Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 25.05.2010

LSG NRW (antragsteller, sgg, einstweilige verfügung, zpo, beschwerde, höhe, antrag, erlass, verfügung, www)

Landessozialgericht NRW, L 19 AS 504/10 B ER
Datum:
25.05.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 19 AS 504/10 B ER
Vorinstanz:
Sozialgericht Düsseldorf, S 44 AS 353/10 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des
Sozialgerichts Düsseldorf vom 08.03.2010 geändert. Der Antrag des
Antragstellers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird insgesamt
abgelehnt. Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten. Dem
Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe
unter Beiordnung von Rechtsanwalt L bewilligt.
Gründe:
1
Die Antragsgegnerin bewilligte dem Antragsteller zuletzt bis zum 30.11.2009
Grundsicherungsleistungen für Erwerbsfähige nach dem Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II) in Höhe des monatlichen Regelsatzes von 359,00 EUR und
der von ihr für angemessen erachteten Kosten der Unterkunft in Höhe von 324,86 EUR.
Nachdem der Antragsteller am 02.11.2009 in die Justizvollzugsanstalt X in N mit
voraussichtlichem Haftende am 01.07. bzw. 01.05.2010 eingewiesen worden war, hob
die Antragsgegnerin mit bestandskräftigem Bescheid vom 21.11.2009 die
Leistungsbewilligung auf.
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Der Antragsteller, der seit dem 11.11.2009 in der Justizvollzugsanstalt einer
Vollzeittätigkeit mit Beitragspflicht in der Arbeitslosenversicherung nachgeht und dem
die Möglichkeit der Aufnahme eines vollen Beschäftigungsverhältnisses auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt eingeräumt ist, beantragte am 03.12.2009 erneut die
Bewilligung von Leistungen und erneuerte diesen Antrag am 23.12.2009. Die Beklagte
lehnte die Gewährung von Leistungen ab, weil der Kläger nicht unter den üblichen
Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes tätig sei (Bescheide vom 21.12.2009 und
19.01.2010, Widerspruchsbescheid vom 28.01.2010).
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Der Antragsteller hat am 29.01.2010 beim Sozialgericht (SG) Düsseldorf die vorläufige
Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ab
dem 01.01.2010 begehrt. Er hat die Auffassung vertreten, als Strafgefangener im
sogenannten offenen Vollzug unterfalle er keinen Leistungsbeschränkungen. Infolge der
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Nichtzahlung seiner Miete drohe ihm die Einleitung des Räumungsverfahrens. Er hat
ferner die Ablehnung seines Antrags auf Gewährung laufender Hilfen zum
Lebensunterhalt bezüglich seiner Mietverpflichtungen durch die Stadt N belegt.
Mit Beschluss vom 08.03.2010 hat das SG die Antragsgegnerin verpflichtet, dem
Antragsteller für die Zeit vom 01.01.2010 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der
Hauptsache, längstens jedoch bis zum 21.07.2010, Kosten für Unterkunft und Heizung
in Höhe von 324,86 EUR zu gewähren und im Übrigen den Antrag abgelehnt. Auf die
Gründe wird Bezug genommen.
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Die dagegen gerichtete Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig und begründet.
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Der Senat kann dahinstehen lassen, ob die Entscheidung des SG schon deshalb
aufzuheben ist, weil die Vollziehungsfrist des § 929 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)
vom Antragsteller nicht eingehalten worden ist. Nach dieser Bestimmung, die über § 86
b Abs. 2 S. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) im sozialgerichtlichen Eilverfahren auf Erlass
einer einstweiligen Verfügung entsprechend gilt, ist die Vollziehung eines Arrestbefehls
unstatthaft, wenn seit dem Tage, an dem der Befehl verkündet oder der Partei, auf deren
Gesuch er erging, zugestellt ist, ein Monat verstrichen ist. Nach herrschender Meinung
berechnet sich diese Frist ab der Zustellung des Beschlusses des SG über den Erlass
der einstweiligen Verfügung, in der eine Vollstreckungshandlung im Sinne des § 201
SGG, der auch im einstweiligen Rechtschutzverfahren Anwendung findet (vgl. Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 86 b Rn 46; Wündrich SGb 2009, 267, 276),
erfolgen muss, sofern die Verfügungsentscheidung des SG wie hier einen
vollstreckbaren Inhalt hat (Sächsisches LSG, Beschl. v. 24.11.2009 - L 3 SO 70/09 B ER
-; Bayrisches LSG, Beschl. v. 27.04.2009 - L 8 SO 29/09 B ER -; Schleswig-
Holsteinisches LSG, Beschl. 04.01.2007 - L 11 B 509/06 AS ER -; LSG Baden-
Württemberg, Beschl. v. 11.01.2006 - L 7 SO 4891/05 ER B - jeweils m. w. N. und
abrufbar unter www.juris.de; Adolf in Hennig, SGG, § 86 b Rn 103; Meyer-
Ladewig/Keller/Leitherer a. a. O.; Düring in Jansen, SGG, 3. Aufl., § 86 b Rn 44). Nach
einer Mindermeinung soll insbesondere im Hinblick auf die Verpflichtung der Behörden
zu rechtstreuem Verhalten und der fehlenden Verweisung in § 86 b SGG auf § 927 ZPO
(Regelung über die Aufhebung von Arrestbefehlen) die Frist des § 929 Abs. 2 ZPO erst
mit der Kenntnis des Antragstellers von der Nichtbeachtung des gerichtlichen
Verfügungsbeschlusses durch die Antragsgegnerin zu laufen beginnen (Plagemann,
ASR 2008, 138, 139 m. w. N.) bzw. in einstweiligen Streitigkeiten um existenzsichernde
Leistungen das ernsthafte Verlangen auf Zurückweisung der Beschwerde als
Vollziehungshandlung ausreichend sein (Sächsisches LSG, Beschl. v. 22.04.2008 - L 2
B 111/08 AS ER).
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Unter Zugrundelegung der herrschenden Auffassung ist hier die Monatsfrist am Montag,
dem 12.04.2010 abgelaufen, weil der Beschluss des SG dem Antragsteller am
10.03.2010 zugestellt worden ist. Bis zu diesem Zeitpunkt sind
Vollstreckungshandlungen im Sinne des § 201 SGG nicht zu verzeichnen. Die Folgen
dieser Unterlassung können jedoch ebenso wie die Frage offenbleiben, ob bei
wiederkehrenden Leistungen, wie sie hier im Streit stehen, jedenfalls für die noch nicht
fällig gewordenen Bestandteile die Vollziehungsfrist noch nicht abgelaufen ist (in
diesem Sinne OVG Niedersachsen, Beschl. v. 26.02.2001 - 4 OB 784/01 -; OLG Köln,
Urt. v. 19.08.1991 - 27 UF 47/91 = FamRZ 1992, 75; OLG Hamm, Urt. v. 25.01.1991 - 5
UF 303/90 = FamRZ 1991, 583; zur Gegenmeinung, die dem fehlenden
Vollstreckungsvollzug innerhalb der ersten Monatsfrist Sperrwirkung auch für die später
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fällig werdenden Leistungen beimisst vgl. die Nachweise bei Reichold in
Thomas/Putzo, ZPO; 30. Aufl., § 936, Rn 14). Dem Begehren fehlt nämlich jedenfalls der
erforderliche Anordnungsgrund (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Dabei spricht allerdings zunächst mehr für die Auffassung des SG, dass der
Ausschlussgrund des § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II auf den Antragsteller keine Anwendung
findet. Danach erhält keine Leistungen nach dem SGB II, wer sich wie hier länger als
sechs Monate in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter
Freiheitsentziehung befindet. Bezüglich der in Rechtsprechung und Schrifttum
umstrittenen Frage, ob derjenige, der sich in einer solchen Anstalt befindet, nur dann
Leistungen erhalten kann, wenn er, wie dies § 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 2 SGB II vorsieht, unter
den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden
wöchentlich (tatsächlich) erwerbstätig ist (in diesem Sinne LSG Berlin-Brandenburg,
Beschl. v. 02.01.2007 - L 14 B 948/06 AS ER; Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, § 7 Rn
71; a.A., wonach die Möglichkeiten einer solchen Tätigkeit ausreichend sein soll, LSG
Baden-Württemberg, Beschl. v. 25.01.2008 - L 12 AS 2544/07 -; Eicher/Spellbrink, SGB
II, 2. Aufl., § 7 Rn 65), hat das Bundessozialgericht (BSG) bereits darauf verwiesen, dass
die Bestimmungen des § 7 Abs. 4 SGB II funktional im Sinne der bloßen Möglichkeit der
Teilnahme am allgemeinen Arbeitsmarkt auszulegen sei. Entsprechendes habe der
Gesetzgeber durch Einführung der Bestimmung des § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II, der sich nur
auf den "Normalvollzug" beziehe, klargestellt (vgl. BSG, Urt. v. 06.09.2007 - B 14/7 b AS
60/06 R = www.juris.de Rn 16; a.A. SG Leipzig, Urt. v. 27.10.2008 - S 17 AS 3040/07 =
www.juris.de Rn 15).
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Jedoch ist die vorläufige Durchsetzung dieses Rechtsanspruchs nicht geeignet, die
Unterkunft des Antragstellers zu sichern, sodass es ihm zuzumuten ist, das
Hauptsacheverfahren abzuwarten.
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Dabei kann dahinstehen, ob die Sicherung unangemessenen Wohnraums, wie er hier
von der Antragsgegnerin und dem SG angenommen worden ist, durch eine einstweilige
Verfügung überhaupt gerechtfertigt sein kann. Das SG hat dem Antragsteller lediglich
die von der Antragsgegnerin für angemessen erachteten Kosten der Unterkunft in Höhe
von 324,86 EUR ab dem 01.01.2010 zugesprochen. Zu diesem Zeitpunkt war der
Antragsteller aber bereits mit einer Monatsmiete in Verzug. Die Differenz zu seiner
tatsächlichen Miete von 450,00 EUR, entsprechend 115,24 EUR, ist er jedoch nicht in
der Lage aufzubringen, weil er nach seinem eigenen Vortrag das in der
Justiztvollzugsanstalt erzielte Entgelt im Wesentlichen nicht ausgezahlt erhält und ihm
Regelleistungen nach dem SGB II - mit denen er entsprechend der Anfrage des Senats
diese Differenz ausgleichen will - vom SG nicht zugesprochen worden sind. Die danach
aufgelaufene Differenz zuzüglich der bereits nicht entrichteten Monatsmiete beläuft sich
aber auf eine Summe von mehr als zwei Monatsmieten, sodass der Vermieter weiterhin
berechtigt bleibt, das Mietverhältnis fristlos zu kündigen (§ 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3
Bürgerliches Gesetzbuch - BGB). Kann der Antragsteller aber diese Berechtigung nicht
mit den vom SG zugesprochenen Leistungen beseitigen, bleibt für eine Eilbedürftigkeit
der gerichtlichen Entscheidung kein Raum, weil der Antragsteller selbst diese
ausschließlich mit dem drohenden Verlust der Wohnung begründet hat.
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Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin sind daher der Beschluss des SG mit der auf
einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG beruhenden Kostenentscheidung
aufzuheben und der Antrag abzulehnen.
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Die Bewilligung der Prozesskostenhilfe beruht auf § 73 a Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 115, 119
Abs. 1 S. 2 ZPO.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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