Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 12.02.2004

LSG NRW: behandlung, multiple sklerose, arzneimittel, krankenversicherung, versorgung, therapie, label, verordnung, wissenschaft, konsens

Landessozialgericht NRW, L 5 KR 84/03
Datum:
12.02.2004
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 5 KR 84/03
Vorinstanz:
Sozialgericht Aachen, S 6 KR 114/02
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 1 KR 22/04 B
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen
vom 10.03.2003 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
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Die Klägerin begehrt die Versorgung mit dem Immunglobulinpräparat "Sandoglobulin".
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Die am 00.00.1952 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin leidet
seit etwa 1980 an einer primär chronisch progredienten Multiplen Sklerose. Die
Beklagte versorgte die Klägerin aufgrund des Urteils des Sozialgerichts Aachen vom
01.06.1999 (Az.: S 13 KR 35/98) mit intravenös zu verabreichenden Immunglobulinen
(Gammaglobulinen) zunächst für ein Jahr. Durch Bescheid vom 19.10.2000 entschied
die Beklagte, der Klägerin die Behandlung bis zum 31.12.2001 weiter zu gewähren.
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Am 14.12.2001 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die weitere Gewährung dieser
Therapie. Dies verweigerte die Beklagte durch Bescheid vom 03.01.2002 unter Hinweis
auf das Urteil des erkennenden Senats vom 08.08.2000 in einem gleich gelagerten Fall
(Az.: L 5 KR 80/99). Der dagegen am 14.01.2002 eingelegte Widerspruch blieb ebenso
erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 10.06.2002) wie das Begehren der Klägerin auf
weitere Versorgung mit dem Immunglobulinpräparat im Wege des einstweiligen
Rechtsschutzes (ablehnender Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 21.05.2002,
Az.: S 6 KR 67/02 ER, Senatsbeschluss vom 02.08.2002, Az.: L 5 B 44/02 KR ER).
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Die Klägerin hat am 19.06.2002 Klage vor dem Sozialgericht Aachen erhoben. Zur
Begründung hat sie vorgetragen: Die Voraussetzungen, die das Bundessozialgericht in
der Entscheidung vom 19.03.2002, Az.: B 1 KR 37/00 R, für die Versorgung mit
Arzneimitteln außerhalb des jeweiligen Anwendungsbereichs, für das es zugelassen
sei, aufgestellt habe, seien in ihrem Fall bezogen auf die Behandlung mit Sandoglobulin
erfüllt: Bei ihr liege eine lebensbedrohliche Krankheit vor, für die es keine alternative
Behandlungsmethode gebe. Auch habe sich die Behandlung mit Sandoglobulin bei ihr
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als wirksam erwiesen, denn unfreiwillige Auslassversuche (aufgrund der Weigerung der
Beklagten, das Arzneimittel weiter zur Verfügung zu stellen) hätten zu wesentlichen und
irreparablen Verschlechterungen ihres Gesundheitszustandes geführt.
Die Klägerin hat beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 03.01.2002 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 10.06.2002 zu verurteilen, ihr künftig das Immunglobulin
"Sandoglobulin" zur Verfügung zu stellen.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat die Auffassung vertreten, dass die Voraussetzungen für einen "off- label-use"
des Medikaments Sandoglobulin auf der Grundlage der von der Klägerin zitierten
Rechtsprechung des BSG nicht erfüllt seien.
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Das Sozialgericht hat die Klage durch Urteil vom 10.03.2003 abgewiesen. Wegen der
Begründung wird auf die Entscheidungsgründe Bezug genommen.
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Gegen das ihr am 18.03.2003 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 10.04.2003
Berufung eingelegt.
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Zur Begründung bringt sie vor: Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts scheitere
ihr Anspruch auf Versorgung mit dem Arzneimittel Sandoglobulin nicht an der vom
Bundessozialgericht aufgestellten Voraussetzung einer begründeten Aussicht auf einen
Behandlungserfolg. Hier müsse ausreichend sein, dass die Therapie im Rahmen des
off-label-use im konkreten Fall - wie bei ihr aufgrund der Ergebnisse des Aussetzens der
Behandlung bewiesen - wirksam sei. Zu dieser Auslegung der Entscheidung des BSG
vom 19.03.2002 müsse man insbesondere vor dem Hintergrund der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 22.11.2002 (Az.: 1 BvR 1586/02) gelangen. Das
Bundesverfassungsgericht habe hier entschieden, dass bei der Prüfung, ob einem
Krankenversicherten ein Anspruch auf Kostenübernahme für eine Arzneimitteltherapie
zustehe, stets Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz zu berücksichtigen sei. Dieses
Grundrecht würde unzulässig verletzt, wenn eine Therapie bei im Einzelfall
nachgewiesener Wirksamkeit aufgrund fehlender statistischer Nachweise nicht
fortgesetzt werden könne.
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Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 10.03.2003 zu ändern und die Beklagte unter
Aufhebung des Bescheides vom 03.01.2002 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 10.06.2002 zu verurteilen, sie künftig mit dem
Immunglobulinarzneimittel "Sandoglobulin" nach jeweiliger ärztlicher Verordnung zu
versorgen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf den
übrigen Inhalt der Streitakten sowie der Verwaltungsakten der Beklagten, der
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage
zu Recht abgewiesen. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, die Klägerin nach jeweiliger
ärztlicher Verordnung mit dem Arzneimittel Sandoglobulin zu versorgen.
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Der sich aus § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 und § 31 Abs. 1 SGB V ergebende Anspruch von
Versicherten auf Versorgung mit Arzneimitteln im Rahmen der Krankenbehandlung
unterliegt - wie alle Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung - den aus § 2
Abs. 1 Satz 3 und § 12 Abs. 1 SGB V resultierenden Einschränkungen. Demgemäß
besteht der Anspruch nur für solche Pharmakotherapien, die sich für die Behandlung der
beim Versicherten vorliegenden Krankheiten als zweckmäßig und wirtschaftlich
erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand
der medizinischen Erkenntnisse entspricht (vergl. dazu BSG, Urteil vom 19.03.2002 aaO
mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung des BSG). Diese Anforderungen sind
dann nicht erfüllt, wenn das jeweilige Medikament nach den Vorschriften des
Arzneimittelrechts der Zulassung bedarf, aber nicht zugelassen ist, oder aber außerhalb
des zugelassenen Anwendungsbereichs eingesetzt werden soll ("off-label-use", vgl.
BSG, Urteil vom 19.03.2002 aaO). Von diesem grundsätzlichen Verbot des "off-label-
use" von Arzneimitteln im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung sind nach der
Rechtsprechung des BSG aaO, die der Senat nach eigener Prüfung für zutreffend hält,
nur in eng umgrenzten Fällen Ausnahmen zuzulassen. Die Verordnung eines
Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet kommt
danach nur in Betracht, wenn es (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden
(lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden)
Erkrankung geht, wenn (2) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3) aufgrund
der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein
Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Damit Letzteres
angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten
lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann.
Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung
bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der
Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch
relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren
Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse
veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen
Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen
und aufgrund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen
voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.
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Im Falle der Klägerin sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt. Es fehlen jedenfalls
hinreichend gesicherte Erkenntnisse über die Wirksamkeit der Behandlung der bei der
Klägerin vorliegenden primär chronischen progredienten Multiplen Sklerose mit dem
Arzneimittel Sandoglobulin. Dies hat das BSG aaO in einem vergleichbaren Fall
ausdrücklich festgestellt; neue, seit der Entscheidung des BSG gefertigte klinische
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Studien oder neu gewonnene medizinische Erkenntnisse, die zu dem vom BSG
geforderten Konsens in Fachkreisen geführt hätten, liegen nicht vor. Es lassen sich
deshalb keine nachprüfbaren Aussagen über die Qualität und Wirksamkeit des
Arzneimittels Sandoglobulin in dem Anwendungsgebiet primär chronisch progrediente
Multiple Sklerose treffen.
Entgegen der Auffassung der Klägerin ist dieser Nachweis auch nicht etwa deshalb als
erbracht anzusehen, weil nach ihrem Vorbringen aufgrund der Anwendung des
Arzneimittels und des anschließenden "unfreiwilligen" Absetzens die Wirksamkeit des
Medikaments in ihrem Falle nachgewiesen wäre. Die von dem BSG aaO geforderten
zuverlässigen wissenschaftlich nachprüfbaren Aussagen hinsichtlich Qualität und
Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet heben
notwendigerweise auf einen objektiven, wissenschaftlich begründbaren Maßstab ab
und schließen deshalb ausschließlich in einem Einzelfall gewonnene Erkenntnisse aus.
Medizinisch-wissenschaftliche Aussagen lassen sich gerade zuverlässig erst dann
treffen, wenn eine breit angelegte klinische Prüfung der Wirksamkeit in dem vom BSG
beschriebenen Umfang durchgeführt worden ist. Auch bei unterstellter Besserung bzw.
Stabilisierung des Gesundheitszustands der Klägerin unter der Theraphie mit
Sandoglobulin und Verschlechterung bei Absetzen des Medikaments lässt sich der
Beweis der Wirksamkeit der Behandlung mit diesem Arzneimittel im wissenschaftlichen
Sinne wie vom BSG aaO gefordert nicht führen.
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Aus Artikel 2 Grundgesetz (GG) kann ein Anspruch auf Gewährung bestimmter
Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht hergeleitet werden (vergl. BSG,
Urteil vom 28.03.2000, SozR 3-2500 Nr. 14 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts). Zwar besteht die objektiv- rechtliche Pflicht des Staates,
Leben und Gesundheit zu schützen. Diese Pflicht wird jedoch durch Bereitstellung von
Leistungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung, die dem allgemein
anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen, erfüllt (BSG aaO). An
diesem Ergebnis ändert sich auch aufgrund des Beschlusses des
Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 1586/02) nichts. In dieser Entscheidung, die im
Eilverfahren ergangen ist, hat das Bundesverfassungsgericht die Bedeutung des
Grundrechts aus Art. 2 GG im Rahmen der in Verfahren des einstweiligen
Rechtsschutzes vorzunehmenden summarischen Prüfung betont. Im vorliegenden Fall
steht dagegen fest, dass die Behandlung der bei der Klägerin vorliegenden Form der
Multiplen Sklerose mit Sandoglobulin nicht dem allgemin anerkannten Stand der
medizinischen Wissenschaft entspricht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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Anlass, die Revision zuzulassen, hat nicht bestanden.
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