Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 01.06.2006

LSG NRW: stiefeltern, alter, beitragssatz, geburt, drucksache, haushalt, befreiung, waisenrente, solidarität, beitragsbemessung

Landessozialgericht NRW, L 2 KN 97/05 P
Datum:
01.06.2006
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 2 KN 97/05 P
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 23 KN 6/05 P
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 12 P 4/06 R
Sachgebiet:
Pflegeversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln
vom 30.05.2005 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die
außergerichtlichen Kosten der Klägerin des Berufungsverfahrens. Die
Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Streitig ist, ob die Klägerin den Beitragszuschlag für Kinderlose in der sozialen
Pflegeversicherung nach § 55 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) zahlen
muss.
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Die am 00.00.1947 geborene Klägerin ist durch die Beklagte freiwillig kranken- und
pflegeversichert. Sie ist seit dem 01.12.1998 mit dem 1929 geborenen und durch die
Beklagte kranken- und pflegeversicherten Rentenbezieher I V verheiratet. Die Ehefrau
des I V aus erster Ehe ist am 00.00.1997 verstorben. Aus dieser Ehe sind die am
00.00.1958 und am 00.00.1960 geborenen Kinder V und C hervorgegangen. Gegenüber
diesen Kindern hat die Klägerin keine Betreuung- und Erziehungsleistungen erbracht.
Die jetzige Ehe der Klägerin mit I V ist kinderlos geblieben.
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Die Beklagte erhob gegenüber der Klägerin zur sozialen Pflegeversicherung ab
01.01.2005 einen Beitragszuschlag von 0,25 % aus den beitragspflichtigen Einnahmen
und erhöhte dementsprechend den laufenden monatlichen Beitrag ab 01.01.2005 auf
15,70 EUR (Bescheid vom 02.12.2004). Der dagegen erhobene Widerspruch wurde mit
der Begründung zurückgewiesen, die Kinder des Ehegatten der Klägerin aus erster Ehe
begründeten nicht die Elterneigenschaft der Klägerin. Die Befreiung von der Zahlung
des Beitragszuschlages sei nur möglich, wenn die Begründung der Familienbande zu
einem Zeitpunkt bewirkt worden sei, an dem für das Kind aufgrund der in § 25 Abs. 2
SGB XI genannten Altersgrenzen eine Familienversicherung hätte begründet werden
können. Dies sei in Bezug auf die beiden Kinder des Ehegatten aus erster Ehe nicht
möglich gewesen, da diese im Zeitpunkt der Eheschließung am 01.12.1998 bereits 38
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bzw. 40 Jahre alt gewesen seien und damit die zu beachtenden Altersgrenzen
überschritten hätten (Widerspruchsbescheid vom 25.01.2005).
Zur Begründung der dagegen zum Sozialgericht Köln (SG) erhobenen Klage hat die
Klägerin darauf verwiesen, dass das Alter der Kinder für die Frage, ob der
Beitragszuschlag zu zahlen sei, keine Rolle spiele.
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Die Klägerin hat beantragt,
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den Bescheid vom 02.12.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
25.01.2005 dahingehend abzuändern, dass die Klägerin ab 01.01.2005 nur einen
Beitragssatz von 1,70 % unterliegt.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat u.a. auf die Begründung des Widerspruchsbescheides verwiesen.
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Das SG hat die angefochtenen Bescheide abgeändert und ist davon ausgegangen,
dass der Beitragssatz zur sozialen Pflegeversicherung ab 01.01.2005 für die Klägerin
(weiterhin) 1,70 % betrage. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, dass vom
Beitragszuschlag auch Eltern im weiteren Sinne und somit auch Stiefeltern
ausgenommen seien. Weder sei eine Haushaltsgemeinschaft vorausgesetzt noch sei
eine höchstpersönliche Betreuungsund Erziehungsleistung durch einen (Stief-)
Elternteil erforderlich. Das SG hat die Berufung zugelassen (Urteil vom 30.05.2005).
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Gegen das Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt und die Auffassung vertreten, das
Recht auf Nichtzahlung des Beitragszuschlages für Kinderlose in der sozialen
Pflegeversicherung werde nicht alleine durch die Stellung als Stiefeltern, sondern erst
durch die Aufnahme des Stiefkindes in den Haushalt des Versicherten erworben. Es
komme darauf an, dass neben einer Familienwohnung, materieller Unterhalt sowie
materielle Zuwendung von Fürsorge unter Begründung eines familienähnlichen Bandes
erfolge. Daraus leite sich ab, dass auch Stiefeltern gegenüber Stiefkindern nur im Sinne
der Altersgrenzen der Regelung aus § 25 Abs. 2 SGB XI Erziehungsleistungen
erbringen und damit ihre Elterneigenschaft nachweisen könnten. Unter
Berücksichtigung dieser Erziehungsleistung habe der Gesetzgeber bei der Umsetzung
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von den beitragspflichtigen
Versicherten, die keine Erziehungsleistungen erbringen, einen Ausgleich in Form des
Beitragszuschusses nach § 55 Abs. 3 SGB XI einfordern können. Deshalb sei auch
nach Sinn und Zweck dieser Regelung bei Heirat in vorgerücktem Alter und der
Hinzugewinnung von erwachsenen Stiefkindern ohne Erbringung einer
Erziehungsleistung keine Befreiung von der Zuschlagsfrist möglich. Daran, dass die
Klägerin gegenüber den beiden Kindern ihres Ehegatten aus erster Ehe keine
Erziehungsleistungen erbracht habe, bestünden keinerlei Zweifel.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 30.05.2005 zu ändern und die Klage
abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verteidigt die Entscheidung des Sozialgerichts. Auf die Haushaltsaufnahme komme
es nicht an. Sie leiste dadurch, dass sie sich ihrer Stieftochter gegenüber als Großmutter
um deren Kind kümmere, einen Beitrag für das Aufziehen der übernächsten Generation.
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Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten
Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die durch Zulassung statthafte Berufung (§§ 143,144 Abs. 2 und Abs. 3 SGG) ist nicht
begründet. Das SG hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin einen Beitragszuschlag
zur Pflegeversicherung nicht zu zahlen hat.
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Gem. § 55 Abs.1 SGB XI beträgt der Beitragssatz in der gesetzlichen
Pflegeversicherung grundsätzlich 1,7 vom Hundert der beitragspflichtigen Einnahmen
des Mitglieds. Nach § 55 Abs.3 Satz 1 SGB XI erhöht sich der Beitrag für Mitglieder
nach Ablauf des Monats, in dem sie das 23. Lebensjahr vollendet haben, um einen
Beitragszuschlag in Höhe von 0,25 Beitragssatzpunkten (Beitragszuschlag für
Kinderlose). Das gilt nicht für Eltern im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nr.
2 und 3 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB l) (§ 55 Abs. 3 Satz 2 SGB XI). Nach § 56
Abs. 3 Nr. 2 SGB l gelten als Eltern auch Stiefeltern. Dementsprechend gilt die Klägerin
als Stiefmutter der leiblichen Kinder - V und C - ihres jetzigen Ehegatten.
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Nach dem Wortlaut des Gesetzes besteht für die Beklagte daher keine Grundlage von
der Klägerin den Beitragszuschlag für Kinderlose zu erheben.
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Davon kann nach Auffassung des Senates vorliegend nicht mit dem Hinweis auf den
Sinn und den Zweck der Regelung des § 55 Abs. 3 SGB XI abgewichen werden. Sinn
und Zweck der Regelung erschließen sich - vor dem Hintergrund ihrer
Entstehungsgeschichte - im Wesentlichen durch die Vorstellungen wie sie in der
parlamentarischen (Vor-) Beratung zum Ausdruck gekommen sind. Der Gesetzgeber ist
durch Einfügung der Reglung des § 55 Abs.2 SGB XI dem Auftrag des
Bundesverfassungsgerichts (Urteil vom 03.04.2001,1 BvR 1629/94, BVerfGE 103, 242
ff) gefolgt, in der gesetzlichen Pflegeversicherung eine Regelung zu treffen, die die
Kindererziehungsleistung bei der Beitragsbemessung berücksichtigt. In Umsetzung
dieser Entscheidung und unter Ausnutzung des ihm eingeräumten
Gestaltungsspielraums hat der Gesetzgeber eine Zuschlagspflicht für Kinderlose
vorgesehen, um den als geboten angesehenen Beitragsabstand zwischen
Kindererziehenden und Kinderlosen zu erreichen. Weder sollte damit die
Kinderlosigkeit sanktioniert werden, noch sollten die Gründe für die Kinderlosigkeit eine
Rolle spielen. Vielmehr stand im Vordergrund ausschließlich ein höheres Maß an
Solidarität mit den Kinderziehenden, die mit der Kindererziehung einen zusätzlichen
Beitrag zum Erhalt des umlagefinanzierten Sozialversicherungssystem leisten, von dem
auch die Kinderlosen profitieren (BT-Drucksache 15/3671 S. 5). Vor diesem Hintergrund
hat der Gesetzgeber die Zuschlagspflicht, im Sinne einer generalisierenden Lösung, im
Wesentlichen abhängig gemacht von objektivierbaren Kriterien, insbesondere vom Alter
des Versicherten und von der Elterneigenschaft. Demgegenüber kommt es auf eine
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tatsächliche Betreuungs- und Erziehungsleistung offensichtlich nicht an. Anders ließe
es sich nicht erklären, dass es für die dauerhafte Zuschlagsbefreiung allein ausreicht,
dass das Kind lebend geboren ist. Nicht entscheidend ist, ob bzw. wann das Kind
verstorben ist (vgl. BT-Drucksache 15/3671 S. 6). Demnach sind die leiblichen Eltern
selbst dann von der Zuschlagspflicht befreit, wenn das Kind unmittelbar nach der Geburt
verstirbt. Ebenso wenig wäre es nachvollziehbar, dass für ein Kind sowohl die leiblichen
Eltern als auch Stief- und Pflegeeltern von der Zuschlagspflicht ausgenommen sind.
Insoweit verzichtet das Gesetz ebenfalls auf eine Differenzierung danach, ob das Kind
unmittelbar nach der Geburt - und damit ohne Betreuungs- und Erziehungsleistung der
leiblichen Eltern - oder erst nach einigen Jahren zur Pflege gegeben wurde.
Anknüpfungspunkt bleibt insoweit ebenfalls allein die Elterneigenschaft.
Hat der Gesetzgeber damit ausdrücklich auf eine differenzierende, die
Erziehungsleistung in den Vordergrund stellende Regelung verzichtet, bleibt es der
Verwaltung in Vollziehung und den Gerichten in Auslegung dieser Regelung verwehrt,
einschränkend davon auszugehen, dass Stiefeltern grundsätzlich eine
Erziehungsleistung gegenüber dem Stiefkind nachweisen müssen.
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Die Frage, welcher Beitrag (der Stiefeltern) im Einzelnen als "Erziehungsleistung"
anzusehen ist, kann daher unbeantwortet bleiben. Insofern ist zudem darauf
hinzuweisen, dass die Beurteilung dessen, was als "Erziehungsleistung" anzusehen ist,
abhängig ist von individuellen und persönlichen Wertvorstellungen. Infolgedessen
bestehen höchst unterschiedliche Auffassungen darüber, in welcher Weise ein Beitrag
zur Erziehung eines Kindes erbracht werden kann. Es ist daher durchaus
nachvollziehbar, dass sich der Gesetzgeber diesbezüglich jeder Wertung enthalten hat
und die Zuschlagspflicht allein von dem formalen Kriterium der Elternschaft und nicht
von einer Betreuungs- und Erziehungsleistung abhängig gemacht hat.
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Der Hinweis der Beklagten auf die Rechtsprechung des BSG ( Urteil vom 30.08.2001, B
4 RA 109/00 R, SozR 3-2600 § 48 Nr.5) zur "Haushaltsaufnahme" im Rahmen der
Gewährung von Waisenrente überzeugt nicht. Der Gesetzgeber hat eben nicht, wie § 48
Abs. 3 Nr.1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI), die Zuschlagsfreiheit (in der
Pflegeversicherung) abhängig davon gemacht, ob Stiefkinder und Pflegekinder in den
Haushalt aufgenommen worden sind. Für die Höhe des Beitrages in der
Pflegeversicherung stellt das Gesetz nicht auf den Kinderbegriff des § 56 Abs. 2 SGB l
sondern auf den Elternbegriff des § 56 Abs.3 SGB l ab. Dies verdeutlicht nach
Auffassung des Senats ebenfalls, dass der Gesetzgeber die Zuschlagsfreiheit
ausschließlich von formalen Kriterien - Elterneigenschaft und Alter des Versicherten -
abhängig machen wollte.
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Im Übrigen wird zur Vermeidung von Wiederholungen von einer weiteren Darstellung
der Entscheidungsgründe abgesehen und auf die Ausführungen in der angefochtenen
Entscheidung des SG vom 30.05.2005 verwiesen, denen sich der Senat nach eigener
Prüfung voll inhaltlich anschließt (§ 153 Abs. 2 SGG).
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Die Kostenentscheidung beruht auf §193 SGG.
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Die Revision ist zuzulassen. Die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung (§ 160
Abs. 2 SGG).
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