Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 04.10.2010

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Landessozialgericht NRW, L 19 AS 942/10 B
Datum:
04.10.2010
Gericht:
Landessozialgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
L 19 AS 942/10 B
Vorinstanz:
Sozialgericht Köln, S 33 AS 1866/10 ER
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des
Sozialgerichts Köln vom 26.05.2010 geändert und den Antragstellern
Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt H ab dem
12.05.2010 bewilligt. Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren
wird abgelehnt.
Gründe:
1
Die Antragstellerin zu 1), die polnische Staatsangehörige und Mutter des 1996
geborenen Antragstellers zu 2) ist, übte vom 01.08.2007 bis 30.12.2008 ein
angemeldetes Gewerbe als Prostituierte in der Bundesrepublik Deutschland aus. Ob sie
sich nach der Abmeldung des Gewerbes in der Bundesrepublik Deutschland oder in
Polen aufgehalten hat, ist zwischen den Beteiligten streitig. Am 15.03.2010 beantragten
die Antragsteller Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB)
Zweites Buch (II), was die Antragsgegnerin im Hinblick darauf, dass die Antragstellerin
zu 1) weder als Arbeitnehmerin noch als Selbständige in der Bundesrepublik
Deutschland freizügigkeitsberechtigt sei, ablehnte.
2
Den Antrag der Antragsteller auf vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur
Gewährung der Grundsicherungsleistungen hat das angerufene Sozialgericht (SG) Köln
mit Beschluss vom 26.05.2010 ebenso wie Prozesskostenhilfe abgelehnt.
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Die gegen die Ablehnung der Prozesskostenhilfe gerichtete Beschwerde ist zulässig
und begründet. Das SG hat zu Unrecht die hinreichende Erfolgsaussicht des Antrags im
Sinne der §§ 73 a Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), 114 Zivilprozessordnung
(ZPO) verneint.
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Auch wenn die vom SG im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vertretene Auffassung
vertretbar erscheint, dass aufgrund der Bestimmung des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II,
wonach Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche
ergibt, und ihre Familienangehörige von den Leistungen nach dem SGB II
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ausgenommen sind, ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht worden sei
(ebenso z. B. Hessisches LSG Beschl. v. 13.09.2007 - L 9 AS 44/07 ER - =
www.juris.de), hätte es im Hinblick auf die damit verbundenen offenen Rechtsfragen und
in Anbetracht der Rechtsprechung des LSG NW (vgl. Beschl. des Senats v. 17.02.2010 -
L 19 B 392/09 AS ER -; LSG NW Beschl. v. 25.03.2010 - L 7 AS 327/10 B ER - und L 7
B 172/09 AS ER ) die Möglichkeit eines Erfolges des Antrages nicht verneinen dürfen.
Dass die Antragstellerin zu 1), die über eine unbefristete Arbeitserlaubnis und eine
Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU verfügt, die
Voraussetzungen für die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II
grundsätzlich erfüllt, hat auch das SG zu Recht nicht in Zweifel gezogen. Ob sie als
Angehörige der Europäischen Union (EU) gleichwohl aufgrund der Bestimmung des § 7
Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von dem Leistungsanspruch ausgenommen ist, ist dagegen
entgegen der Auffassung des SG bisher nicht hinreichend geklärt und auch durch das
Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) v. 12.03.2009 - C 22 und 23/08 - nicht
abschließend geklärt (vgl. etwa die Besprechung von Schreiber, info also 2009, 195).
Fraglich ist zunächst schon, ob der Aufenthalt eines EU-Angehörigen zwecks
Arbeitssuche nach Aufgabe einer selbständigen Tätigkeit - sei es bei durchgehendem
Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland oder nach einer Wiedereinreise -
überhaupt unter die Ausschlussorm des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II fällt (ablehnend für
den Fall einer vorherigen Beschäftigung Bayrisches LSG Beschl. v. 12.03.2008 - L 7 B
1104/07 AS ; LSG Berlin-Brandenburg Beschl. v. 08.06.2009 - L 10 AS 617/09 B ER - u.
Beschl. v. 14.11.2006 - L 14 B 963/06 AS ER ; Schreiber a. a. O. 197, der dies auch aus
der genannten Entscheidung des EuGH ableitet). Ferner erscheint es zweifelhaft, ob es
sich bei der Grundsicherungsleistung nach dem SGB II, die eine besondere
beitragsunabhängige Geldleistung im Sinne des Art. 4 Abs. 2 a VO (EWG) 1408/71 ist
(Beschl. des Senats v. 30.03.2007 - L 19 B 102/06 AS ; Fuchs NZS 2007, 1, 4), um
Sozialhilfe im Sinne des Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG handelt (kritisch Strick NJW
2005, 2282, 2184 f.; bejahend wohl Hailbronner ZFSH/SGB 2009, 195, 201;
offengelassen vom erkennenden Senat Beschl. v. 16.04.2007 - L 19 B 13/07 AS ER =
www.juris.de). Diese Frage ist zwar von den nationalen Gerichten zu beantworten, der
EuGH hat aber darauf hingewiesen, dass "eine Voraussetzung wie die in § 7 Abs. 1
SGB II enthaltene, wonach der Betroffene erwerbsfähig sein muss, ein Hinweise darauf
sein könnte, dass die Leistung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern soll" (Urt. v.
04.06.2009 - C-22 u. 23/08 Rn 44). Die Zulässigkeit der vom SG vorgenommenen
Trennung zwischen Leistungen zur Eingliederung in Arbeit (Kapitel 3 Abschn. 1 SGB II)
einerseits und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Kapitel 3 Abschn. 2
SGB II) andererseits erscheint fraglich, weil in der Regel entsprechende Leistungen nur
gemeinsam in Anspruch genommen werden und das Erfordernis der Erwerbsfähigkeit
untypisch für reine Leistungen der Sozialhilfe ist. Sind die Grundsicherungsleistungen
aber als Leistungen zu qualifizieren, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern
sollen, können sie EU-Angehörigen nicht vorenthalten werden (EuGH wie zuvor Rn 40).
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Besteht demzufolge eine bisher ungeklärte Rechtslage, die auch nach der
Rechtsprechung des LSG NW (Beschl. v. 17.02.2010 -L 19 B 392/09 AS ER- u. v.
25.03.2010 - L 7 AS 327/10 B ER u. L 7 B 172/09 AS ER) zu einer vorläufigen
Zuerkennung von Leistungen an EU-Angehörige sowohl der alten wie der neuen
Beitrittsländer geführt hat, sind die Erfolgsaussichten im Rahmen der
Prozesskostenhilfebewilligung als hinreichend anzusehen. Da die Glaubhaftmachung
eines Anordnungsgrundes infolge der Mittellosigkeit der Antragsteller als unzweifelhaft
anzusehen ist und sie auch infolgedessen nicht in der Lage sind, die Kosten der
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Prozessführung auch nur teilweise zu tragen, ist Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung
zu bewilligen.
Dagegen ist die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren über
die Ablehnung derselben abzulehnen, weil für das Prozesskostenhilfeverfahren selbst
sowie ein nachfolgendes Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe nicht zu gewähren
ist (Beschl. des Senats v. 16.11.2009 - L 19 322/09 AS ; LSG NW Beschl. v. 25.08.2010
- L 12 AS 299/10 B m.w.N.).
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Die Nichterstattungsfähigkeit der Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt aus einer
entsprechenden Anwendung des § 127 Abs. 4 ZPO.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
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