Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 20.03.1997

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Landessozialgericht NRW, L 5 SKr 22/96
Datum:
20.03.1997
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 5 SKr 22/96
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 9 Kr 120/96
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des
Sozialgerichts Köln vom 16.09.1996 wird zurückgewiesen. Kosten sind
nicht zu erstatten.
Gründe:
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I.
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Die Antragstellerin ist mit ihrem Begehren auf Kostenübernahme für eine medizinische
Behandlung bei Dr. R. in Dallas/Texas oder bei Dr. M. in Abborts Langley (GB) ohne
Erfolg geblieben (Bescheid der Antragsgegnerin vom 15.08.1996; Beschluss SG Köln
vom 16.09.1996).
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Zur Begründung ihrer Beschwerde trägt die Antragstellerin vor, sie leide an CFS und
MCS. Eine Behandlung zum Erhalt ihres Lebens sei nur noch durch eine Behandlung
bei Dr. R. gewährleistet.
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Die Antragstellerin beantragt schriftlich sinngemäß,
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den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 16.09.1996 abzuändern und im Wege des
einstweiligen Rechtsschutzes die Kosten einer Behandlung bei Dr. R., hilfsweise, bei
Dr. M. im vollen Umfang zu übernehmen.
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Die Antragsgegnerin beantragt schriftlich,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Sie verweist auf Stellungnahmen des MDK.
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Für die Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.
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II.
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Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Nach der gebotenen summarischen
Prüfung fehlt es an einem Verfügungsanspruch. Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben
Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine
Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder
Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfaßt u.a. ärztliche
Behandlung (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, § 28 SGB V) und Krankenhausbehandlung (§ 27
Abs. 1 Satz 2 Nr. 5, § 39 SGB V). Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem
allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und
den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen (§ 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V). Solange
Versicherte sich im Ausland aufhalten, ruht der Anspruch auf Leistungen grundsätzlich
(§ 16 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Ist eine dem allgemeinen anerkannten Stand der
medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung einer Krankheit nur im Ausland
möglich, kann die Krankenkasse die Kosten der erforderlichen Behandlung ganz oder
teilweise übernehmen (§ 18 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Die Voraussetzungen für eine
Kostenübernahme sind nach der im einstweiligen Anordnungsverfahren
vorzunehmenden Prüfung nicht erfüllt. Vertragsärztlich ist die Erkrankung CFS und
MCS, deren Behandlung die Antragstellerin begehrt, als Diagnose nicht in jüngerer Zeit
(ab 1996) gesichert. Die privatärztlichen Atteste, die die Antragstellerin vorgelegt hat,
sind uneinheitlich (z. B.: Klar zu definierende Diagnose derzeit nicht zu erstellen, Dr. S.,
29.02.1996; chronisch hypoergische Immunerkrankung, bisher medizinisch
unzureichend erforscht, derselbe, 10.04.1996; Polyneuropathie, Myopathie,
extrapyramidale Störungen, Leistungs- und Wesensänderung wahrscheinlich durch
toxische Stoffe, als auch für Laien verständliche Beschreibung der
Krankheitsentwicklung: MCS (Dr. B., 30.05.1996); MCS-Syndrom (Prof. Dr. G./Dr. F.,
27.06.1996); chronisches Müdigkeitssyndrom (Dr. H., 06.05.1996); MCS und CFS (Dr.
R., 10.07.1996); erhebliche Immundysfunktion mit Müdigkeitssyndrom (derselbe,
19.11.1996); kein Hinweis auf Immundefekt (Dr. Da., 18.04.1996)). Im Hinblick darauf
erscheint die Beurteilung des MDK (Dr. F., 27.12.1996; 29.07.1996) auch unter
Würdigung der Arztbriefe von Prof. Dr. D. 1991/1992 als überzeugend, es bedürfe
zunächst einer umfassenden, interdisziplinären Ausschlußdiagnostik. Das
differenzialdiagnostische Ausschlußverfahren sei in der Bundesrepublik Deutschland
nicht nur möglich, sondern auch üblicher Mindestqualitätsstandard. Daß die
diagnostischen Möglichkeiten in Deutschland ausgeschöpft worden sind, ist nicht
ersichtlich. So hat die Antragstellerin den mit Dr. Sch. vereinbarten Termin unter
Hinweis darauf, mit einem zweistündigen Gespräch sei ihr nicht geholfen, verstreichen
lassen, die Möglichkeit einer Diagnostik bei Prof. Dr. Schl. nicht genutzt - beide
Möglichkeiten hat die Antragsgegnerin benannt - und auch z. B. in der von Prof. Dr. G.
angesprochenen Habichtswald-Klinik (K.) keine Diagnostik durchführen lassen, obwohl
Dr. Sch. darauf hingewiesen hatte, daß ohne vorherige ambulante Klärung der Situation
keine exakteren Aussagen über eine stationäre und ambulante Behandlung zu machen
seien und Prof. Dr. Schn. ausgeführt hatte, in der Allergie- und Umweltambulanz der
Klinik würden Patienten mit bisher ungeklärten Krankheitsbildern betreut, die Klinik
verfüge über umweltneutrale Zimmer, und eine Aufnahme sei im Einverständnis mit der
Antragsgegnerin möglich.
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Aber auch wenn man zugunsten der Antragsstellerin von den Krankheitsbezeichnungen
CFS und MCS ausgeht, ist nicht ersichtlich, daß eine dem allgemeinen anerkannten
Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung nur im Ausland (Dr.
R.; Dr. M.) möglich ist. Nach den von der Antragstellerin vorgelegten Publikationen
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fehlen nicht nur bis heute für CFS wissenschaftlich gesicherte pathognomische Zeichen
oder spezifische diagnostische Tests, sondern es gibt derzeit keine definitive Therapie.
Jüngste Longitudinalstudien lassen danach vermuten, daß sich einige CFS-Betroffene
mit der Zeit erholen, die meisten jedoch über mehrere Jahre funktionell eingeschränkt
bleiben (umweltmedizinische Forschungspraxis 1 (4), 221 ff., 222, 1996, m.w.N.).
Idiopathische umweltbezogene Unverträglichkeiten (IEI, umfassend auch mit MCS
beschriebene Störungen) ließen sich erst wirksam behandeln, wenn die Ursachen
geklärt seien. Bis dahin sei eine verständnisvolle und unterstützende
Behandlungsweise angezeigt. Der Forschungsbedarf solle sich auf die Ermittlung der
Natur und Ursachen umweltbezogener Unverträglichkeiten konzentrieren. Die
Schlüsselfrage sei, ob Personen mit IEI in der Lage seien, im Rahmen von placebo
kontrollieren Doppelblindversuchen zwischen den von ihnen als ursächlich
angesehenen Umwelteinflüssen und Placebos zu unterscheiden. Die Fähigkeit zur
Unterscheidung würde auf eine toxikologische Ursache hindeuten, andernfalls wären
eher seelische Ursachen anzunehmen. Die behandelnden Ärzte befänden sich in einem
Dilemma zwischen der offensichtlichen Not der Patienten und dem aktuellen
"Unwissensstand" (UBA, Presseinformation Nr. 6/96 zu einem internationalen
Wissenschaftlertreffen der WHO). Das stimmt mit dem Standpunkt von Dr. S. (a.a.O.)
überein, es gehe nach gesicherten Kenntnisstand der Medizin um experimentelle
Therapien. Nichts anderes besagt die Stellungnahme des MDK (Dr. F., a.a.O.), bei der
Vorgehensweise von Dr. R. handele es sich um ein nicht anerkanntes Verfahren ohne
Wirksamkeitsnachweis. Im Hinblick darauf ist nicht nur unter Berücksichtigung von § 2
Abs. 1 Satz 3 SGB V der Leistungsanspruch von Versicherten im Inland beschränkt.
Leistungen von wissenschaftlich nicht anerkannten Methoden, nicht ausreichend
erprobte Verfahren oder Außenseitermethoden, die sich nicht bewährt haben, lösen
keine Leistungspflicht der GKV aus. Die medizinische Forschung kann nicht der GKV
angelastet werden (vgl. BT-Drucksache 11/2237 S. 157; vgl. BSG, Urteil vom
08.03.1995, 1 RK 8/94, SozR 3-2500 § 31 SGB V Nr. 3, S. 5 ff., 12, m.w.N.). Fehlt eine
dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende
Behandlungsmöglichkeit, so sind damit zugleich auch die Voraussetzungen einer
Auslandsbehandlung (§ 18 Abs. 1 SGB V) nicht erfüllt. Soweit Ärzte in einzelnen
Privatattesten, die die Antragstellerin vorgelegt hat, eine Behandlung allein bei Dr.
R./Dr. M. für möglich halten, wird aus den Attesten nicht deutlich, daß es sich um mehr
als Experimente handelt. Soweit sich die Antragstellerin auf die Rechtsprechung des
BSG zur RVO beruft, ist diese durch die genannten Bestimmungen des SGB V überholt.
Daß einer Behandlung unterhalb des Experimentalstadiums auf dem von der WHO
gefordeten Niveau (vgl. oben) nur im Ausland möglich ist, ist dagegen weder glaubhaft
gemacht noch sonst ersichtlich.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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