Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14.04.2003

LSG NRW: aufschiebende wirkung, überwiegendes öffentliches interesse, vollziehung, auflage, zugang, vollzug, interessenabwägung, warnung, abrechnung, wiedergabe

Landessozialgericht NRW, L 10 B 8/03 KA ER
Datum:
14.04.2003
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
10. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 10 B 8/03 KA ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 33 KA 9/03 ER
Sachgebiet:
Vertragsarztrecht
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des
Sozialgerichts Düsseldorf vom 31.01.2003 abgeändert. Die
aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen S 33 KA 10/03
anhängigen Klage gegen den Beschluss des Disziplinarausschusses
bei der Antragsgegnerin vom 18.12.2002 wird für die Zeit vom
01.02.2003 bis zum 31.05.2003 angeordnet. Im übrigen wird die
Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsteller hat 1/3 der
erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragsgegnerin für
das Verfahren S 33 KA 9/03 KA ER und das Beschwerdeverfahren zu
tragen. Die Antragsgegnerin hat 2/3 der erstattungsfähigen
außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das Verfahren S 33 KA
9/03 KA ER und das Beschwerdeverfahren zu tragen.
Gründe:
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Die statthafte und im übrigen zulässige Beschwerde ist im tenorierten Umfang
begründet. Nach § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag
in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende
Wirkung haben, die aufschiebenden Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Das
Gericht entscheidet nach Ermessen aufgrund einer Interessenabwägung (Meyer-
Ladewig, SGG, 7. Auflage, § 86 b Rdn. 12). Hiernach ist die aufschiebende Wirkung
anzuordnen, wenn das Interesse des belasteten Adressaten überwiegt. Anderenfalls
verbleibt es beim Ausschluß der aufschiebenden Wirkung. Abzuwägen sind dabei die
Folgen, die eintreten würden, wenn die aufschiebende Wirkung angeordnet wird und
der Rechtsbehelf letztlich doch keinen Erfolg hätte gegenüber den Nachteilen, die
entstehen, wenn die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet wird und der
Rechtsbehelf letztlich Erfolg hätte. In die Abwägung ist auch einzubeziehen, ob und
inwieweit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung irreparable Folgen hat. Ferner
sind die mit dem Gesetz verfolgten Ziele einzubeziehen und mit den Interessen des
Betroffenen abzuwägen (vgl. Meyer-Ladewig aaO § 86 a Rdn. 20). Schließlich sind
auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs zu berücksichtigen. Bestehen ernstliche
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Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes, kann dies für die Anordnung der
aufschiebenden Wirkung sprechen (vgl. auch § 86 a Abs. 3 Satz 2 SGG). An der
Vollziehung offensichtlich rechtswidriger Verwaltungsakte besteht kein öffentliches
Interesse; vielmehr überwiegt dann das Interesse an der Herstellung der
aufschiebenden Wirkung. Anderseits liegt ein überwiegendes öffentliches Interesse am
Ausschluß der aufschiebenden Wirkung dann vor, wenn der angefochtene
Verwaltungsakt ersichtlich rechtmäßig ist (Senatsbeschluß vom 15.01.2003 - L 10 B
22/02 KA ER -; vgl. auch Begründung zum 6. SGG-ÄndG BT-Drucks. 14/5943 zu Nr.
34). Ausgehend von diesen Grundsätzen ergibt sich: Die Antragsgegnerin hat durch den
bei ihr eingerichteten Disziplinarausschuß (im Folgenden: Antragsgegnerin) mit
Beschluss vom 18.12.2002 das Ruhen der Zulassung des Antragstellers wegen
Verletzung seiner vertragsärztlichen Pflichten durch fortwährende Verstöße gegen das
Gebot der wirtschaftlichen Leistungserbringung während der Quartale III/OO bis III/02 für
die Zeit von 6 Monaten vom 01.02.2003 bis 31.07.2003 angeordnet. Darüber hinaus hat
die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung der Ruhensverfügung angeordnet. Nach
§ 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG darf die sofortige Vollziehung nur mit schriftlicher Begründung
des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung angeordnet werden. Das
öffentliche Interesse an sofortiger Vollziehung ist mehr als das für den Erlaß des
Verwaltungsaktes erforderliche Interesse. Notwendig ist ein zusätzliches öffentliches
Interesse am sofortigen Vollzug, so dass die gesetzlichen Voraussetzungen für den
Erlaß des Verwaltungsaktes nicht zur Begründung der Anordnung der Vollziehung
ausreichen (Meyer-Ladewig, § 86a Rdn. 20; Düring, Berliner Kommentar, SGG, 1.
Auflage 2003, § 86a Rdn. 3; Kopp, VwGO, 12. Auflage, § 80 Rdn. 84 ff). Auf dieser
Grundlage ist das Sozialgericht (SG) zum Ergebnis gelangt, dass die Antragsgegnerin
kein besonderes öffentliches Interesse dargelegt habe. Die Antragsgegnerin habe den
Sofortvollzug allein damit begründet, dass angesichts eines über Jahre fortgesetzten
unwirtschaftlichen Verhaltens damit zu rechnen sei, dass dies auch in Zukunft
geschehen werde, wenn dem Antragsteller nicht durch den sofortigen Vollzug der
Ruhensanordnung die Pflichtwidrigkeit eindringlich vor Augen gehalten werde. Damit
sei nur die Frage angesprochen, welche Disziplinar-maßnahme geboten sei, nicht
jedoch die Frage des für die Anordnung des Sofortvollzugs erforderlichen besonderen
öffentlichen Interesses.
Diese Erwägungen rechtfertigen es zur Überzeugung des Senats nicht, den
Sofortvollzug in vollem Umfang aufzuheben. Denn einer gesonderten Begründung
bedarf es nicht, wenn sich bereits aus der Begründung des zu vollziehenden
Verwaltungsaktes die besondere Dringlichkeit ergibt und die von der Behörde getroffene
Interessenabwägung klar und erkennbar ist (Kopp aaO § 80 Rdn. 86 m.w.N.; Meyer-
Ladewig aaO § 86 a Rdn. 21 m.w.N.). So liegt es hier. Ausweislich des Beschlusses
vom 18.12.2002 sind seit dem Quartal 111/1993 regelmäßig Unwirtschaftlichkeiten
festgestellt und Honorarkürzungen ausgesprochen worden. Sämtliche
Kürzungsbescheide seit jedenfalls IV/1997 sind bestandskräftig geworden. Ein
Beratungsgespräch mit Hinweis auf disziplinarische Maßnahmen hat die
Antragsgegnerin am 28.10.1999 mit dem Antragsteller geführt. Darüber hinaus ist dem
Antragsteller in den Kürzungsbescheiden mitgeteilt worden, dass fortgesetzte
Unwirtschaftlichkeit der Behandlungs- und Verordnungsweise zu disziplinarischen
Maßnahmen führen könne. Die Antragsgegnerin (Disziplinarausschuß) hat u.a. hieraus
hergeleitet, dass der Antragsteller vorsätzlich Vertragspflichten verletzt habe und es trotz
der Mahnungen auf die Kürzungen habe ankommen lassen, um sich den Vorteil der
überhöhten Abrechnung zunächst zu verschaffen. Selbst den Entziehungsbeschluß vom
18.02.1998 habe der Antragsteller sich nicht zur Warnung dienen lassen und seine
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bisherige unwirtschaftliche Verhaltensweise fortgeführt. Hieraus hat die
Antragsgegnerin hergeleitet, dass der Antragsteller fortlaufend vorsätzlich gegen
Vertragspflichten verstoßen hat und seine bisherige Verhaltensweise ohne
Disziplinarmaßnahme fortsetzen wird. Dann aber ist es nicht nur folgerichtig sondern
nahezu geboten, wenn die Antragsgegnerin mittels Anordnung des Sofortvollzugs als
ultima ratio versucht, den Antragsteller eindringlich darauf hinzuweisen, dass er seine
Pflichten nunmehr umgehend einzuhalten hat. Diese Erwägungen finden sich in der
Begründung des Sofortvollzugs wieder. Die Begründung ist zwar denkbar knapp
gefasst, sie beschränkt sich jedoch nicht auf eine schlichte Wiedergabe des
Gesetzestextes. Namentlich enthält sie Erwägungen, die über die Voraussetzungen für
die Ruhensanordnung als solche hinausgehen und damit im Zusammenhang mit den
Ausführungen unter III a.E. des Beschlusses vom 18.12.2002 die Anordnung des
Sofortvollzugs tragen und auch als noch hinreichende Begründung anzusehen sind.
Dennoch begrenzt der Senat den Sofortvollzug auf die Zeit vom 01.06.2003 bis
31.07.2003. Dem liegt zugrunde: Der Ruhensbeschluß ist am 18.12.2002 in Gegenwart
des Bevollmächtigten des Antragstellers verkündet worden. Dem Antragsteller wären
damit knapp sechs Wochen verblieben, um seine Patienten und die organisatorischen
Praxisabläufe auf die am 01.02.2003 beginnende Ruhenszeit einzustellen. Wird auf den
Zugang des Beschlusses am 16.01.2003 bei den Bevollmächtigten des Antragstellers
abgestellt, verbleiben gar nur zwei Wochen bis zum Beginn des Ruhenszeitraums.
Beides sieht der Senat als nicht zumutbar an. Den (behaupteten) jahrelangen
Pflichtenverstößen des Antragstellers hätte bereits früher nachgegangen werden
müssen. Daß diese über einen langen Zeitraum faktisch geduldet worden sind, ist
schwer nachvollziehbar. Werden die disziplinarrechtlichen Instrumentarien indes - wie
hier - dennoch zeitverzögert eingesetzt, besteht kein Anlaß, dem pflichtwidrig
handelnden Vertragsarzt die Möglichkeit zu nehmen, seine Praxis mit angemessenem
zeitlichen Vorlauf auf das Ruhen einzustellen. Soweit dem Antragsteller mit Zugang
dieses Beschlusses gleichermaßen nur ca. 6 Wochen bis zum Eintritt des Ruhens der
Zulassung verbleiben, ist dies hinnehmbar. Denn der Antragsteller konnte jedenfalls seit
Bekanntgabe des Beschlusses der Antragsgegnerin vom 18.12.2002 nicht mehr darauf
vertrauen, dass der angeordnete Sofortvollzug aufgehoben wird. Die
Kostenentscheidung folgt aus § 197 a SGG in Verbindung mit § 154 VwGO. Dieser
Beschluss ist nicht anfechtbar (§177 SGG).
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