Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 19.10.2000

LSG NRW: voraussetzung des leistungsanspruchs, verzinsung, gerichtlicher vergleich, fälligkeit, meinung, stillschweigend, nachzahlung, pflegebedürftigkeit, rechtsnachfolger, behörde

Landessozialgericht NRW, L 16 P 98/98
Datum:
19.10.2000
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
16. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
L 16 P 98/98
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 4 P 79/97
Sachgebiet:
Pflegeversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts
Düsseldorf vom 06. März 1998 geändert. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander für beide
Rechtszüge nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger als Rechtsnachfolger seines 1912
geborenen und 1999 verstorbenen Vaters ein Anspruch auf Zinsen aus
Pflegegeldleistungen für die Zeit vom 01.10.1996 bis zum 31.07.1997 zusteht.
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Der Vater des Klägers (nachfolgend: Versicherter) war bei der Beklagten bis zu seinem
Tode pflegeversichert. Im Juli 1995 beantragte er, ihm Pflegegeld aus der
Pflegeversicherung zu gewähren. Diesen Antrag lehnte die Beklagte zunächst mit
Bescheid vom 04.08.1995 und Widerspruchsbescheid vom 10.08.1995 ab; im
anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf - Az: S 34 P
173/96 - verpflichtete sich die Beklagte nach einer im Januar 1997 erfolgten
Begutachtung des Versicherten, diesem unter Anerkennung einer erheblichen
Pflegebedürftigkeit gemäß § 37 Abs. 1, Satz 3, Ziffer 1 des Elften Buchs des
Sozialgesetzbuchs - Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) für die Zeit ab dem
01.09.1996 Pflegegeld nach Stufe 1 (400 DM monatlich) zu gewähren - gerichtlicher
Vergleich vom 24.07.1997 -. Diesen Vergleich führte die Beklagte mit Bescheid vom
04.08.1997 aus; für die Zeit vom 01.09.1996 bis zum 31.08.1997 errechnete sie eine
Nachzahlung von 4.800 DM, die sie dem Versicherten am 08.08.1997 anwies.
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Den Antrag des Versicherten, die Nachzahlung entsprechend § 44 des Ersten Buchs
des Sozialgesetzbuchs - Allgemeiner Teil (SGB I) zu verzinsen, lehnte die Beklagte mit
Bescheid vom 18.08.1997 und Widerspruchsbescheid vom 17.10.1997 ab. Zur
Begründung führte sie aus, bei Abschluß eines Vergleichs bestehe nur ein Anspruch auf
das, was im Vergleichsvertrag vereinbart sei. Außergerichtliche Kosten und Zinsen
seien nur dann zu erstatten bzw. zu zahlen, wenn dies ausdrücklich im
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Vergleichsvertrag vereinbart worden sei.
Daraufhin hat der Versicherte am 03.11.1997 vor dem SG Klage er hoben, mit der er
Zinsen für die Zeit vom 01.10.1996 bis zum 31.07.1997 beansprucht hat. Er hat die
Auffassung vertreten, der ab dem 01.09.1996 bestehende Anspruch auf Pflegegeld sei
nach Ablauf eines Kalendermonats nach dem Eintritt der Fälligkeit (am 01.09.1996) zu
verzinsen, mithin ab dem 01.10.1996. Der Verzinsung ab diesem Zeitpunkt stehe nicht
die Vorschrift des § 44 Abs. 2 SGB I entgegen, wonach die Verzinsung frühestens nach
Ablauf von sechs Kalendermonaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrags
beim Leistungsträger beginne. Diese Frist sei schon Ende Januar 1996 abgelaufen.
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Der Versicherte hat beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.08.1997 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 17.10.1997 zu verurteilen, die gesetzlichen Zinsen mit
Wirkung ab 01.10.1996 zu zahlen.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat vorgetragen, dem Versicherten stehe kein Zinsanspruch zu, weil dessen
Anspruch erst durch den am 24.07.1997 geschlossenen Vergleich festgestellt worden
und demgemäß die Fälligkeit der Pflegegeldleistung in analoger Anwendung von § 44
SGB I erst zum 01.08.1997 eingetreten sei. Da sie vor Ablauf eines Monats nach
Fälligkeit, nämlich am 08.08.1997 gezahlt habe, stehe dem Versicherten kein
Zinsanspruch zu.
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Das SG hat der Klage durch Urteil vom 06.03.1998 stattgegeben und zur Begründung
im wesentlichen ausgeführt, dem Kläger stünden 4 % Zinsen für die Zeit vom
01.10.1996 bis zum 31.07.1997 nach § 44 Abs. 1 SGB I zu. Die Verzinsung beginne
einen Monat nach der am 01.09.1996 eingetretenen Fälligkeit. Frühestens habe die
Leistung sechs Monate nach Eingang des vollständigen Leistungsantrages bei der
Beklagten beginnen können (§ 44 Abs. 2 SGB I). Diese Frist sei im September 1996
bereits abgelaufen. Die Beklagte könne sich auch nicht auf § 44 Abs. 2, 2. Halbsatz
SGB I stützen. Denn Leistungen auf Pflegegeld seien nur auf (den hier 1995 gestellten)
Antrag zu gewähren.
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Auf das ihr am 11.05.1998 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 14.05.1998
Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt, der das SG mit Beschluss vom 29.06.1998
abgeholfen hat.
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Die Beklagte verfolgt mit ihrer Berufung ihre Auffassung weiter. Sie bezieht sich auf das
Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 30.01.1991 (in Sozialrecht -SozR- 3-1200, §
44 Nr. 3), wonach bei Abschluß eines Vergleichs über den streitigen Anspruch der
ursprüngliche Leistungsantrag erledigt sei. Demgemäß könne für die Beurteilung nur an
den (neuen) Bewilligungszeitpunkt zur Zeit des Vergleichs angeknüpft werden.
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Sie beantragt,
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das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 06.03.1998 abzuändern und die Klage
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abzuweisen.
Der nach dem Tode des Versicherten als Kläger in das Verfahren eingetretene
Alleinerbe des Versicherten beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
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Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
einverstanden erklärt. Wegen weiterer Einzelheiten nimmt der Senat Bezug auf den
Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten sowie der von den Beteiligten gewechselten
Schriftsätze. Auf den Inhalt der beigezogenen Streitakte des SG Düsseldorf - Az.: S 34 P
173/96 - wird gleichfalls verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die vom Sozialgericht zugelassene Berufung der Beklagten ist begründet.
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Dem Kläger steht als Rechtsnachfolger des Versicherten (§§ 56, 58 SGB I) kein
Anspruch auf Verzinsung des ab dem 01.09.1996 gewährten Pflegegeldes für die Zeit
vom 01.10.1996 bis zum 31.07.1997 zu.
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Der Anspruch ist allerdings nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil die Beteiligten
am 24.07.1997 einen Vergleich über die Leistungsgewährung (ab 01.09.1996)
geschlossen haben. Der Zinsanspruch ist durch diese Vereinbarung weder ausdrücklich
noch stillschweigend ausgeschlossen worden, wie schon das SG zutreffend betont hat.
Bei einer typischen Vergleichsfassung wie im vorliegenden Fall, in welchem sich die
Beteiligten über den Eintritt aller tatsächlichen Voraussetzungen, also auch der letzten
fehlenden Voraussetzung, des Leistungsanspruchs geeinigt haben, also eine
Bestimmung über den Leistungsbeginn getroffen haben, bleibt eine Entscheidung über
den Eintritt einer Verzinsung offen (vgl. dazu die von der Beklagten bereits genannte
Entscheidung des BSG in SozR 3-1200 § 44 Nr. 3; siehe zur Problematik auch BSG,
Urteil vom 27.11.1991, Az. 9a RV 29/90 = Juris-Dokument 20213; vgl. auch BSG SozR
1200 § 44 Nr. 14; BSG Urteilssammlung der Krankenkassen -USK- 86107). Weder aus
den früheren Schriftsätzen noch aus den Erklärungen der Beteiligten im
Verhandlungstermin vor dem Sozialgericht am 24.07.1997 läßt sich erkennen, daß ein
Zinsanspruch streitig gewesen sein sollte. Ersichtlich wollten sich die Beteiligten in der
Sache nur über den Leistungsbeginn einigen. Soweit Nebenforderungen - im weitesten
Sinne - ausgeglichen werden sollten, konnte allenfalls - wegen der gerichtlichen Kosten
- prozessual auf die Bestimmung des § 195 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)
zurückgegriffen werden. Entsprechende Regelungen für den Wegfall einer Verzinsung
finden sich nicht.
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Der Zinsanspruch richtet sich allein nach § 44 Abs. 1 und Abs. 2, 1. Halbsatz SGB I. Die
Voraussetzungen dieser Norm liegen jedoch nach Auffassung des Senats - im
Gegensatz zur Meinung des Sozialgerichts - nicht vor.
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Dem Anspruch steht entgegen der Meinung der Beklagten auch nicht das Fehlen oder
der Wegfall eines Leistungsantrags entgegen. Der Leistung lag nämlich ein seit
mindestens sechs Monaten existenter Antrag i.S.v. § 44 Abs. 2, 1. Halbsatz SGB I
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zugrunde, der bereits 1995 gestellt worden war und für den gesamten
Anspruchszeitraum fortgalt. Dieser Antrag ist auch nicht durch Abschluß des Vergleichs
stillschweigend entfallen. Denn er bildete weiterhin die materielle Grundlage für die
Leistungsbewilligung nach §§ 33 und 37 SGB XI. Im Gegensatz zur Auffassung des für
Soziale Entschädigungsfragen zuständigen 9. Senates des BSG hält der erkennende
Senat die Auffassung, daß infolge des Vergleichs der frühere Antrag - wohl wegen der
mit dem Vergleich akzeptierten ablehnenden Entscheidung für die Vergangenheit -
seine Wirksamkeit verloren habe (BSG a.a.O.; ähnlich wohl auch Hauck-Haines-
Freischmidt, Loseblatt-Kommentar zum SGB I, Stand 01.05.2000, § 44, Rand-Nr. 6 b für
vorzeitige Anträge; vgl. auch Benz in Die Sozialversicherung 1982, S. 29), nicht für
überzeugend.
Der Senat stützt sich dabei nicht nur auf den Wortlaut, sondern auch auf die Systematik
der Norm. Die Vorschrift des § 44 SGB I unterscheidet - im Gegensatz zur Auffassung
des BSG (a.a.O.), nicht zwischen Änderungen, die vorhersehbar sind, und solchen, die
nicht vorhersehbar sind. Sinn und Zweck der sechsmonatigen Frist des § 44 Abs. 2 SGB
I ist es, der Behörde eine ausreichende Frist zur Prüfung des Sachverhaltes, aber auch
zur geschäftsmäßigen Bearbeitung und Abwicklung zu geben. Dabei sind naturgemäß
sowohl vorhersehbare als auch unvorhersehbare oder noch nicht bewiesene
Tatbestandselemente zu beachten und zu berücksichtigen. In Kenntnis dieses
Umstandes hat der Gesetzgeber in § 44 SGB I aber keine Differenzierung nach
vorherzusehenden oder nicht vorherzusehenden Tatbestandselementen getroffen.
Vielmehr ist die Forderung nach einem vollständigen Antrag und die daran
anknüpfende, erst später und nicht sofort einsetzende Verzinsungspflicht der Beklagten
allein Ausdruck der dem Berechtigten obliegenden Pflicht zur Mitwirkung am Verfahren
(vgl. dazu etwa Kasseler Kommentar - Seewald, Stand April 2000, § 44 SGB I, Rand-Nr.
8 unter Hinweis auf die Mitwirkungspflichten aus § 60 SGB I). Hat aber der Berechtigte
alles in seiner Macht Stehende getan, um die Leistungspflicht des
Sozialleistungsträgers auszulösen, dann dürfen keine, über das Erfordernis des Antrags
hinausgehenden Hindernisse einer Leistungs- und Verzinsungspflicht entgegengestellt
werden.
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Zudem gehört der Umstand der Tatbestandserfüllung, also der Anspruchsentstehung,
zum Bereich der Umstände, die systematisch dem Begriff der "Fälligkeit" zuzuordnen
sind (vgl. § 41 SGB I), also lediglich die kürzere (Monats-)Frist des § 44 Abs. 1 SGB I
auslösen und begründen.
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Damit weicht der Senat zwar von der o.a. dargestellten Meinung des BSG ab; im
Ergebnis kommt er jedoch zum selben Ergebnis. Entscheidend ist nach Auffassung des
erkennenden Senats, daß der Normzweck des § 44 SGB I in Fällen wie dem
vorliegenden - trotz Erfüllung des Wortlauts - einer Verzinsung entgegensteht.
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Der zu verzinsende Anspruch mag zwar aufgrund des Anerkenntnisses der Beklagten
im Vergleich vom 24.07.1997 schon am 01.09.1996 als entstanden gelten. Jedoch
konnte zu diesem Zeitpunkt nach Sinn und Zweck der Verzinsungsregelung des § 44
SGB noch keine zinsbelastete Zahlungsverpflichtung der Beklagten entstehen. Denn im
September 1996 stand überhaupt nicht fest, daß dem Kläger ein Anspruch auf
Pflegegeld zustehen könnte. Wenn eine solche Feststellung erst durch die Beteiligten
im Juli 1997 übereinstimmend im Wege eines Vergleichs getroffen worden ist, so trägt
dies allein der unsicheren Beweis- und Prozeßsituation Rechnung, ob und wann die
einen Zahlungsanspruch nach § 37 SGB XI auslösende erhebliche Pflegebedürftigkeit
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entstanden sein sollte. Diese Frage ist bei Abschluß des Vergleichs letztlich
offengeblieben und ist erst bei Vergleichsabschluß durch gegenseitiges Nachgeben der
Beteiligten gelöst worden. Wenn aber die Bestimmung der Anspruchsentstehung erst
zur Beseitigung tatsächlicher oder rechtlicher Unklarheiten im Laufe des (gerichtlichen)
Verfahrens erfolgt, wäre es verfehlt, eine frühere Fälligkeit einsetzen zu lassen (ähnlich
zu Fragen einer Änderung der rechtlichen Grundlage: BSGE 56, 1 ff.).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
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Der Senat hat die Revision zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG), weil er in der
Begründung von der genannten Entscheidung des BSG abweicht und die aufgeworfene
Rechtsfrage zur Verzinsung nach Abschluß eines Vergleichs noch nicht abschließend
geklärt sieht.
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