Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 07.04.2006

LSG NRW (mutter, gesetzliche vermutung, wohnung, umfang, beschwerde, sgg, schwester, verordnung, unterkunftskosten, höhe)

Landessozialgericht NRW, L 19 B 6/06 AS ER
Datum:
07.04.2006
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 19 B 6/06 AS ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Detmold, S 9 AS 204/05 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des
Sozialgerichts Detmold vom 02.01.2006 geändert. Die Antragsgegnerin
wird verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen in Höhe von 345,- EUR
monatlich für den Zeitraum von November 2005 bis Februar 2006
vorläufig zu erbringen. Im Übrigen wird die Beschwerde
zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt 3/5 der erstattungsfähigen
außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
Gründe:
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Die zulässige Beschwerde, der das Gericht nicht abgeholfen hat (Beschluss vom
20.03.2006), ist im tenorierten Umfang begründet, im Übrigen unbegründet.
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Die Beschwerde richtet sich zulässigerweise gegen den Kreis, da dieser als
Prozessstandschafter richtiger Antragsgegner ist (Beschluss des Senats vom
20.02.2006 - L 19 B 118/05 AS ER).
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Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten Regelungsanordnung nach § 86 b
Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG - sind nur hinsichtlich eines Anspruches der
Antragstellerin auf die Regelleistungen nach § 20 Sozialgesetzbuch Zweites Buch -
Grundsicherung für Arbeitsuchende, SGB II -, nicht jedoch hinsichtlich des Anspruches
auf Übernahme ihrer Unterkunftskosten aus § 22 SGB II nach dem sich aus § 86b Abs. 2
Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Zivilprozessordnung - ZPO - ergebenden Maßstab
glaubhaft gemacht.
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Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf einstweilige Zuerkennung von
Regelleistungen nach § 20 SGB II. Denn insoweit sind sowohl Anordnungsgrund
(Eilbedürftigkeit einer Regelung) als auch Anordnungsanspruch (materiellrechtlicher
Anspruch auf die begehrte Leistung) glaubhaft gemacht.
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Eilbedürftigkeit ergibt sich aus der Mittellosigkeit der Antragstellerin, die über keine
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laufenden Einkünfte verfügt und deren Barmittel nach den vorgelegten Kontoauszügen
weitgehend erschöpft sind, sowie aus dem drohenden Verlust ihres
Krankenversicherungsschutzes.
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts im angefochtenen Beschluss steht der
Annahme eines Anordnungsgrundes nicht der Umstand entgegen, dass die
Antragstellerin Leistungen in Form von Lebensmitteln von ihrer Mutter und ihrer
Schwester erhält. Dies folgt bereits aus der gesetzlichen Zielbestimmung, wonach die
Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts insbesondere Ernährung, Kleidung,
Körperpflege, Hausrat, Bedarfe des täglichen Lebens sowie in vertretbarem Umfang
auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben umfasst (§ 20
Abs. 1 Satz 1 SGB II). Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende dienen der
Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung ist eine
verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutze der
Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt (vgl.
Bundesverfassungsgerichtsentscheidung - BverfGE 82,60, 80). Die grundrechtlichen
Anforderungen an den effektiven Rechtsschutz bedingen, dass auch bei komplexem
Sachverhalt und bestehendem weiteren Aufklärungsbedarf ein Eilantrag nicht ohne
umfassende Güter- und Folgenabwägung abgelehnt werden darf
(Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05).
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Zur Überzeugung des Senats kann nach vorstehenden Maßstäben die Antragstellerin
vorläufig nicht auf die Inanspruchnahme von Unterstützungsleistungen ihrer Mutter
verwiesen werden. Zwar stellt § 9 Abs. 5 SGB II die gesetzliche Vermutung auf, dass
Hilfebedürftige von Verwandten in einem nach deren Verhältnissen zumutbaren Umfang
mit unterhalten werden, wenn sie in einem gemeinsamen Haushalt leben. Vorliegend
besteht aber schon die Besonderheit, dass die Antragstellerin grundsätzlich über eine
eigene abgeschlossene Wohnung im Hause ihrer Mutter verfügt und nur während der -
wenngleich schon längere Zeit andauernden - Phase der Sanierung ihrer eigenen
Wohnung in der Wohnung ihrer Mutter schläft und sich dort wohl auch überwiegend
aufhält. Vor allem fehlt es aber bisher an ausreichenden tatsächlichen Feststellungen für
die Annahme der Antragsgegnerin, die Antragstellerin und ihre Mutter führten einen
gemeinsamen Haushalt im Sinne einer Wirtschaftsgemeinschaft. Vielmehr berichtete
der Soziale Dienst nach einem von der Antragsgegnerin veranlassten Hausbesuch (vgl.
Bericht vom 09.11.2005 - Bl. 70 VA), die Antragstellerin, ihre Schwester und deren Sohn
sowie ihre Mutter wirtschafteten jeweils für sich alleine und bildeten keine
Haushaltsgemeinschaft. Da somit nicht festgestellt werden kann, dass mit der Mutter
eine Haushaltsgemeinschaft besteht, greift die Vermutung des § 9 Abs. 5 SGB II nicht
ein. Der Senat kann es deshalb auch dahingestellt sein lassen, in welchem Umfang
Leistungen nach den Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Mutter erwartet
werden könnten (§ 1 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen
sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld
II / Sozialgeld - Alg II - Verordnung - vom 20.10.2004 in der Fassung der Änderung durch
Verordnung vom 22.08.2005 [BGBl. I Seite 2499]).
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Hinweise auf eine tatsächliche Erbringung von Unterhaltsleistungen in der Zeit ab
November 2005 finden sich nicht. Im Gegenteil hat die Mutter der Antragstellerin mit
Erklärung vom 27.11.2005 "an Eides statt" versichert, ihre Tochter nicht finanziell zu
unterstützen.
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Ein Anspruch der Antragstellerin auf einstweilige Zuerkennung von Unterkunftskosten
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nach § 22 SGB II ist dagegen nicht glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin gibt insoweit
einen Bedarf von 249,- EUR für Grundmiete und 215,- EUR für Nebenkosten inclusive
Heizung an. Hinsichtlich der Grundmiete fehlt es bereits an der Glaubhaftmachung
eines Anordnungsgrundes, da bislang keine Belege über Mietzahlungen der
Antragstellerin an ihre Mutter vorliegen. Zweifel bestehen aber auch bezüglich der
angegebenen Höhe der Nebenkosten, deren Zahlung durch Vorlage von
Kontoauszügen nachgewiesen ist. Denn die Höhe des monatlichen
Überweisungsbetrages wäre erst dann plausibel, wenn sie in einen nachvollziehbaren
Zusammenhang mit den gesamten Fixkosten des Hauses E-straße 0 gebracht würden,
d.h. der Aufteilungsschlüssel für die drei Wohnungen (der Schwester der Antragstellerin,
ihrer Mutter und ihrer eigenen Wohnung) offen gelegt wäre. Hieran fehlt es bislang
gänzlich.
Auf jeden Fall ist auch nach Auffassung des Senats ein Anordnungsgrund hinsichtlich
der Kosten der Unterkunft nicht glaubhaft gemacht. Denn die Unterkunft der
Antragstellerin - insoweit folgt der Senat dem angefochtenen Beschluss - erscheint
durch ihre Aufnahme in die Wohnung der Mutter gesichert.
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Der Senat hat den Zeitraum dieser Anordnung begrenzt auf die Zeit vom Monat der
Antragstellung beim Sozialgericht bis zum Monat der Senatsentscheidung. Dies
entspricht dem Grundgedanken des einstweiligen Rechtsschutzes, einer gegenwärtigen
Notlage abzuhelfen. Hierbei geht der Senat davon aus, dass die Antragsgegnerin die
diesem Beschluss zu entnehmenden Überlegungen auch bis zur Entscheidung in der
Hauptsache zugrunde legen wird.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG in entsprechender Anwendung.
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Die vorgenommene Kostenquotelung entspricht in etwa dem Maß des anteiligen
Obsiegens, weil der Antrag nur hinsichtlich der Regelleistungen, nicht hinsichtlich der
Unterkunftskosten Erfolg gehabt hat.
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Dieser Beschluss ist endgültig, § 177 SGG.
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