zu erörternde Zeit des
Ghetto aufenthaltes eine Zeit der Zwangsarbeit mit schwersten Misshandlungen (zur
Abgrenzung zwischen entschädigungsrechtlich relevanten Zwangsarbeiten von
arbeitsrechtlich justiziablen Arbeitsverhältnissen zuletzt BAG, NJW 2000, 1438 ff.).
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Nach seinen Angaben der Beklagten gegenüber und im Gerichtsverfahren wurde der
Kläger nach Errichtung des Ghettos S ... wie sein Vater und viele Arbeiter auch unter
polizeilicher Bewachung täglich zur Arbeit in die Möbelfabrik H ... geführt und für die dort
verrichtete Arbeit bezahlt bis Juli 1943. Im Juli 1943 wurde er mit einer Gruppe von
Arbeitern in die Fabrik H ... in B ... überführt, wo er bis etwa einen Monat vor Kriegsende
gearbeitet haben will. Hinsichtlich einer auch nur zu Teilen willentlichen Begründung
eines Arbeitsverhältnisses, auf Initiative oder unter Vermittlung eines ggf. örtlich
bestehenden Judenrates wie auch hinsichtlich des Verhältnisses zwischen geleisteter
Arbeit und ihrem Ertrag fehlt es an jeglichem konkretem Sachvortrag. Der geschilderte
Sachverhalt spricht gegen eine Erfüllung der vom BSG aufgestellten Kriterien. Eine
Regel dergestalt, dass aus dem bloßen Aufenthalt in einem Ghetto auf das
Zustandekommen und Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses geschlossen
werden könnte, besteht nicht (LSG Berlin, L 6 An 57/96 vom 22.04.1998; Gagel,
Rentenversicherung von Ghettoarbeitsverhältnissen, NZS 2000, 231 f. zur Abgrenzung
zwischen Zwangsarbeit und Beschäftigungsverhältnissen in einer durch Dirigismus
veränderten Arbeitswelt).
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Die Berücksichtigung einer im Bundesgebiet vom Kläger versicherungspflichtig
zurückgelegten Beschäftigungszeit im DP-Lager Leipheim in der US-Zone ist auch nicht
möglich.
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Hierbei kommt eine versicherungspflichtige Tätigkeit zwar grundsätzlich ab dem
01.04.1946 und daher für den über wiegenden Anteil des vom Kläger angegebenen
Zeitraumes in Betracht. Durch das Memorandum Nr. 12 vom 08.02.1946 der
Amerikanischen Administration sowie durch weitere Anordnungen war für Zeiten ab
01.04.1946 bestimmt worden, dass die in der amerikanischen Zone gegen Entgelt
beschäftigten DP (Displaced Persons) dieselben Abzüge für Sozialversicherung zu
leisten hatten wie deutsche Zivilpersonen und dieselben Ansprüche haben sollten wie
deutsche Arbeitnehmer, die in gleicher Weise versichert waren. Diese Bestimmungen
sind von den Bundesländern mit verschiedenen Verordnungen und Erlassen jeweils mit
Wirkung zum 01.04.1946 umgesetzt worden (Bayern: Verordnung Nr. 53 vom
04.03.1946 [Gesetz und Verordnungsblatt Nr. 12/1946, S. 187], Hessen: Verordnung
über die Ausdehnung der Versicherungspflicht in der Sozialversicherung vom
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21.03.1946 [Gesetz und Verordnungsblatt vom 30.11.1946]; Baden-Württemberg:
Erlasse des Arbeitsministers vom 25.02.1946 [Mitteilungen des Arbeitsministers 1946,
S. 13] und 25.03.1946 [a.a.O.]).
Das Bestehen eines hiernach ab dem 01.04.1946 grundsätzlich
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses des Klägers ist jedoch
weder bewiesen noch glaubhaft gemacht.
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Beweismittel für das Vorliegen eines nach Art und Umfang so
zialversicherungspflichtigen und unter Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen
durchgeführten Beschäftigungsverhält nisses des Klägers bei der DP-
Lageradministration wie etwa Lohnlisten, Sammelbelege etc. sind nicht vorhanden. Die
vom Kläger vorgelegte Umtauschquittung aus der Währungsreform belegt zwar, dass er
seinerzeit im Besitz von Bargeld war, nicht jedoch, auf welche Weise er in den Besitz
von Bargeld gelangt ist.
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Dem Umstand, dass Versicherungsunterlagen für die Nachkriegszeit oft lückenhaft oder
völlig untergegangen sind, trägt § 1 Abs. 1 Satz 1, 3 der
Versicherungsunterlagenverordnung vom 30.03.1960 (nun: § 286a SGB VI) Rechnung,
indem (bei weiteren, hier nicht geprüften Voraussetzungen) die Anerkennung von
Beitragszeiten auch dann zulässig ist, wenn glaubhaft gemacht wird, dass der
Versicherte eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat und
dass hierfür Beiträge gezahlt worden sind.
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Dies ist hier nicht der Fall, denn es ist nicht überwiegend wahrscheinlich und wird vom
Kläger offensichtlich nicht ein mal behauptet, dass die von ihm für die
Lageradministration geleisteten Hilfstätigkeiten nach Art und Umfang
versicherungspflichtig waren.
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Zunächst wecken die Angaben des Klägers im Entschädigungsverfahren zu seinen
häufigen Krankenhausaufenthalten im DP-Lager in Verbindung mit den feststellbaren
zahlreichen auswärtigen Aufenthalten des Klägers in den Jahren 1946 bis 1948 bereits
grundsätzliche Zweifel daran, ob der Kläger zu einer kontinuierlichen, von der DP-
Lagerleitung als dem in Betracht kommenden Arbeitgeber überhaupt hinnehmbaren
Arbeitsleistung im DP Lager L ... in der Lage war.
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Zudem kann auf der Grundlage des ermittelten Sachverhaltes, ja nicht einmal nach den
Behauptungen des Klägers, nicht festgestellt werden, ob es sich bei seiner Tätigkeit für
die Lagerleitung überhaupt um eine nach den Maßstäben der RVO
versicherungspflichtige Arbeit gehandelt, hat oder ob etwa eine wegen ihrer
Geringfügigkeit versicherungsfreie Beschäftigung (§ 1228 Abs. 1 Nr. 4 RVO, § 4 Abs. 1
Nr. 4 AVG) vor gelegen hat bzw. nach der Darstellung des Klägers vorgelegen haben
soll.
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Die Berücksichtigung von Ersatzzeiten scheidet mangels vor heriger
Versicherungszeiten grundsätzlich aus (§ 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO) und ist auch nicht
ausnahmsweise möglich, da auch eine den Ersatzzeiten nachfolgende Aufnahme einer
nach der RVO versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit binnen 3 Jahren
nicht feststellbar ist (§ 1251 Abs. 2 Satz 2 RVO).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
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Ein Anlass zur Zulassung der Revision nach § 160 SGG besteht nicht.
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