Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 27.11.2001

LSG NRW: hilflosigkeit, begründung des urteils, verrichten der notdurft, allergie, richterliche kontrolle, drohende gefahr, behinderung, diät, zustand, lebensmittel

Landessozialgericht NRW, L 6 SB 51/01
Datum:
27.11.2001
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 6 SB 51/01
Vorinstanz:
Sozialgericht Dortmund, S 43 SB 236/99
Sachgebiet:
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts
Dortmund vom 15.02.2001 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu
erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin ein Anspruch auf Feststellung einer
Hilflosigkeit im Sinne des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) bzw. Neunten Buches
des Sozialgesetzbuches (SGB IX) und Einkommenssteuergesetzes (EStG) zusteht.
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Die am ... 1996 geborene Klägerin leidet an einer Lebensmittel unverträglichkeit. Des
Weiteren besteht ein Verdacht auf Pollinosis (Heuschnupfen). Die Klägerin reagiert
allergisch auf Milch-, Soja- und Hühnereiweiß, Roggen- und Weizenmehl, Nüsse, Äpfel,
Kräuter, Vanille und Phosphat in Lebensmitteln (z.B. Wurst), auf Hausstaub und
Getreide-, Baum-, Kräuter- sowie Gräserpollen. Nach der Einnahme bzw. dem Kontakt
mit den entsprechenden Stoffen treten bei der Klägerin Ekzemverschlechterungen im
Sinne einer Neurodermitis mit Juckreiz und trockenen Hautstellen mit der Gefahr von
Hautrissen, Störungen im Magen-Darm-Trakt mit Verstopfung, Magenkrämpfen und sich
hieran anschließender tagelanger Appetitlosigkeit, bronchitische Beschwerden mit zum
Teil einstündi- gen Hustenanfällen bis zum Erbrechen, dadurch wiederrum verursacht
Durchschlafstörungen, und nach dem Essen von phosphathaltigen Speisen Wutanfälle
bis zur totalen Erschöpfung auf.
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Am 08.10.1998 beantragte die Klägerin die Feststellung des Grades der Behinderung
(GdB) sowie von Hilflosigkeit. Sie machte geltend, dass sie zur Vermeidung der
Allergene einer ständigen Überwachung bedürfe sowie einer ständigen Bereitschaft zur
Eindämmung der Symptomatik bei nicht gänzlich vermeidbarem Allergenkontakt,
insbesondere die sofortige, lebensrettende Hilfe im Falle eines Allergieschocks. Der
Zeitaufwand beim Einkauf allergenfreier Lebensmittel sei sehr hoch,
Grundnahrungsmittel wie Brot, Gebäck und Soßen müssten zeitaufwendig selbst
zubereitet werden. Bei Besuchen und Ausflügen müssten alle Lebensmittel von zu
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Hause mitgenommen werden.
Das Versorgungsamt holte einen Befundbericht des Kinderarztes ... ein, der unter
anderem eine kinesiologische Auswertung mit den die Klägerin belastenden Stoffen
und einen Verdacht auf Pollinosis angab. Anschließend erteilte es den Bescheid vom
20.01.1999, mit dem es unter Feststellung der Gesundheitsstörungen Neurodermitis,
Nahrungsmittelintoleranz und Bronchitis einen GdB von 30 festsetzte.
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Den hiergegen eingelegten Widerspruch der Klägerin, mit dem sie die Feststellung von
Hilflosigkeit (Merkzeichen H) geltend machte, wies das Landesversorgungsamt
Nordrhein-Westfalen mit Widerspruchsbescheid vom 20.07.1999 zurück.
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Die Klägerin hat gegen die Bescheide Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren, die
Feststellung des Merkzeichens H, weiterverfolgt hat.
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Die Klägerin hat beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin ab Oktober 1998 den Nachteilsausgleich "H"
zuzuerkennen.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Der Beklagte hat die angefochtenen Bescheide für zutreffend erachtet. Unter
Berücksichtigung der Maßgaben der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit
im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz", Ausgabe
1996 (AHP), läge keine Hilflosigkeit vor. Die Klägerin erfülle auch nicht die
Voraussetzung einer der dort aufgezählten Fallgruppen.
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Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines Befundberichtes des
Dr. O ..., des Entlassungsberichtes der ... und des Gutachtens des Prof. Dr. D ..., ..., vom
05.06.2000. Prof. Dr. D ... hat diagnostisch eine Neurodermitis (zur Zeit im
beschwerdefreien Intervall unter Diät), eine Nahrungsmittelintoleranz (bisher nicht
gesichert durch kontrollierte Belastung) sowie einen rezidivieren den Husten-
/Bronchitiden (ohne Notwendigkeit einer Inhalation therapie) festgestellt. Die strikte Diät
mit Meidung vieler Nahrungsmittel habe zur guten Besserung der Hautveränderungen
und Magen-Darm-Beschwerden geführt. Der wiederholt auftretende Husten ohne
Atemnotzustände und saisonale, tageszeitliche oder situative Häufung werde
homöopathisch therapiert. Eine Inhalationstherapie sei nicht erfolgt. Die durchgeführten
Laboruntersuchungen hätten bei fehlendem Nachweis von spezifischen Antikörpern des
Typs IgE keinen Hinweis auf eine Typ-I-Allergie mit der theoretischen Möglichkeit eines
anaphylaktischen Schocks ergeben. RAST-Untersuchungen (Radio-Allergo-Sorbent-
Test) hätten keinen Nachweis einer Sensibilisie- rung (Hinweis auf Typ-I-Allergie)
ergeben gegen verschiedene Nah- rungsmittelallergene (Eiklar, Eigelb, Kuhmilch,
Sojabohnen, Nüsse, Fische/Schalentiere, Weizenmehl), Pollen (Birke, Sammelgräser,
Roggen), Tierhaare (Katze, Hund, Pferd) und Hausstaubmilben. Eine ergänzende Prick-
Testung auf der Haut sei von der Mutter der Klägerin abgelehnt worden.
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Zur Beurteilung der Hilflosigkeit hat Prof. Dr. D ... ausgeführt, dass die gemäß den AHP
geforderte klinisch gesicherte Typ-I-Allergie mit der Gefahr eines anaphylaktischen
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Schocks nicht vorliegen würde. Beim Fehlen spezifischer IgE-Antikörper sei die Gefahr
eines anaphylaktischen Schocks weitestgehend auszuschließen, eine Typ-I-Allergie
gegen schwer vermeidbare Allergene sehr unwahrscheinlich. Es könne durchaus eine
breite Nahrungsmittelintoleranz vorliegen. Zum Nachweis einer Nahrungsmittelallergie
fehle es an einer oralen Provokationstestung unter standardisierten klinischen
Bedingungen. Homöopathischer Diagnostik bzw. Therapie komme nach
übereinstimmenden Stellungnahmen der nationalen Fachgesellschaften für Allergologie
keine naturwissenschaftlich nachweisbare Bedeutung zu.
Mit Urteil vom 15.02.2001 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Eine
Hilflosigkeit der Klägerin sei unter Heranziehung der Maßgaben der AHP nicht zu
begründen. Insbesondere sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme das Vorliegen
einer Typ-I-Allergie gegen schwer vermeidbare Allergene sehr unwahrscheinlich. Diese
Maßgabe der AHP sei für die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit auch bindend. Unter
Berücksichtigung der Ausführungen des Bundessozialgerichts (BSG) würden die AHP
Maßstäbe nicht nur im Sinne eines antizipierten Sachverständigengutachtens vorgeben,
sondern auch unter Berücksichtigung einer gleichmäßigen Behandlung der Betroffenen
normativ verbindliche Maßstäbe festlegen. Es handele sich um ein geschlossenes
Beurteilungsgefüge, das nur einer eingeschränkten Evidenzkontrolle der Sozialgerichte
unterliege. Eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung von allergieerkrankten Kindern
beinhalteten die AHP mit der aufgezeigten Anforderung eines anaphylaktischen
Schocks nicht, da bei einer Erkrankung ohne die Gefahr eines lebensbedrohlichen
anaphylaktischen Schocks geringere Anforderungen an die Engmaschigkeit der
Überwachung und weniger weitreichende Konsequenzen gegeben seien.
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Die Klägerin hat gegen das Urteil Berufung eingelegt, mit der sie weiterhin die
Feststellung von Hilflosigkeit begehrt. In erster Linie macht sie geltend, dass die von den
AHP geforderte Gefahr eines anaphylaktischen Schocks als unabdingbare
Voraussetzung für das Merkzeichen H ein ungeeignetes Abgrenzungskriterium sei, da
auch bei einer Allergie, die zu anderen beeinträchtigenden Folgen als einem
lebensbedrohlichen Zustand führe, der gleiche Aufwand und die gleiche stete Vorsorge
zur Allergenvermeidung getroffen würde. Die Forderung, dass aufgrund des bisherigen
Verlaufs der Erkrankung die drohende Gefahr eines anaphylaktischen Schocks
anzunehmen seien müsse, würde unberechtigterweise dazu führen, dass "das Kind in
den Brunnen gefallen" sein müsse, ehe der Anspruch verwirklicht werden könne.
Hinsichtlich der Maßgeblichkeit der AHP sei zu berücksichtigen, dass diese lediglich
ein antizipiertes Sachverständigengutachten darstellen würden und es insoweit an einer
entsprechenden Rechtsverordnung und Rechtsprechung fehle. Es sei der neuerlich
erkennbare Trend des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Frage der
Benachteiligung von Familien mit Kindern zu berücksichtigen. Das Sozialgericht
Dortmund habe im Rahmen seiner Urteilsbegründung darüber hinaus die geschilderten
Wutanfälle nach dem Verzehr von phosphathaltigen Lebensmitteln unberücksichtigt
gelassen.
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Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
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das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 15.02.2001 aufzuheben und den Beklagten
zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 20.01.1999 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 20.07.1999 Hilflosigkeit (Merkzeichen H) festzustellen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er hält das angefochtene Urteil und die beanstandeten Bescheide für rechtmäßig.
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Zur weiteren Sachdarstellung wird auf die zitierten Unterlagen, insbesondere das
Gutachten des Prof. Dr. D ..., die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der
Beteiligten sowie den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten des Beklagten
Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Der Senat konnte in der Sache entscheiden, obwohl für die Klägerin im Termin der
mündlichen Verhandlung niemand erschienen war. Der Bevollmächtigte war mit der
Ladung zum Termin auf diese Möglichkeit hingewiesen worden.
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Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage
auf Feststellung einer Hilflosigkeit zu Recht abgewiesen.
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Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 SchwbG/§ 69 Abs. 1 SGB IX stellen die für die Durchführung
des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag das Vorliegen einer
Behinderung und den GdB fest. Behinderung im Sinne dieses Gesetzes ist nach § 3
Abs. 1 Satz 1 SchwbG/§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX die Auswirkung einer nicht nur
vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen,
geistigen oder seelischen Zustand beruht. Regelwidrig ist derjenige Zustand, der von
dem für das Lebensalter typischen abweicht, § 3 Abs. 1 Satz 2 SchwbG/§ 2 Abs. 1 Satz
1 SGB IX. Nach § 4 Abs. 4 SchwbG/§ 69 Abs. 4 SGB IX treffen die
Versorgungsbehörden auch dann die erforderlichen Feststellungen, wenn neben dem
Vorliegen von Behinderungen weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die
Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind.
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Die Klägerin begehrt die Feststellung von Hilflosigkeit.
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Hilflos ist eine Person, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig
wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherheit ihrer persönlichen Existenz im Ablauf
eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf oder die Hilfe in Form einer
Überwachung oder einer Anleitung zu den genannten Verrichtungen oder eine ständige
Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist, § 33 b Abs. 6 EStG. Unter solchen häufig
und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen sind insbesondere das An- und
Auskleiden, die Nahrungsaufnahme, die Körperpflege, das Verrichten der Notdurft,
notwendige körperliche Bewegungen und geistige Anregungen zu verstehen, wobei
Verrichtungen, die mit der Pflege der Person nicht unmittelbar zusammenhängen (z.B.
im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung) außer Betracht bleiben müssen, Punkt
21 (4) AHP.
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Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung von Hilflosigkeit liegen bei
der Klägerin nicht vor. Auf die ausführliche und zutreffende Begründung des Urteils des
Sozialgerichts Dortmund mit den dortigen Ausführungen insbesondere zu den
Maßgaben der AHP, ihrer rechtlichen Wirkung sowie der tatsächlichen Erfüllung ihrer
Voraussetzungen wird Bezug genommen, § 153 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes
(SGG).
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Auch die von der Klägerin im Berufungsverfahren zum Teil wiederholt vorgebrachten
Argumente konnten zu keiner anderen Entscheidung führen.
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Das wiederholte Vorbringen der Klägerin, dass es sich bei den AHP um ein antizipiertes
Sachverständigengutachten, dagegen nicht um eine parlamentarisch verantwortete
Gesetzes- oder Rechtsverordnungsgrundlage handele, kann den geltend gemachten
Anspruch nicht begründen. Denn unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sich die
auf dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft beruhenden Anhaltspunkte
normähnlich nach Art der untergesetzlichen Normen entwickelt haben, erhöht auch der
von der Klägerin wiederholt betonte Umstand des Fehlens einer formal normativen
Regelung nicht die richterliche Kontrolldichte (BSG, Urteile vom 23.06.1993 - 9/9a RVs
1/91 -; 18.12.1996 - 9 RV 17/95 -; 13.12.2000 - B 9 V 8/00 R -). Vielmehr hat das
Bundessozialgericht festgestellt, dass es eine wirkliche richterliche Kontrolle in der
Sache nicht geben könne, weil es für die "Richtigkeit" der AHP außerhalb ihres eigenen
Systems keinen ausreichenden Maßstab gebe (BSG, Urteil vom 23.06.1993 a.a.O.).
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Darüber hinausgehend hat das Bundessozialgericht mit Urteil vom 29.08.1990 (BSGE
67/204 ff.) die Maßgaben der AHP zur Hilflosigkeit bei Kindern in ihrer begünstigenden
Wirkung in Frage gestellt. Es hat ausgeführt, dass es der Rechtsgrundlage entbehre,
dass durch die AHP ein großzügigerer Maßstab an die Prüfung der Hilflosigkeit bei
Kindern als bei Erwachsenen angelegt würde. Es könnten lediglich die Auswirkungen
einer Behinderung maßgeblich sein, die auch bei einem Erwachsenen auftreten
würden, da die die Überwachung und Anleitung erfordernde Unreife, mit der
Behinderung sachgerecht umzugehen, eine altersgemäße und keine krankhaft
verursachte Einschränkung der Selbstständigkeit von Kindern sei. So sei nur die Hilfe,
die auch ein ebenso kranker Erwachsener benötige, als vom kindlichen Alter
unabhängig zu berücksichtigen.
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Im Erwachsenenalter würde eine Nahrungsmittel- und Pollenallergie - auch nach den
Ausführungen der Klägerin - keine Hilflosigkeit begründen (vgl. auch BSG, Urteil vom
26.11.1991 - 9a RVs 8/90 -).
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Aber auch die Berücksichtigung der einen Vergleich mit gleichalt rigen gesunden
Kindern zu Grunde legenden Anhaltspunkte (vgl. insoweit BSG, Urteil vom 12.02.1997 -
9 RVs 1/95 -, ohne weitere Begründung) kann nicht zu dem von der Klägerin erstrebten
Nachteilsausgleich führen. Denn - wie vom Sozialgericht zutreffend ausgeführt - stellt
die Differenzierung der AHP nach dem Kriterium der Gefahr eines anaphylaktischen
Schocks keine willkürliche unsachliche Regelung dar. Bei einer klinisch gesicherten
Typ-I-Allergie mit der Gefahr eines lebensbedrohlichen anaphylaktischen Schocks ist
zusätzlich zwecks Überwachung der Allergenvermeidung die Notwendigkeit ständiger
Bereitschaft einer Hilfsperson wegen der Gefahr eines lebensbedrohlichen Schocks
erforderlich. Insoweit kann das Argument der Klägerin, dass die Überwachung zur
Allergenvermeidung auch ohne entsprechende Gefahr ständig erfolgen müsse, nicht
durchdringen.
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Auch der Einwand der Klägerin, die Anforderung der AHP, dass aus dem bisherigen
Verlauf auf die Gefahr lebensbedrohlicher anaphylaktischer Schocks zu schließen sein
müsse, sei unzumutbar ("Kind in den Brunnen gefallen"), kann das diesbezügliche
Beurteilungssystem der AHP vorliegend nicht in Frage stellen. Insoweit haben
zusätzlich zur Berücksichtigung des konkreten bisherigen Verlaufs die
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Untersuchungsergebnisse des Prof. Dr. D ... ergeben, dass das Auftreten eines
lebensbedrohlichen Schocks unwahrscheinlich ist. Auch der behandelnde Kinderarzt
Dr. O ... hat in seinem Befundbericht vom 27.09.1999 die Gefahr eines anaphylaktischen
Schocks zwar nicht als völlig ausgeschlossen, aber als sehr gering eingeschätzt.
Entsprechendes gilt für die von der Klägerin betonte Unverträglichkeit phosphathaltiger
Speisen mit der Folge von Verhaltensauffälligkeiten, da nach den Untersuchungen des
Sachverständigen mangels Entwicklung spezifischer Antikörper auch insoweit die
Gefahr eines lebensbedrohlichen Schocks als unwahrscheinlich ausgeschlossen
werden kann.
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Hinsichtlich des von der Klägerin geltend gemachten erheblichen Zeitaufwands, der
auch durch die Auswahl, Zubereitung und Vorhaltung allergenfreier Speisen verursacht
sei, wird - unter Wiederholung der sozialgerichtlichen Ausführungen - darauf
hingewiesen, dass die im Rahmen des § 33 b Abs. 3 Satz 2 EStG maßgeblichen
Speise-Verrichtungen auf die reine Nahrungsaufnahme (Essen und Trinken) zu
begrenzen sind. Anders als bei der Beurteilung einer Pflegebedürftigkeit im Sinne des
Kranken- und Pflegeversicherungsrechts spielt der hauswirtschaftliche Hilfebedarf im
Versorgungsrecht und Einkommenssteuerrecht keine Rolle, d.h. hauswirtschaftliche
Verrichtungen, zu denen auch das Einkaufen von Lebensmitteln und die
Nahrungszubereitung zählen, sind nicht berücksichtigungsfähig (BSG, Urteile vom
02.07.1997 - 9 RVs 9/96 -; - 9 RV 19/95 -; 10.09.1997 - 9 RV 8/96 -).
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Die Lebensmittelunverträglichkeit der Klägerin berechtigt auch nicht zu einer
Gleichbehandlung mit den in den AHP aufgeführten Fällen der Phenylketonurie - Punkt
22 (4) l) -.
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Denn die bei dieser Stoffwechselkrankheit erforderliche Diät, die sehr schlecht riecht
und schmeckt, führt dazu, dass die Kinder gefüttert und sowohl die Zulage als auch das
Weglassen von Nahrungsmitteln überwacht werden müssen (vgl. OVG Berlin, Urteil
vom 12.12.1974 - VI B 14.73 -). Darüber hinaus drohen bei der Phenylketonurie bei
Diätfehlern - wenn auch nicht gleich bei einem einzigen - schwerwiegende irreparable
Folgen bis hin zu einer erheblichen Hirnschädigung sowie eine Krampfneigung in den
ersten Lebensjahren (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Stichwort: Phenylketonurie).
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Vielmehr ist die dargestellte Lebensmittelunverträglichkeit mit einer Zöliakie (Gluten-
/Eiweißallergie) vergleichbar, die nach den AHP - Punkt 22 (4) t) - in der Regel keine
Hilflosigkeit begründet (so auch LSG Hessen, Urteil vom 20.05.1999 - L 6 SB 1494/98 -
in Breith. 2000/85 ff.; LSG Niedersachsen, Urteil vom 18.12.1997 - L 10 Vs 52/97 - in
Breith. 1998/551 f.).
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Da bereits die von der Klägerin geschilderte und von Dr. O ... bestätigte
Lebensmittelunverträglichkeit keine Hilflosigkeit begründet, kann dahingestellt bleiben,
welche Anforderungen an den Nachweis einer Allergie zu stellen sind. Insoweit liegt
nach den Ausführungen des Prof. Dr. D. nicht der von den AHP geforderte klinische und
naturwissenschaftlich anerkannte Nachweis einer Allergie vor.
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Auch die von der Klägerin geschilderten Reaktionen auf Getreide-, Gräser- und
Baumpollen können keine Hilflosigkeit begründen. Denn diese Reaktionen haben nach
den eigenen Angaben beim Sachverständigen Prof. Dr. D ... noch nicht zu
Atemnotanfällen geführt, so dass insoweit die Gleichstellung mit einem Bronchialasthma
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schweren Grades - Punkt 22 (4) g) AHP -, verbunden mit der Notwendigkeit einer
dauernden Bereitschaft einer Hilfsperson wegen lebensbedrohlicher Zustände durch
Serien schwerer Anfälle, außer Betracht bleibt.
Hinzu kommt, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. D ... das
Auftreten von bronchitischen Infekten im Kleinkindalter mit einer Frequenz bis zu ein bis
zwei Monaten noch als normal gilt.
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Hinsichtlich der Notwendigkeit, die Aufenthaltsorte der Klägerin im Freien zu
überwachen (Vermeidung von hohen Gras, Bäumen), ist zudem zu berücksichtigen,
dass Kinder im Alter der nun 5-jährigen Klägerin im Allgemeinen außer Haus noch nicht
unbeobachtet bleiben können.
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Auch bezüglich der Pollinosis kann dahingestellt bleiben, dass darüber hinaus nach der
Untersuchung durch Prof. Dr. D ... von einem naturwissenschaftlich anerkannten
klinischen Nachweis einer Allergie nicht ausgegangen werden kann.
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Auch die von der Klägerin angesprochene Rechtssprechung des
Bundesverfassungsgerichts konnte zu keiner anderen Entscheidung führen. Denn in
dem insoweit wohl in Bezug genommenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur
Verfassungswidrigkeit einer gleichmäßigen Beitragsleistung von Eltern und Kinderlosen
zur Pflegeversicherung vom 03.04.2001 - 1 BvR 1629/94 - wird ausgeführt, dass das
bestehende Interesse der Allgemeinheit an der Betreuungs- und Erziehungsleistung von
Familien es nicht gebietet, diese Erziehungsleistung zu Gunsten der Familien in einem
bestimmten sozialen Leistungssystem zu berücksichtigen. Das
Bundesverfassungsgericht sieht eine Grenze erst gegeben, wenn das entsprechende
soziale Leistungssystem ein Risiko abdecken soll, dass vor allem die Altengenerationen
trifft, und seine Finanzierung so gestaltet ist, dass sie im Wesentlichen nur durch das
Vorhandensein nachwachsener Generationen funktioniert. Die vorliegend betroffene
steuerrechtliche Regelung des § 33 b EStG steht dagegen nicht in Bezug zum
sogenannten Generationenvertrag.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Unter Berücksichtigung der zitierten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bestand
kein Anlass, die Revision zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2, Nr.1
oder 2 SGG nicht vorliegen.
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