Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 30.08.2006

LSG NRW: verleiher, arbeitsausfall, arbeitskampf, auflage, vergütung, arbeitsrecht, arbeitskraft, streik, anzeige, unternehmen

Landessozialgericht NRW, L 12 AL 168/05
Datum:
30.08.2006
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 12 AL 168/05
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 25 (13) AL 244/04
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 11a AL 159/06 B
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des
Sozialgerichts Düsseldorf vom 09.06.2006 geändert. Die Klage wird
abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
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Streitig ist die Bewilligung von Kurzarbeitergeld (Kug). Die Klägerin betreibt
gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung und eine unselbständige Niederlassung in
E. Diese hatte der T E GmbH, die für die W Aktiengesellschaft (W AG) in deren Werk in
E die gesamte Disposition und Teilelieferung für die Endmontage abwickelte,
Arbeitnehmer überlassen. Wegen streikbedingter Blockademaßnahmen konnte die T
GmbH im Juni 2003 ihre Logistikleistungen nicht erbringen und die Mitarbeiter der
Klägerin vom 09.06. bis 27.06.2003 nicht einsetzen. Am 20.06.2003 zeigte die Klägerin
den Arbeitsausfall für die Zeit vom 09. bis 30.06.2003 bei der Beklagten an und
beantragte Kug.
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Mit Bescheid vom 24.06.2003 lehnte die Beklagte die Bewilligung von Kug auf die
Anzeige über Arbeitsausfall infolge der mittelbaren Auswirkungen von Streikhandlungen
ab. Den Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 04.11.2003 zurück. Zur
Begründung führte sie aus, bei einem Arbeitskampf im Betrieb des Entleihers stehe dem
Leiharbeitnehmer das Recht aus § 11 Abs. 5 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG)
zu, wonach der Leiharbeitnehmer im Arbeitskampf im Betrieb des Entleihers nicht
verpflichtet sei, beim Entleiher tätig zu sein. Daraus erwachse dem Verleiher das Recht,
den Leiharbeitnehmer anderweitig einzusetzen. Sei dies nicht möglich, sei der
Arbeitgeber dennoch zur Lohnzahlung im Sinne von § 615 Bürgerliches Gesetzbuch
(BGB) verpflichtet.
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Am 03.12.2003 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Dresden Klage erhoben, die
durch Beschluss vom 27.04.2004 an das örtlich zuständige SG Düsseldorf verwiesen
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worden ist. Die Klägerin hat ihr Begehren auf Bewilligung von Kug weiter verfolgt und
dabei die Ansicht vertreten, § 615 BGB treffe nur eine Regelung zum allgemeinen
Betriebsrisiko, beim Arbeitskampfrisiko seien jedoch andere Maßstäbe anzulegen.
Außerdem regele auch ein jeweils entsprechender Passus in den Arbeitsverträgen der
betroffenen Mitarbeiter die entfallende Lohnzahlungspflicht bei Arbeitskämpfen. Zudem
sei es unzumutbar gewesen, die Arbeitnehmer anderweitig einzusetzen, da die
Leiharbeitnehmer für die T GmbH sofort hätten abrufbar gewesen sein müssen. Sofern
anderweitige Einsatzmöglichkeiten nicht vorhanden seien, entfalle der Entgeltanspruch.
Die Klägerin hat beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 24.06.2003 in der Fassung des Widerspruchsbe
scheides vom 04.11.2003 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin
Kug gemäß ihrem Antrag vom 19.06.2003 zu gewähren.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat die Ansicht vertreten, das Entgeltrisiko verbleibe bei der Klägerin, weil sie nach
anderen Einsatzmöglichkeiten hätte suchen müssen. Sofern dies nicht möglich sei,
trage der Verleiher grundsätzlich das Lohnrisiko nach den Grundsätzen der
Betriebsrisikolehre.
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Mit Gerichtsbescheid vom 09.06.2005 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung der
angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin antragsgemäß Kug zu gewähren. Auf
die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.
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Gegen den ihr am 22.06.2005 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am
15.07.2005 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, bei
gewerbsmäßiger Arbeitnehmerüberlassung stehe der Leiharbeitnehmer nur in einem
Arbeitsverhältnis mit dem Verleiher und nicht mit dem Entleiher. Die vertragliche
Verpflichtung des Leiharbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber sei im Kern nur
darauf beschränkt, seine Arbeitskraft diesem zur Verfügung zu halten. Zweckbestimmte
Dienste leiste er letztlich nur im Betrieb des Entleihers. Bei einem derart ausgestalteten
Arbeitsverhältnis gehöre es zum allgemeinen Wirtschaftsrisiko des
Verleihunternehmens, ob es die für es ständig bereit gehaltene Arbeitskraft des
Leiharbeitnehmers nutzen könne oder nicht. Da ein Entgeltanspruch des
Leiharbeitnehmers somit auch für Zeiten bestehe, in denen er seine Arbeitskraft bereit
halte, der Verleiher sie aber nicht nutzen könne, bestehe für ihn kein Anspruch auf Kug.
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Die Beklagte beantragt,
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den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Düsseldorf vom 09.06.2005 zu ändern und die
Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie hält den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid für zutreffend und stützt sich dabei auch
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auf ein von ihr im Berufungsverfahren vorgelegtes Gutachten von Prof. Dr. C. Auf den
Inhalt dieses Gutachtens vom September 2005 wird Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte verwiesen. Auf den Inhalt der "Kug"-Akte, der ebenfalls Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen ist, wird Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung ist begründet.
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Das SG hat die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide zu Unrecht
verurteilt, der Klägerin Kug zu bewilligen. Ein Anspruch der Arbeitnehmer der Klägerin
auf Kug für die Zeit vom 09. bis 30.06.2003 besteht entgegen der Auffassung des SG
nicht.
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Gemäß § 169 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) haben
Arbeitnehmer Anspruch auf Kug, wenn 1. ein erheblicher Arbeitsausfall mit
Entgeltausfall vorliegt, 2. die betrieblichen Voraussetzungen erfüllt sind, 3. die
persönlichen Voraussetzungen erfüllt sind und 4. der Arbeitsausfall der Agentur für
Arbeit angezeigt worden ist.
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Diese Voraussetzungen, die kumulativ gegeben sein müssen, sind vorliegend nicht
vollständig erfüllt. Zwar fehlt es neben der Anzeige gemäß Nr. 4 auch nicht am
erforderlichen nachträglichen Antrag gemäß § 323 Abs. 2 Satz 1 SGB III binnen der
Ausschlussfrist von 3 Monaten gemäß § 325 Abs. 3 SGB III. Denn der Widerspruch der
Klägerin vom 04.07.2003 gegen den ablehnenden Anerkennungsbescheid kann als
Antrag ausgelegt werden (vgl.: Niesel, SGB III, § 323 Randnr. 23 m.w.N.). Es kann
dahingestellt bleiben, ob die betrieblichen und persönlichen Voraussetzungen des
Anspruchs auf Kug gemäß den Nrn. 2 und 3 vorliegend erfüllt waren und insbesondere
kann offen bleiben, ob die wirksame Anordnung von Kurzarbeit als die immanente
Voraussetzung des Anspruchs auf Kug erfüllt ist. Insoweit gab die Klägerin in der
Arbeitsausfallanzeige an, mit den betroffenen Arbeitnehmern eine entsprechende
Vereinbarung getroffen zu haben. Es lag jedoch kein erheblicher Arbeitsausfall mit
Entgeltausfall (§ 169 Nr. 1 SGB III) bzw. zumindest kein Entgeltausfall vor, weil die
betroffenen Arbeitnehmer ihre Arbeitsentgeltansprüche gegen die Klägerin jedenfalls
nicht verloren haben, und zwar weder durch die oben dargelegte Vereinbarung über
Kurzarbeit noch durch die arbeitsvertragliche Vereinbarung in Nr. 4 der mit ihren
Arbeitnehmern geschlossenen Mitarbeiterverträge, wonach die Klägerin dann nicht zur
Zahlung verpflichtet bleibe, wenn die Nichtunterbringung (des Arbeitnehmers) im
Vertragsgebiet und damit die Unmöglichkeit einer Arbeitsleistung im Wesentlichen
durch einen Arbeitskampf bedingt sei.
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In Bezug auf Letzteres ist bereits nicht feststellbar, dass die Nichtunterbringung der
betroffenen Leiharbeitnehmer kausal durch den Arbeitskampf bei der W AG bedingt
gewesen sein könnte. Denn die Klägerin konnte ihre Arbeitnehmer wegen des Streiks
lediglich nicht bei der (mittelbar) betroffenen T GmbH unterbringen. Denn ansonsten war
eine Vielzahl anderer vertraglich vorgesehener, nicht durch den Streik bei der W AG
betroffener Beschäftigungsmöglichkeiten unzweifelhaft vorhanden, insbesondere weil
die gesamte Bundesrepublik Deutschland Vertragsgebiet war.
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Entscheidend dafür, dass die Arbeitsentgeltansprüche der Arbeitnehmer der Klägerin
nicht verloren gehen konnten bzw. die Klägerin zur Zahlung der Vergütung verpflichtet
blieb, ist jedoch, dass die arbeitsvertragliche Vereinbarung, nach der die Klägerin nicht
zur Lohnzahlung verpflichtet sei, wenn die Nichtunterbringung im Vertragsgebiet durch
einen Arbeitskampf bedingt sei, gemäß § 134 BGB nichtig ist. Die Vereinbarung
verstößt gegen das gesetzliche Verbot gemäß § 11 Abs. 4 Satz 2 1. Halbsatz AÜG
i.V.m. § 615 Satz 3, 1 BGB. Danach darf das Recht des Leiharbeitnehmers auf
Vergütung bei Annahmeverzug des Verleihers (§ 615 Satz 1 BGB) nicht durch Vertrag
aufgehoben oder beschränkt werden und bleibt dementsprechend der Verleiher
grundsätzlich zur Zahlung der Vergütung verpflichtet (vgl.: Feuerborn in: Schüren,
Kommentar, AÜG 2. Auflage, § 11 Randnrn. 91, 92 und 105; Wank in: Erfurter
Kommentar zum Arbeitsrecht, 3. Auflage, § 11 AÜG Randnr. 29). Dieses gesetzliche
Verbot gilt auch für den Fall, dass der Verleiher wegen eines Arbeitskampfes keine
Beschäftigungsmöglichkeiten in potentiellen Entleiherbetrieben für seine
Leiharbeitnehmer findet, weil dies grundsätzlich Teil seines Wirtschaftsrisikos ist und
die Vergütungspflicht auch in diesem Fall bestehen bleibt. Gegen diese in der Literatur
einhellig vertretene Auffassung (vgl.: Ulber, AÜG und Arbeitnehmer-Entsendegesetz,
Kommentar, § 11 Randnr. 82, 83; Feuerborn/Schüren a.a.O. Randnr. 106; Münchener
Handbuch zum Arbeitsrecht/Marschall, § 175 Randnr. 43; Kasseler Handbuch zum
Arbeitsrecht/Düwel, 4.5 Randnr. 399; Becker/Wulfgramm, AÜG, Kommentar, 3. Auflage,
Artikel 1 § 11 Randnr. 44; Sandmann/Marschall, AÜG, Kommentar, Artikel 1 § 11 Anm.
31), die der Senat für zutreffend erachtet, kann auch nicht erfolgreich ins Feld geführt
werden, dass das Bundesarbeitsgericht (BAG), in seinem Urteil vom 01.02.1973 - 5 AZR
382/72 - ausgeführt hat, dass etwas Anderes allenfalls dann gelten könnte, wenn infolge
eines Streiks sämtliche vertraglich vorgesehenen Beschäftigungsmöglichkeiten
wegfallen. Denn zum Einen waren - wie dargelegt - nicht sämtliche vertraglich
vorgesehenen Beschäftigungsmöglichkeiten infolge eines Streiks weggefallen und zum
Anderen betraf das genannte Urteil einen Sachverhalt und die Rechtslage vor
Inkrafttreten des AÜG am 12.10.1972, so dass sich das BAG schon deshalb nicht mit der
zwingenden Vorschrift des § 11 Abs. 4 Satz 2 AÜG auseinanderzusetzen brauchte.
Dagegen spricht auch nicht die Anmerkung von Becker zu diesem Urteil (NJW 1973,
1629 f.), der im Übrigen dem Urteil lediglich nicht in der Begründung, im Ergebnis aber
zustimmt. Denn darin wird lediglich eine fehlende dogmatische Begründung für die vom
BAG vorgenommene individualrechtliche Risikoabgrenzung bemängelt, jedoch
anerkannt, dass sich der Gesetzgeber (mit § 11 Abs. 4 Satz 2 AÜG) zwischenzeitlich
zugunsten des Leiharbeitnehmers für die individualrechtliche Zuordnung des
Lohnrisikos entschieden und § 615 Satz 1 BGB für unabdingbar erklärt habe.
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Auch das von der Klägerin vorgelegte Gutachten von Prof. Dr. X C führt zu keiner
anderen Beurteilung. Dem Gutachten kann nicht gefolgt werden. Es kann schon deshalb
nicht überzeugen, weil in ihm verkannt wird, dass es keinen nach § 615 BGB e n t s t a n
d e n e n Anspruch gibt. Denn § 615 BGB gibt keinen selbständigen Anspruch, sondern
bewirkt als Erfüllungsanspruch, dass der Vergütungsanspruch dem Dienstverpflichteten
erhalten bleibt. Das Gutachten überzeugt insbesondere aber deshalb nicht, weil es
außer Acht lässt, dass das Arbeitsverhältnis des Leiharbeitnehmers nur mit dem Ver-
leihunternehmen besteht und der Verleiher in Annahmeverzug gerät und damit das volle
Lohnrisiko trägt, wenn er den dienstbereiten Leiharbeitnehmer gemäß den vertraglich
vorgesehenen Beschäftigungsmöglichkeiten nicht einsetzen kann. Daher kann es
entgegen der Ansicht des Gutachters nicht darum gehen, "ob in der konkreten Situation
ein anderer wirtschaftlich sinnvoller und zumutbarer Arbeitseinsatz möglich gewesen
wäre". Es geht allein darum, dass es vorliegend keine Hinweise darfür gibt, dass alle
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vertraglich vorgesehenen Beschäftigungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer der Klägerin
infolge Streiks weggefallen waren (Palandt/Putzo, BGB, 64. Auflage, § 615 Randnr. 25
unter Hinweis auf BAG Urteil vom 01.02.1973). Das von der Klägerin vorgelegte
Gutachten kann schließlich auch deshalb nicht überzeugen, weil es jegliche
Auseinandersetzung mit den oben genannten einhelligen Literaturmeinungen
vermissen lässt.
Es kann auch kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz darin gesehen werden, dass den
Arbeitnehmern der T GmbH Kug von der Beklagten bewilligt wurde, den
Leiharbeitnehmern der Klägerin aber nicht. Denn der Gleichheitssatz nach Artikel 3
Grundgesetz gebietet nur, tatbestandlich Gleiches rechtlich gleich zu behandeln.
Dementsprechend ist nicht zu erkennen, dass die Klägerin als Unternehmen, das
gewerbsmäßig Arbeitnehmerüberlassung betreibt, mit der T GmbH, die als
Logistikunternehmen für die W AG die gesamte Disposition und Teilelieferung für die
Endmontage abwickelt, als Unternehmen im Wesentlichen gleich zu behandeln wären.
Denn allein der Umstand, dass die Klägerin wie die T GmbH mittelbar durch den Streik
bei der W AG betroffen war, rechtfertigt keine Gleichbehandlung.
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Nach alle dem war auf die Berufung der Beklagten die Klage abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen dafür nicht vorliegen (§
160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG).
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