Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 25.03.2010

LSG NRW (vorläufiger rechtsschutz, beschwerde, sgg, umfang, entbindung, leistungsausschluss, durchführung, buch, zpo, ergebnis)

Landessozialgericht NRW, L 7 AS 328/10 B
Datum:
25.03.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 7 AS 328/10 B
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 4 AS 518/10 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerden der Antragstellerin wird der Beschluss des
Sozialgerichts Köln vom 22.02.2010 geändert.
Die Antragsgegnerin wird einstweilen verpflichtet, der Antragstellerin die
Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes gemäß § 20 Abs. 2
SGB II für die Zeit vom 08. Februar 2010 bis zum 31. Mai 2010 zu
gewähren.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragstellerin
wird für die Durchführung des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vor
dem Sozialgericht Köln sowie für die Durchführung des
Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von
Rechtsanwältin U aus L bewilligt.
Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der
Antragstellerin für beide Rechtszüge zu 3/4.
Gründe:
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Die Beschwerden der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG)
Köln vom 22.02.2010 sind zulässig und überwiegend begründet.
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1. Die Beschwerde der Antragstellerin hat Erfolg, soweit das SG ihren Antrag auf
vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz in vollem Umfang abgelehnt hat.
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a) Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen
auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher
Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen
Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d. h. des materiellen
Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines
Anordnungsgrundes, d. h. die Unzumutbarkeit voraus, bei Abwägung aller betroffenen
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Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Können ohne die
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht
abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht
mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur
summarisch, sondern abschließend zu prüfen. Scheidet eine vollständige Aufklärung
der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der
Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu
entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -, BVerfGK 5, 237 =
NVwZ 2005, Seite 927).
b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze war der Antragstellerin im tenorierten
Umfang die Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes gemäß § 20 Abs. 2
Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) einstweilen, d.h. vorläufig zu gewähren.
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aa) Die Antragstellerin ist niederländische Staatsangehörige. Von dem Leistungssystem
des SGB II dürfte sie nach dem nationalen Recht ausgeschlossen sein.
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Denn die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ordnet an, dass Ausländer, deren
Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, von dem System des
SGB II ausgeschlossen sind. Nach bisherigem Erkenntnisstand dürfte dies der Fall sein.
Daran dürfte der Umstand nichts ändert, dass die Antragstellerin nach ihren Angaben
(auch) eingereist ist, um mit ihrem, nach Roma-Sitte verheirateten und noch
minderjährigen Mann zusammenzuleben, worauf die Antragsgegnerin zu Recht mit
Schriftsatz vom 25.03.2010 hingewiesen hat. Die abschließende Prüfung bleibt dem
sozialgerichtlichen Hauptsacheverfahren vorbehalten.
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Es ist allerdings zweifelhaft, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2
SGB II mit den europarechtlichen Vorgaben zu vereinbaren ist. Denn (jedenfalls) Alt-EU-
Bürger wie die Antragstellerin sind u.a. als Arbeitsuchende insbesondere aufgrund der
Diskriminierungsverbote des Art. 39 Abs. 2 EG-Vertrag sowie des in der
Niederlassungsfreiheit enthaltenen Grundsatzes der Inländergleichbehandlung des Art.
43 EG-Vertrag in Verbindung mit einem unbeschränkten Aufenthaltsrecht in Bezug auf
die Gewährung eines Existenzminimums zu ihrer sozialen Sicherheit im Ergebnis nicht
mehr auf ihren Heimatmitgliedstaat angewiesen (hierzu statt anderer Daiber, VSSR
2009, S. 299 ff., bes. 329 m.w.N.).
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Für den Anwendungsbereich des SGB II wird daraus hergeleitet, dass der kategorische
Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit diesen europarechtlichen
Vorgaben nicht vereinbar sei, insbesondere weil das nationale Recht entgegen der
Vorgaben der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) nicht danach
differenziert habe, ob der Hilfebedürftige eine tatsächliche Verbindung mit dem
Arbeitsmarkt des Aufnahmestaates hergestellt hat (vgl. exempl. Husmann, NZS 2009, S.
652, 656; Kunkel/Frey, ZFSH/SGB 2009, S. 387, 393; jeweils m.w.N. auch zur
Gegenauffassung), bzw. allein eine vollziehbare Ausreisepflicht einen derartigen
Leistungsausschluss rechtfertigen könne (so Schreiber, info also 2009. S. 195, 198 f.
m.w.N.).
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bb) Diese Rechtsfrage konnte der Senat angesichts der Eilbedürftigkeit im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren nicht abschließend klären. Denn die Antragstellerin hat unter
Vorlage einer ärztlichen Bescheinung glaubhaft gemacht, dass der errechnete
Entbindungstermin unmittelbar bevorsteht (04.04.2010). Der Senat hat entsprechend der
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wiedergegebenen Rechtsprechung des BVerfG deshalb auf der Grundlage einer an der
Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung entschieden.
Dies Folgenabwägung führte zu einer einstweiligen Leistungsverpflichtung der
Antragsgegnerin im tenorierten Umfang. Der Senat hat sich hierbei maßgeblich davon
leiten lassen, dass die Entbindung der Antragstellerin unmittelbar bevorsteht und diese
Situation einen bestehenden Krankenversicherungsschutz erfordert. Dies gilt umso
mehr, als bei der Antragstellerin nach der vorgelegten fachärztlichen Bescheinigung
vom 23.03.2010 eine Risikoschwangerschaft vorliegt, und deshalb "CTG und Betreuung
bis zur Geburt erbeten" wird. Der Senat hatte sich schützend vor die Grundrechte der
Antragstellerin sowie des ungeborenen Lebens aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 1
Abs. 3 Grundgesetz (GG) zu stellen.
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Entgegen der Rechtsauffassung der Antragsgegnerin scheidet die Inanspruchnahme
anderer Sozialleistungsträger im einstweiligen Rechtssschutzverfahren wegen der
dargestellten Eilbedürftigkeit aus: Die Krankenversicherung B teilte auf telefonische
Nachfrage mit, dass die Anerkennung einer Versicherungspflicht gemäß § 5 Abs. 1 Nr.
13 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) nach dortigem Verständnis u.a. eine
Bescheinigung der Ausländerbehörde über den Krankenversicherungschutz in den
Niederlanden voraussetzt. Das Sozialamt der Stadt L hat auf die Nachrangigkeit der
Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) hingewiesen. Dies ist
den Beteiligten jeweils mitgeteilt worden.
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Der Hinweis der Antragsgegnerin, dass ein Krankenhaus eine Notfallbehandlung der
Antragstellerin rechtlich nicht ablehnen darf, ändert nichts an der glaubhaft gemachten
Eilbedürftigkeit. Denn es ist angesichts der Bedeutung des hier betroffenen Grundrechts
aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zur Überzeugung des Senats in der konkreten Situation der
Antragstellerin rechtlich nicht vertretbar, die zwischen den Beteiligten nicht streitige
Notwendigkeit, der 18 jährigen und nicht krankenversicherten Antragstellerin angesichts
ihrer bevorstehenden Entbindung eine Krankenbehandlung (Primaranspruch)
zukommen zu lassen, im Ergebnis zu "privatisieren", in dem das Krankenhaus in
Anspruch genommen und dieses sodann auf Kostenersatzansprüche
(Sekundäransprüche) verwiesen wird.
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c) Die Antragstellerin hat damit glaubhaft gemacht, dass sie einer medizinischen
Krankenbehandlung bedarf sowie ihre Bedarfe des täglichen Lebens nicht aus eigenen
Kräften bestreiten kann (§ 9 Abs. 1 SGB II). Der Senat hat die Antragsgegnerin daher im
tenorierten Umfang zur vorläufigen Erbringung der Regelleistung (§ 20 Abs. 2 SGB II)
verpflichtet für die Zeit ab Antragstellung vor dem SG Köln, der zugleich die gesetzliche
Krankenversicherungspflicht der Antragstellerin auslöst (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 a SGB V). Die
Antragsgegnerin wird dafür Sorge zu tragen haben, dass dies tatsächlich auch zeitnah
umgesetzt wird. Hinsichtlich des Leistungsendes hat der Senat sich an dem Ablauf der
gesetzlichen Mutterschutzfristen (acht Wochen nach Entbindung) orientiert (vgl. LSG
Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.06.2009, L 9 B 100/08 AS ER), ausgehend von
dem errechneten Geburtstermin (04.04.2010).
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d) Hinsichtlich der Leistungen für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II) hat die
Antragsstellerin hingegen weder Anordnungsanspruch noch -grund glaubhaft gemacht,
weil sie bereits nicht vorgetragen bzw. glaubhaft hat, welche konkreten Kosten ihr
insoweit entstehen. Ihre Beschwerde war deshalb insoweit zurückzuweisen.
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2. Die Beschwerde der Antragstellerin ist begründet, soweit das SG ihren Antrag auf
Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer verfahrensbevollmächtigten
Rechtsanwältin für das dortige einstweilige Rechtsschutzverfahren abgelehnt hat. Denn
die Rechtsverfolgung der Antragstellerin, die die Kosten ihrer Rechtsverfolgung nicht
aufbringen kann, bot aus den dargestellten Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg (§
73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO)).
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Aus diesem Grund war der Antragstellerin auch Prozesskostenhilfe für die Durchführung
des Beschwerdeverfahrens zu gewähren (§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 114, § 119
Abs. 1 Satz 1 ZPO).
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3. Soweit die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde die Ablehnung ihres Antrags auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung angegriffen hat, folgt die Kostenentscheidung aus
einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und gibt das Verhältnis des
Obsiegens zum Unterliegen wieder. Der Senat hat dabei berücksichtigt, dass die
Sicherstellung eines Krankenversicherungsschutzes angesichts der bevorstehenden
Entbindung im Mittelpunkt des Begehrens der Antragstellerin stand.
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Soweit sich die Beschwerde der Antragstellerin gegen die Ablehnung ihres Antrages
auf Prozesskostenhilfe richtet, werden Kosten im Beschwerdeverfahren nicht erstattet (§
73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).
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4. Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht angreifbar (§ 177 SGG).
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