Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 16.02.2005

LSG NRW: versorgung, ausschluss, befreiung, vertragsarzt, vertreter, verwaltungsverfahren, weiterbildung, trennung, feststellungsklage, sicherstellung

Landessozialgericht NRW, L 11 KA 42/04
Datum:
16.02.2005
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
11. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 11 KA 42/04
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 14 KA 184/02
Sachgebiet:
Vertragsarztrecht
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 17.03.2004 abgeändert. Unter Abweisung des
Feststellungsantrages wird der Bescheid der Beklagten vom 18.12.2001
in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.07.2002
aufgehoben und der Kläger vom Notfalldienst ausgeschlossen. Die
Beteiligten tragen die Kosten des Verfahrens für beide Rechtszüge je
zur Hälfte. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten um den Ausschluss, hilfsweise die Befreiung vom ärztlichen
Notfalldienst.
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Der Kläger ist 61 Jahre als und seit 1980 als Facharzt für Pathologie in C zur
vertragsärztlichen Versorgung in Gemeinschaftspraxis zugelassen.
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Er beantragte im November 2001 seinen Ausschluss vom ärztlichen Notfalldienst,
hilfsweise die Befreiung. Zur Begründung führte er aus, dass er als Facharzt für
Pathologie völlig ungeeignet sei, den Notfalldienst qualifiziert durchzuführen. Er habe
seit seiner Approbation im Jahre 1970 ununterbrochen in der Pathologie gearbeitet; im
Jahre 1980 habe er sich niedergelassen, ein Institut für Pathologie in C aufgebaut und
keine ärztliche Tätigkeit außerhalb der Pathologie ausgeübt. Das Arzt-
Patientenverhältnis werde belastet, wenn ein Pathologe als Notfallarzt zu einem
Schwerkranken komme. Im Übrigen führe die Gemeinschaftspraxis, der er angehöre,
einen Notfalldienst für Schnellschnitte durch.
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Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18.12.2001 ab, da die
Befreiungstatbestände im Sinne von § 2 der Gemeinsamen Notfalldienstordnung
(NFDO) nicht vorlägen und Anhaltspunkte für eine Ungeeignetheit zur Teilnahme am
ärztlichen Notfalldienst nicht ersichtlich seien.
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Mit seinem Widerspruch verfolgte der Kläger sein Begehren weiter. Die Beklagte wies
den Widerspruch mit Bescheid vom 24.07.2002 zurück. In Ergänzung ihrer
Ausführungen im angefochtenen Bescheid vertrat sie die Auffassung, dass ein an der
vertragsärztlichen Versorgung teilnehmender Arzt sich auch am Notdienst beteiligen
müsste; wenn er dies nicht möchte, so bleibe es ihm unbenommen, den Notfalldienst
durch einen Vertreter wahrnehmen zu lassen. Dass der Kläger ausschließlich
pathologisch in der Vergangenheit tätig gewesen sei, rechtfertige seinen Ausschluss
bzw. seine Befreiung vom Notdienst nicht, da er verpflichtet sei, sich für die weitere
Teilnahme am Notfalldienst fortzubilden.
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Mit seiner Klage hat der Kläger zusätzlich zu seinem Vortrag im Verwaltungsverfahren
ausgeführt, dass er keinesfalls die Verpflichtung eines niedergelassenen Vertragsarztes
zur Teilnahme am ärztlichen Notfalldienst verkenne, jedoch zu berücksichtigen sei, dass
der im N Krankenhaus in C eingerichtete Notfalldienst eine nahezu normale ärztliche
Tätigkeit außerhalb der üblichen Praxiszeiten ohne irgendeinen Notfallcharakter
darstelle; es handele sich im Wesentlichen um einen Ersatz für eine hausärztliche
Betreuung außerhalb der üblichen Praxiszeiten; als Pathologe sei er keinesfalls in der
Lage, diesen "hausärztlichen Notdienst" zu leisten. Soweit die Beklagte auf die
Verpflichtung zur Weiterbildung hinweise, betreffe diese Weiterbildungsverpflichtung nur
den Notfalldienst im eigentlichen Sinne, keinesfalls jedoch den tatsächlich zu
erbringenden "hausärztlichen Notdienst". Seine Heranziehung zum Notdienst sei auch
deshalb nicht rechtmäßig, weil sie nicht von der Ermächtigungsnorm des § 30 Nr. 2
Heilberufsgesetz NW gedeckt sei, da die ganz überwiegende Mehrzahl der zu
behandelnden Fälle keine echte Notfälle seien, sondern es sich dabei um "verpasste
Arzttermine" handele, die in den Abendstunden bzw. am Wochenende nachgeholt
würden. Vor diesem Hintergrund sei die Notfalldienstordnung rechtsunwirksam.
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Der Kläger hat beantragt,
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den Bescheid vom 18.12.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
24.07.2002 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihn gemäß § 4 Abs. 1 NFDO
vom ärztlichen Notfalldienst auszuschließen, hilfsweise ihn gemäß § 2 Abs. 1 NFDO
vom ärztlichen Notfalldienst zu befreien.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat auf die Ausführungen in den anfochtenen Bescheiden verwiesen.
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Mit Urteil vom 17.03.2004 hat das Sozialgericht (SG) Düsseldorf die Klage abgewiesen
und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, der allgemeinen
Teilnahmeverpflichtung eines Arztes werde durch einen etwaigen "Missbrauch" des
Notdienstes durch bestimmte Patienten nicht die rechtliche Grundlage entzogen;
Befreiungs- und/oder Ausschließungsgründe lägen nicht vor. Wenn der Kläger meine,
den Anforderungen des Notfalldienstes nicht gewachsen zu sein, könne er sich von
einem anderen Arzt vertreten lassen; im Übrigen sei er verpflichtet, sich für den
Notfalldienst fortzubilden; Befreiungstatbestände lägen bereits deshalb nicht vor, weil
der Kläger nach wie vor im vollen Umfange an der vertragsärztlichen Versorgung
teilnehme.
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Mit der Berufung tritt der Kläger dieser Entscheidung entgegen. Er wiederholt im
Wesentlichen seinen bisherigen Vortrag und führt ergänzend aus, das
Verwaltungsverfahren verstoße auch gegen § 4 Abs. 2 NFDO, da über den Ausschluss
nicht wie vorgeschrieben der Vorstand der Beklagten, sondern der Kreisstellenvorstand
der Kreisstelle C entschieden habe.
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Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Kläger weiter vorgetragen, dass er nicht
verpflichtet sei, am allgemeinen ärztlichen Notfalldienst der Beklagten teilzunehmen, da
sich aus der gesetzlichen Systematik, insbesondere der Trennung hinsichtlich
hausärztlicher und fachärztlicher Versorgung ergebe, dass ein an der fachärztlichen
Versorgung teilnehmender Vertragsarzt nicht verpflichtet werden könne, am
allgemeinen ärztlichen Notfalldienst teilzunehmen.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 17.03.2004 abzuändern, die Bescheide
der Beklagten vom 18.12.2001 und 24.07.2002 aufzuheben und festzustellen, dass der
Kläger nicht verpflichtet ist, am allgemeinen ärztlichen Notfalldienst der Beklagten
teilzunehmen, hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, den Kläger gemäß § 4 Abs. 1 der
Notfalldienstordnung vom ärztlichen Notfalldienst auszuschließen, hilfsweise, ihn
gemäß § 2 Abs. 1 der Notfalldienstordnung vom ärztlichen Notfalldienst zu befreien.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung hinsichtlich des jetzt gestellten Feststellungsantrages als unzulässig zu
verwerfen, im Übrigen die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.
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Sie hält in der Sache das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und die Erweiterung des
Klagebegehrens durch den im Verhandlungstermin gestellten Feststellungsantrag für
unzulässig.
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Die Verwaltungsakten der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen. Auf den Inhalt dieser Akten und den der Streitakten
wird - insbesondere hinsichtlich des Vorbringens der Beteiligten - ergänzend Bezug
genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung des Klägers ist hinsichtlich seines Begehrens auf Ausschluss
vom ärztlichen Notfalldienst begründet, jedoch ist sein Feststellungsbegehren
unbegründet.
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Der Kläger ist gemäß § 4 NFDO vom Notfalldienst auszuschließen, da er zur Teilnahme
am ärztlichen Notfalldienst ungeeignet ist.
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Ungeeignet nach § 4 Abs. 2 NFDO ist insbesondere, wer fachlich und/oder persönlich
nicht die Gewähr für eine ordnungsgemäße und qualifizierte Durchführung des
ärztlichen Notfalldienstes bietet oder wenn sonstige Gründe vorliegen, die den Arzt als
Vertragsarzt ungeeignet erscheinen lassen. Der Kläger ist deshalb als ungeeignet
einzustufen, weil er gemäß § 4 Abs. 2 NFDO fachlich nicht die Gewähr für eine
ordnungsgemäße und qualifizierte Durchführung des ärztliches Notfalldienstes bietet.
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Denn der Kläger ist - was zwischen den Beteiligten unstreitig ist - seit dem 01.10.1970,
also ca. 34 ½ Jahren, allein pathologisch tätig. Aufgrund dieser langjährigen Tätigkeit
allein im Fachgebiet "Pathologie" und ohne jeglichen Patientenkontakt fehlt dem Kläger
die fachliche Eignung, die im Rahmen eines "normalen" Notdienstes erforderlichen
typischen Notfallmaßnahmen und/oder Sofortmaßnahmen im Sinne einer vorläufigen
Versorgung (BSGE 33, 165) bis zum Einsetzen einer normalen Versorgung erbringen zu
können. Dies ergibt sich daraus, dass der Kläger über 34 Jahre ohne Patientenkontakt
ausschließlich pathologisch gearbeitet hat und seiner Weiterbildungsverpflichtung
gemäß § 30 Nr. 2 Heilberufsgesetz Nordrhein-Westfalen in Verbindung mit § 1 Abs. 1
Satz 3 NFDO nicht nachgekommen ist. Der Senat gelangt zu dieser Auffassung auch
aufgrund der besonderen Sachkunde der ehrenamtlichen Richter, die als Vertragsärzte
zugelassen sind und Notfalldienst verrichten.
Dabei geht der Senat davon aus, dass jeder zum Notdienst verpflichtete Arzt die Pflicht
hat, sich aufgrund der o.g. Vorschriften für den Notfalldienst fortzubilden. Soweit ein
Vertragsarzt dieser Verpflichtung nicht nachkommt, hat die Beklagte zur
Aufrechterhaltung des Notfalldienstes durch geeignete Maßnahmen auf den
Vertragsarzt einzuwirken, um ihn zur Einhaltung dieser grundlegenden Pflicht zu
bewegen. Als geeignete Maßnahme in diesem Sinne kommen insbesondere
Maßnahmen nach der Disziplinarordnung in Betracht. Im Einzelfall kann bei
hartnäckiger Verweigerung der Fortbildung trotz entsprechender Disziplinarmaßnahmen
in der Weigerung eines Vertragsarztes auch eine gröbliche Pflichtverletzung gesehen
werden, die den Entzug der Zulassung rechtfertigen kann.
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Der Senat stellt jedoch fest, dass der Kläger allein aufgrund seiner langjährigen
ausschließlichen pathologischen Tätigkeit und seines Lebensalters jetzt nicht mehr in
der Lage ist, binnen angemessener Zeit die Kenntnisse und Fertigkeiten wieder zu
erlangen, die erforderlich sind, um den Notfallpatienten die notwendige
Notfallversorgung zukommen zu lassen. Denn der nunmehr 61-jährige Kläger müsste
nach Auffassung des Senates unter besonderer Berücksichtigung der Sachkunde der
ehrenamtlichen Richter über mehrere Jahre die von der Ärztekammer Nordrhein bzw.
Fortbildungsakademie der Nordrheinischen Ärzte angebotenen
Weiterbildungsmaßnahmen besuchen, um fachlich in die Lage versetzt zu werden, alle
im "normalen" ärztliche Notdienst anfallenden Erkrankungen diagnostizieren und im
Sinne einer "Sofortversorgung" behandeln zu können. Eine derartige Qualifikation
würde er erst dann erreichen, wenn er einen Anspruch auf Befreiung nach § 2 Abs. 1
Satz 2 Nr. 5 NFDO wegen des Alters von 65 Jahren hätte oder sein Ausscheiden aus
der vertragsärztlichen Versorgung aufgrund des Erreichens der Altersgrenze nahe wäre.
Dabei berücksichtigt der Senat auch, dass der Kläger, der mit Kenntnis der Beklagten
gerade wegen seiner ausschließlich pathologischen Tätigkeit über viele Jahre den
Notfalldienst nicht persönlich, sondern durch einen Vertreter ausgeführt hat, von der
Beklagten zu keiner Zeit angehalten worden ist, sich für den ärztlichen Notfalldienst
fortzubilden. Im Gegenteil hat sie ihm über mehr als 20 Jahre die Abwicklung des
Dienstes durch einen Vertreter abgenommen.
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Die im Berufungsverfahren erhobene Feststellungsklage ist zulässig. Der Senat hält die
im Berufungsverfahren vorgenommene Änderung bzw. Erweiterung des
Klagebegehrens für sachdienlich im Sinne von § 99 Abs. 1 SGG, da über die Frage des
Ausschlusses vom Notfalldienst (§ 4 NFDO) und/oder Befreiung vom Notfalldienst (§ 2
NFDO) nur entschieden werden kann, wenn im Sinne einer Vorfrage geklärt wird, ob der
betroffene Arzt überhaupt zur Teilnahme am ärztlichen Notfalldienst verpflichtet ist.
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Die Feststellungsklage ist jedoch unbegründet, da der Kläger nicht nur zur Teilnahme
an einem fachärztlichen Notdienst, sondern auch zur Teilnahme am allgemeinen
ärztlichen Notfalldienst verpflichtet ist. Nach § 75 Abs. 1 Satz 2 SGB V, § 30 Nr. 2
Heilberufsgesetz Nordrhein-Westfalen, § 20 Abs. 1 der Berufsordnung der
nordrheinischen Ärzte, § 4 der Satzung der Beklagten und § 1 NFDO ist der Kläger zur
Teilnahme am allgemeinen Notfalldienst verpflichtet. Dem steht auch nicht entgegen,
dass gemäß § 73 Abs. 1 SGB V die vertragsärztliche Versorgung sich in die
hausärztliche und die fachärztliche Versorgung gliedert. Denn aus § 75 Abs. 1 Satz 2
SGB ergibt sich, dass die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung unabhängig
von der im § 73 Abs. 1 Satz 1 vorgenommenen Trennung von haus- und fachärztlicher
Versorgung den Notfalldienst insgesamt und damit auch den allgemeinen Notfalldienst
umfasst. Denn die Teilnahme an der fachärztlichen Versorgung bewirkt unter
Berücksichtigung der Verpflichtung zur Weiterbildung keinesfalls, dass der
entsprechende Vertragsarzt nach einiger Zeit nicht mehr in der Lage ist, am allgemeinen
ärztlichen Notfalldienst teilzunehmen. Denn bei der Sicherstellung eines ausreichenden
Not- und Bereitschaftsdienstes handelt es sich nach der ständigen Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (BSG) um eine gemeinsame Aufgabe der Vertragsärzte, die nur
erfüllt werden kann, wenn alle zugelassenen Ärzte unabhängig von der
Fachgruppenzugehörigkeit oder sonstigen individuellen Besonderheiten und ohne
Bevorzugung oder Benachteiligung einzelner Personen oder Gruppen gleichmäßig
herangezogen werden (BSGE 33, 165, 166; 14, 252, 257 ff.; Urteil vom 18.10.1995 - 6
RKa 66/94).
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Die Kostenentscheidung erfolgt aus §§ 197a SGG i.V.m. § 154, 155 VwGO.
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Anlass die Revision zuzulassen, hat nicht bestanden, weil die Voraussetzung des § 160
SGG nicht vorliegen.
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