Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 09.03.2004

LSG NRW: vergleichbare leistung, berufliche eingliederung, invalidenrente, bfa, russland, krankengeld, invalidität, mittelschule, arbeitsentgelt, arbeitsmarkt

Landessozialgericht NRW, L 1 AL 67/02
Datum:
09.03.2004
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
1. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 1 AL 67/02
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 7 AL 301/00
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 31.07.2002 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche
Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Revision
wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Eingliederungshilfe.
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Die am 00.00.1950 geborene Klägerin ist Spätaussiedlerin im Sinne des § 4
Bundesvertriebenengesetz (BVFG). Sie reiste am 29.4.2000 aus Russland in die
Bundesrepublik Deutschland ein.
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Die ärztliche Gutachterkommission (des russischen Rentenversicherungsträgers) hatte
die Klägerin im April 1997 als Invalide der zweiten Gruppe eingestuft und sie zugleich
als arbeitsunfähig angesehen. Dementsprechend bezog die Klägerin im Herkunftsland
ab 16.04.1997 Rente. Zugleich arbeitete die Klägerin - auch in der Zeit nach
Zuerkennung der Rente - von Januar 1997 bis April 2000 an der Mittelschule Nr.9 in D
als Russischlehrerin. Zum Nachweis, dass sie Arbeitsentgelt erhalten hat, legte sie eine
Einkommensbescheinigung des Schulamtes vor. Ihr (in deutscher Übersetzung
vorgelegtes) Arbeitsbuch enthält unter Nr. 23 den Eintrag: "28.05.1997 - Mit Beschluss
der Attestationskommission in die 1. Kategorie eingestuft". Es folgt unter Nr.24 der
Eintrag: "08.04.2000 - Nach § 31 ArbG der RF auf eigenen Wunsch ausgeschieden."
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Ihren in der Bundesrepublik Deutschland gestellten Antrag auf Gewährung einer Rente
wegen Erwerbsminderung lehnte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA)
mit Bescheid vom 26.10.2001 ab. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde
zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 15.02.2002).
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Am 03.05.2000 stellte die Klägerin erstmals einen Antrag auf Gewährung von
Eingliederungshilfe für Spätaussiedler. Dazu gab sie an, ihre Vermittlungsfähigkeit sei
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aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkt. Im Jahre 1997 sei eine Krebsbehandlung
durchgeführt worden. In Russland habe sie von 1992 bis zum 08.04.2000 als Lehrerin
mit 20 Stunden in der Woche gearbeitet. Das Arbeitsamt V lehnte den Antrag durch
Bescheid vom 11.05.2000 ab. Dazu führte es aus, die Klägerin habe in ihrem
Herkunftsland eine Rente der Gruppe 2 bezogen. Dieser Rentenbezug stehe dem
Bezug einer Erwerbsunfähigkeitsrente in der Bundesrepublik Deutschland gleich.
Beschäftigungen, die neben einem solchen Rentenbezug ausgeübt würden, seien
gemäß § 28 Nr. 2 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III) beitragsfrei. Nach §
418 SGB III könnten Beschäftigungszeiten im Herkunftsland nur berücksichtigt werden,
sofern sie bei einer Ausübung im Geltungsbereich des SGB III beitragspflichtig gewesen
wären. Dies sei hier nicht der Fall.
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Am 26.05.2000 stellte die Klägerin erneut einen Antrag auf Gewährung von
Eingliederungshilfe für Spätaussiedler. Dazu gab sie erneut an, dass ihre
Vermittlungsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkt sei. Ihre letzte
Tätigkeit könne sie aber weiter ausüben. Vom 20.08.1987 bis 08.04.2000 habe sie in
Russland als Lehrerin in einer Mittelschule gearbeitet. Die wöchentliche Arbeitszeit
habe zuletzt 23 Stunden betragen. Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom
30.06.2000 mit der Begründung ab, die Klägerin habe die Anwartschaftszeit nicht erfüllt.
Sie habe nicht mindestens fünf Monate in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden,
das bei einer Ausübung im Geltungsbereich des SGB III die Versicherungspflicht
ausgelöst hätte. Der am 07.07.2000 erhobene Widerspruch wurde mit
Widerspruchsbescheid vom 16.10.2000 als unbegründet zurückgewiesen, weil die
Klägerin innerhalb des letzten Jahres vor der Arbeitslosmeldung nicht mindestens fünf
Monate in einer Beschäftigung gestanden habe, die bei einer Ausübung im Inland
versicherungspflichtig gewesen wäre. Mit der am 20.11.2000 erhobenen Klage hat die
Klägerin darauf hingewiesen, dass sie im Herkunftsland aufgrund des Beschlusses der
Attestationskommission in die erste Kategorie eingestuft worden sei. Dabei handele es
sich um ein Zeugnis, d.h. die Feststellung der Leistung. Entgegen der Auffassung der
Beklagten, sei sie mit dem Zeitpunkt dieses Eintrags in ihr Arbeitsbuch nicht aus dem
Erwerbsleben ausgeschieden. Das Anstellungsverhältnis als Lehrerin sei vielmehr auf
ihren eigenen Wunsch am 08.04.2000 beendet worden. Infolge einer Operation habe sie
nur von Januar bis Mai 1997 nicht gearbeitet. Anschließend habe sie von Juni 1997 bis
April 2000 ohne Unterbrechung wieder ihren Beruf ausgeübt. Das Attest bezüglich der
Invaliditätseinstufung belege nur die rentenrechtliche Einstufung nach den Vorschriften
ihres Herkunftslandes. Sie sei vielmehr teilerwerbsfähig gewesen und habe somit mit
der teilweisen Fortführung ihrer Erwerbstätigkeit eine rentenversicherungspflichtige Zeit
im Sinne des Gesetzes bis zu ihrer Ausreise neben ihrem Rentenbezug zurückgelegt.
Eine Teilerwerbsunfähigkeitsrente habe es in Russland nicht gegeben. Wenn - wie in
ihrem Fall - eine Einstufung in die Gruppe 2 vorgenommen worden sei, entscheide eine
Ärztekommission. In ihrem Fall sei diese zu dem Ergebnis gelangt, dass sie teilweise
eine Arbeit aufnehmen könne. Dies bedeute gleichzeitig die Verpflichtung zur Aufnahme
einer entsprechenden Tätigkeit. Eine Unterlassung werde sanktioniert. Nach den
Feststellungen der BfA sei sie gesundheitlich in Lage, in den Arbeitsmarkt eingegliedert
zu werden, zudem sei sie im Herkunftsland im dortigen Arbeitsmarkt integriert gewesen.
Nach Sinn und Zweck des Gesetzes erfülle sie somit die Voraussetzungen für eine
berufliche Eingliederung. Es sei vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar, sie als
"Rentnerin" vom Bezug von Eingliederungshilfe auszuschließen. Zur weiteren
Begründung hat die Klägerin ferner eine Einkommensbescheinigung für das Jahr 1999,
den Mitgliedsausweis der Gewerkschaft, eine Bescheinigung der Mittelschule Nr. 9,
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eine Erklärung des Herrn A. O, nach der die Klägerin im Jahr 1999 an der Mittelschule
Nr. 9 eine Arbeitsgemeinschaft "Deutsche Literatur" leitete und den Invalidenausweis
vorgelegt.
Die Klägerin hat beantragt,
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die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 30.06.2000 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 16.10.2000 zu verurteilen, der Klägerin
Eingliederungshilfe ab dem 02.06.2000 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen
zu gewähren.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat die Auffassung vertreten, die Voraussetzungen des § 418 SGB III seien nicht
erfüllt. Die von der Klägerin vorgelegten Unterlagen belegten keine mindestens
fünfmonatige versicherungspflichtige Beschäftigung in der Vorfrist. Es sei insoweit
darauf hinzuweisen, dass die Klägerin Invalidenrente der Gruppe 2 bezogen habe.
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Das Sozialgericht hat eine Auskunft der BfA zu den Rechtsgrundlagen des
Invalidenrentenbezugs in Russland eingeholt. Wegen des Inhalts der Auskunft sowie
der beigefügten Anlagen wird auf Blatt 85 ff. der Streitakten verwiesen.
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Mit Urteil vom 31.07.2002 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Wegen der
Entscheidungsgründe wird auf Blatt 121 ff. verwiesen.
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Gegen das am 12.08.2002 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 09.09.2002 Berufung
eingelegt. Sie vertritt die Auffassung, dass es sich bei ihrer unbestrittenen Tätigkeit nicht
um eine versicherungsfreie Tätigkeit gem. § 28 SGB III gehandelt habe. Sie sei im
Herkunftsgebiet in die Invalidengruppe II eingestuft worden. Dies bedeute, dass es ihr
erlaubt gewesen sei, neben der Rente eine Arbeit aufzunehmen. Die bezogene Rente
habe auch bei weitem keine einkommenssichernde Funktion besessen. Sie habe
gerade ausgereicht, um die Wohnungskosten zu decken. Die Lebenshaltung habe nur
durch das zusätzliche Arbeitseinkommen gesichert werden können. Das Sozialsystem
im Herkunftsgebiet gehe - anders als das deutsche Rentensystem - bei der Einstufung in
die jeweiligen Invaliditätsgruppen in keiner Weise von einem gleichen Grad der
Invalidität aus. Dies werde schon dadurch erkennbar, dass die Invalidenkasse im
Herkunftsgebiet eine Tätigkeit der Klägerin in dem geleisteten Umfang tatsächlich
erlaubt habe. Dass sie hierzu auch imstande gewesen sei, werde durch die Einstufung
der BfA bestätigt. Diese sei zu dem Ergebnis gekommen, dass sie zu 75 % beruflich
einsatzfähig sei und habe daher den Antrag auf Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeitsrente
abgelehnt. Die zeitlich auf sechs Monate begrenzte Zahlung von Leistungen nach § 418
SGB III solle im Sinne des § 7 Abs. 1 BVFG die Eingliederung der Spätaussiedler und
ihrer Abkömmlinge erleichtern. Durch die gesetzliche Regelung sollten die Betroffenen
so gestellt werden, als hätten sie nach bundesrepublikanischen Verhältnissen
gearbeitet und wären demzufolge auch in einer gleichen Weise
sozialversicherungsrechtlich abgesichert gewesen.
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Darüber hinaus habe das Vordergericht bei der Überprüfung der Frage der
Vergleichbarkeit der Leistung des ausländischen Versicherungsträgers dessen Leistung
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als Rente bewertet, ohne zu berücksichtigen, dass es sich um einen Ersatz für die im
Herkunftsgebiet nicht vorgesehene Zahlung von Krankengeld gehandelt habe. Einen
vergleichbaren Bezug von Krankengeld sähen die Regelungen im Herkunftsgebiet nicht
vor. Wenn das Sozialgericht die von ihr bezogene Leistung richtigerweise als
Krankengeld und nicht als vergleichbare Leistung i.S.d. § 28 SGB III eingestuft hätte,
wäre es auch zu dem Ergebnis gekommen, dass ihr die beantragte Eingliederungshilfe
zuzusprechen sei. Tatsächlich habe sie nach dem operationsbedingten
Krankenhausaufenthalt trotz der festgestellten Invalidität weiter versicherungspflichtig
gearbeitet und Sozialversicherungsbeiträge abgeführt.
Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 31.07.2002 aufzuheben und die Beklagte
unter Abänderung des Bescheides vom 30.06.2000 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 16.10.2000 zu verurteilen, ihr Eingliederungshilfe ab dem
02.06.2000 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verweist darauf, dass die Rentenleistung im Herkunftsland der Klägerin auf einem
besonders hohen Maße eingetretener Invalidität beruhe und nicht erzielbares
Arbeitsentgelt ersetze. Soweit der Prozessbevollmächtigte sich darauf berufe, dass es
der Klägerin erlaubt bzw. sie sogar verpflichtet gewesen sei, neben dem Rentenbezug
zu arbeiten, berücksichtige dies nicht die Einstufungskriterien des Rentengesetzes.
Danach bedeute die Einstufung in die Gruppe 1 oder 2, dass der Bürger vollständig die
Fähigkeit verloren habe, unter normalen Bedingungen einer regulären Berufstätigkeit
nachzugehen.
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Hinsichtlich der einkommenssichernden Funktion der Leistung sei ein abstrakter
Maßstab anzulegen, so dass es nicht auf die konkrete Einkommenssituation der
Klägerin ankomme. Vielmehr sei entscheidend, ob bei einem Lohnersatz von 75 %
grundsätzlich von einer solchen einkommenssichernden Funktion ausgegangen werden
könne. Schließlich könnten auch die Ausführungen zum Krankengeld und einer
diesbezüglichen Ersatzfunktion der Invalidenrente zu keiner anderen Bewertung des
Falles führen. Für die Beurteilung der Vorbeschäftigungszeit und der rechtlichen
Vergleichbarkeit sei grundsätzlich von einer Inlandsbetrachtung auszugehen; ein
ausländischer Rechtsstatus könne nicht in einen vergleichbaren inländischen überführt
werden.
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Der weiteren Einzelheiten wegen wird Bezug genommen auf den übrigen Inhalt der
Streitakten und der Verwaltungsakten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Die Berufung ist zulässig. Insbesondere ist sie statthaft, da der Wert des
Beschwerdegegenstandes 500 Euro übersteigt (§ 144 Abs.1 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Der Klägerin hätte nach den Feststellungen der Beklagten
gegebenenfalls Eingliederungshilfe in Höhe von 263,55 DM wöchentlich zugestanden.
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Demgegenüber hat sie lediglich Sozialhilfe in Höhe von 497,00 DM monatlich erhalten.
Die Berufung ist jedoch unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf
Eingliederungshilfe. Gemäß § 418 SGB III (in d. F. vom 24. März 1997, gültig ab 1.
Januar 1998 bis 31. Dezember 2002) haben Spätaussiedler und ihre Ehegatten und
Abkömmlinge im Sinne des § 7 Abs. 2 BVFG Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn
sie
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1. arbeitslos sind, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet haben, bedürftig sind und
einen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe nicht haben und
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2. innerhalb eines Jahres vor dem Tag, an dem die sonstigen Voraussetzungen für den
Anspruch auf Eingliederungshilfe erfüllt sind (Vorfrist), in den Aussiedlungsgebieten
mindestens fünf Monate in einer Beschäftigung gestanden haben, die bei Ausübung im
Inland eine versicherungspflichtige Beschäftigung gewesen wäre.
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Die Klägerin gehört zu dem in § 418 SGB III angesprochenen Personenkreis. Sie ist
ausweislich des Registerscheins des Bundesverwaltungsamtes vom 03.05.2000
Spätaussiedlerin im Sinne des § 4 BVFG. Die Klägerin war zudem im Zeitraum, für den
die Leistung geltend gemacht wird, arbeitslos. Gemäß § 421 Abs. 1 i. V. m. § 118 Abs. 1
SGB III ist ein Arbeitnehmer arbeitslos, der 1. vorübergehend nicht in einem
Beschäftigungsverhältnis steht (Beschäftigungslosigkeit) und 2. eine
versicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende
Beschäftigung sucht (Beschäftigungssuche). Die Klägerin war nicht nur
beschäftigungslos, vielmehr suchte sie auch eine Beschäftigung. Eine Beschäftigung
sucht, wer 1. alle Möglichkeiten nutzt und nutzen will, seine Beschäftigungslosigkeit zu
beenden und 2. den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes zur Verfügung steht
(Verfügbarkeit). Den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamtes steht zur Verfügung,
wer arbeitsfähig und seiner Arbeitsfähigkeit entsprechend arbeitsbereit ist (§ 119 Abs. 2
SGB III in d. F. vom 16. Dezember 1997). Die Klägerin hatte sich bei der Beklagten am
03.05.2000 arbeitslos gemeldet und Eingliederungsgeld beantragt. Sie war auch
arbeitsfähig. Zweifel an ihrer gesundheitlichen Einsatzfähigkeit bestehen nicht. Denn
die BfA hat einen Rentenantrag der Klägerin abgelehnt und dabei festgestellt, dass sie
noch vollschichtig Arbeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen
Arbeitsmarktes verrichten kann. Arbeitsunfähigkeitszeiten von mehr als sechs Wochen
sind im streitgegenständlichen Zeitraum nicht ersichtlich (vgl. §§ 421 Abs. 1, 198 Satz 2
Nr. 3 i. V. m. § 126 Abs. 1 Satz 1 SGB III i. d. F. vom 16. Dezember 1997).
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Die Klägerin hat jedoch nicht in der nach § 418 Nr. 2 SGB III geforderten
Anwartschaftszeit im Aussiedlungsgebiet mindestens fünf Monate in einer
Beschäftigung gestanden, die bei Ausübung im Inland eine versicherungspflichtige
Beschäftigung gewesen wäre. Mit der Tätigkeit als Lehrerin im Anstellungsverhältnis -
im unterstellten Umfang von mindestens 20 Wochenstunden - erfüllt die Klägerin nicht
die Anwartschaft für das Eingliederungsgeld, weil sie nebenher zugleich eine
Invalidenrente des russischen Rentenversicherungsträgers bezogen hat und damit nicht
versicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist. Denn nach § 28 Nr. 2 SGB III (i.d.F. vom
24.03.1997, gültig ab 01.01.1998 bis 31.12.2000) sind Personen versicherungsfrei
während der Zeit, für die ihnen ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus
der gesetzlichen Rentenversicherung oder eine vergleichbare Leistung eines
ausländischen Leistungsträgers zuerkannt ist. Bei der von der Klägerin bezogenen
Invalidenrente der Gruppe 2 handelt es sich um eine vergleichbare Leistung im Sinne
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des § 28 Nr. 2 SGB III. Von einer Vergleichbarkeit der Leistung eines ausländischen
Leistungsträgers kann dann ausgegangen werden, wenn die Leistung Vollinvalidität
voraussetzt und ein deshalb nicht erzielbares Arbeitentgelt ersetzen soll (Brand in
Niesel, SGB III, 2. Aufl. § 28 Rdn. 6). Die Invalidenrente der Gruppe 2 entspricht der
Rente wegen Erwerbsminderung nach deutschem Recht. Die Rente wird auf der
Grundlage des Gesetzes über die staatlichen Renten in der RSFSR (Rentengesetz)
vom 20.11.1990 gewährt. Nach Art. 23 Rentengesetz wird nach drei Invaliditätsgruppen
unterschieden: Gruppe 1 Personen, die vollständig die Arbeitsfähigkeit verloren haben
und der ständigen Pflege bedürfen. Gruppe 2 Personen, die vollständig die
Arbeitsfähigkeit verloren haben, aber nicht pflegebedürftig sind. Gruppe 3 Personen, die
teilweise die Fähigkeit zur Ausübung einer regulären Tätigkeit verloren haben.
Die Invalidenrenten der Gruppe 1 und 2 werden gem. Art. 31 Rentengesetz in Höhe von
75% des bisherigen Lohns gezahlt (Auskunft der BfA, vgl. zudem Meierkord, Entstehung
des russischen Rentenfonds und gesetzliche Grundlagen der Rentenversicherung in
der russischen Föderation, DAngVers 1992, 402 -403-; Nußberger, Die soziale
Sicherung für den Fall der Invalidität in der russischen Föderation, DRV 1998, 523). Die
Invaliditätsgruppe 2 geht demnach von einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit aus und
entspricht daher den Merkmalen einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach dem
(damals) geltenden deutschen Recht (vgl. insoweit auch LSG Sachsen, Urteil vom
22.05.2003, L 3 AL 247/01). Gemäß § 44 Abs. 2 SGB VI (i. d. F. vom 24. März 1999 -
BGBl. I, S. 388) sind Versicherte erwerbsunfähig, die wegen Krankheit oder
Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, eine Erwerbstätigkeit in
gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu
erzielen, das monatlich 630,00 DM übersteigt; erwerbsunfähig sind auch Versicherte
nach § 1 Nr. 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt tätig sein können. Nicht entscheidend ist, dass es der Klägerin erlaubt war,
neben dem Rentenbezug zu arbeiten. Dies steht im Widerspruch zu den
Einstufungskriterien nach Art. 23 (russisches) Rentengesetz, wonach die Einstufung in
die Gruppe 2 erst dann erfolgt, wenn der Bürger vollständig die Fähigkeit verloren hat,
unter normalen Bedingungen einer regulären Berufstätigkeit nachzugehen.
Dementsprechend hat die Ärztekommission festgestellt, dass die Klägerin
arbeitsunfähig ist. Für die Vergleichbarkeit der russischen Rente (Invaliditätsgruppe 2)
mit einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit spricht ferner, dass beide grundsätzlich
darauf angelegt sind, nicht mehr erzielbares Arbeitsentgelt zu ersetzen. Von der
Einkommensersatzfunktion der Rente nach russischem Recht kann deshalb
ausgegangen werden, weil die Rentenhöhe für die zweite Invalidengruppe 75% des
bisherigen Lohnes beträgt.
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Nicht entscheidend ist, ob es der Klägerin mit der Rentenleistung möglich gewesen ist,
ihren Lebensunterhalt tatsächlich zu bestreiten. Zur Beantwortung der Frage, ob es sich
um eine vergleichbare Leistung nach § 28 Nr. 2 SGB III handelt, ist nicht auf die
individuellen Lebensverhältnisse, sondern auf einen generalisierenden, abstrakten
Vergleichsmaßstab abzustellen. Der Wortlaut der gesetzlichen Regelung legt es
keinesfalls nahe, im Einzelfall zu fragen, ob es dem Versicherten im Herkunftsland
möglich gewesen ist, seinen Lebensunterhalt mit der Rentenleistung zu bestreiten. Ob
die Rentenhöhe es ermöglicht, den Lebensunterhalt zu bestreiten, ist im Übrigen nicht
nur von den Lebensverhältnissen, sondern stets - individuell - davon abhängig, in
welchem Umfang der Spätaussiedler zuvor beruflich tätig gewesen ist. Der Versicherte
in der Bundesrepublik trägt ebenfalls das Risiko, dass die gewährte Rente wegen voller
Erwerbsminderung nicht ausreicht, um seinen Lebensunterhalt sicherzustellen.
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Gleichwohl ruht unabhängig von der Höhe des Rentenzahlbetrages gem. § 142 Abs.1
Nr. 2 SGB III der Anspruch auf Arbeitslosengeld während der Zeit des Bezugs einer
Rente wegen voller Erwerbsminderung. Insoweit wird - unstreitig - nicht auf die
individuellen Lebensverhältnisse, insbesondere nicht auf die Frage abgestellt, ob mit
der Rente letztlich der Lebensunterhalt bestritten werden kann. Die Klägerin würde als
Spätaussiedlerin gegenüber dem ausschließlich nach bundesdeutschem Recht zu
beurteilenden Versicherten privilegiert, wenn für die Gewährung von Eingliederungshilfe
- die für diesen Personenkreis grundsätzlich an die Stelle des Arbeitslosengeldes tritt -
unabhängig von der Höhe der Invalidenrente zudem noch auf die individuellen
Lebensverhältnisse abgestellt würde. Eine dahingehende Auslegung der gesetzlichen
Vorschriften zur Gewährung der Eingliederungshilfe würde im Ergebnis den
Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Grundgesetz (GG) verletzten. Denn dieser ist dann
verletzt, wenn sich ein vernünftiger aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie
einleuchtender Grund für eine gesetzliche Differenzierung nicht finden lässt (BVerfGE
40, 4, 108, 116). Grundsätzlich verdient stets jene Auslegung den Vorzug, die mit den
Prinzipien der Verfassung am besten übereinstimmt (vgl. Larenz, Methodenlehre der
Rechtswissenschaft, 6. Auflage S. 339). Im Rahmen des § 28 Nr. 2 SGB III kann folglich
mit Rücksicht auf die ansonsten zweifelhafte Verfassungskonformität nicht zugleich auf
die individuellen Lebensverhältnisse im Herkunftsland abgestellt werden.
Die Regelung des § 7 BVFG steht diesem Ergebnis nicht entgegen. Nach § 7 Abs.1
BVFG ist Spätaussiedlern die Eingliederung in das berufliche, kulturelle und soziale
Leben in der Bundesrepublik Deutschland zu erleichtern und durch die Spätaussiedlung
bedingte Nachteile zu mildern. Diesem Grundsatz wird die Regelung des § 418 SGB III
gerecht. Sie stellt durchaus sachgerecht darauf ab, dass Leistungen für die berufliche
Eingliederung solchen Spätaussiedlern zu gute kommen, die im Herkunftsland einer
Beschäftigung nachgegangen sind, die nach bundesdeutschem Recht beitragspflichtig
gewesen wäre. Ein Verstoß gegen § 7 Abs. 1 BVFG kann allein mit Hinweis darauf,
dass die Klägerin die Voraussetzungen des § 418 SGB III nicht erfüllt, keinesfalls
angenommen werden. In gleicher Weise könnte die Klägerin ansonsten mit Berufung
auf § 7 Abs.1 BVFG fordern, dass ihr - wie in Russland - in der Bundesrepublik eine
Rente wegen voller Erwerbsminderung zu zahlen wäre. Dies richtet sich jedoch -
unstreitig - ausschließlich nach den Voraussetzungen des SGB VI und lässt den
Grundsatz des § 7 Abs.1 BVFG ebenfalls unberührt.
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Die Auffassung der Klägerin, es handele sich bei der im Herkunftsland bezogenen
Leistung um Krankengeld und nicht um eine Rentenleistung, ist nicht nachvollziehbar,
da sie im Widerspruch zu den tatsächlichen Verhältnissen steht. Denn die Leistung
wurde nach dem russischen Rentengesetz gewährt und kann grundsätzlich als
vergleichbare Leistung eines ausländischen Leistungsträgers im Sinne von § 28 Nr. 2
SGB III angesehen werden (vgl. insoweit auch LSG Sachsen, Urteil vom 22.05.2003, L 3
AL 247/01).
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Der Senat hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsache
zugelassen, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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