Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 10.03.2005
LSG NRW: wohnung, versorgung, grobe fahrlässigkeit, lebensgemeinschaft, entschädigung, klinik, minderung, erwerbsfähigkeit, eltern, kontrolle
Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Vorinstanz:
Sachgebiet:
Tenor:
1
2
3
4
5
Aktenzeichen:
Rechtskraft:
Landessozialgericht NRW, L 7 VG 25/03
10.03.2005
Landessozialgericht NRW
7. Senat
Urteil
L 7 VG 25/03
Sozialgericht Dortmund, S 3 VG 37/02
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
nicht rechtskräftig
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichtes
Dortmund vom 28.04.2003 abgeändert. Der Beklagte wird unter
Abänderung des Bescheides vom 30.04.2001 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 02.01.2002 verurteilt, bei der Klägerin
wegen der Folgen der Gewalttat vom 12.03.2000 eine
"Schädelhirnverletzung mit Funktionsstörungen der Arme und Beine,
Stuhl- und Harninkontinenz, Hirnleistungsstörung mit Sprachstörungen"
anzuerkennen und Versorgung nach einer Minderung der
Erwerbsfähigkeit um 100 v. H. ab März 2000 zu gewähren. Der Beklagte
trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Instanzen. Die
Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Die am 00.00.1965 geborene Klägerin erlitt durch tätliche Einwirkungen ihres damaligen
Lebensgefährten B V am 12.03.2000 schwere Hirnverletzungen, infolge derer sie geistig
schwerstbehindert, pflege- und betreuungsbedürftig ist.
Der Schädiger V wurde mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts Wuppertal vom
03.11.2000 (25 Ks 45 Js 2/00 19/00 V) wegen schwerer Körperverletzung zu einer
Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Des Weiteren wurde seine
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet.
Nach den Feststellungen des Landgerichts lernte der Schädiger in der Zeit zwischen
Oktober 1996 und Januar 1997 die Klägerin kennen, die sich ebenfalls wegen Alkohol- und
Tablettenabhängigkeit zum wiederholten Male in ärztlicher Behandlung befand. Am
14.08.1999 wurde das gemeinsame Kind Q geboren. Bereits nach wenigen Wochen waren
sie mit der Betreuung des Kindes überfordert. Sie waren fast ständig alkoholisiert und
stritten miteinander, auch unter Einsatz körperlicher Gewalt. Am 05.09.1999 kam es zu
einer heftigen körperlichen Auseinandersetzung, in deren Verlauf die Klägerin u. a. einen
Handgelenksbruch, eine Platzwunde im Gesicht und zahlreiche Prellungen erlitt. Das
6
7
8
Handgelenksbruch, eine Platzwunde im Gesicht und zahlreiche Prellungen erlitt. Das
eingeleitete Strafverfahren wurde gemäß § 153 Abs. 1 StPO eingestellt (Staatsanwaltschaft
X, Aktenzeichen 000). Anlässlich eines Hausbesuches durch das Jugendamt der Stadt X
am 20.10.1999 wurden beide stark alkoholisiert, im verwahrlosten Zustand und in ihren
Exkrementen liegend angetroffen. Das Kind war unversorgt und verschmutzt. Der
Schädiger und die Klägerin wurden zur Entgiftung in der Klinik für Suchtkrankheiten in W
und das Kind in einer Bereitschaftspflegestelle untergebracht. Im Wege einer einstweiligen
Anordnung entzog das Amtsgericht Wuppertal der Kindesmutter gegen ihren Willen mit
Beschluss vom 21.10.1999 das Aufenthaltsbestimmungsrecht (Amtsgericht Mettmann,
Aktenzeichen 65 F 313/99). Aufgrund der regelmäßigen und vereinbarungsgemäßen
Zusammenarbeit der Eltern mit Frau X von der flexiblen Erziehungshilfe, des
regelmäßigen, wöchentlichen Besuchs einer ambulanten Therapiegruppe in der Klinik für
Suchtkrankheiten in W sowie des Besuchs einer Krabbelgruppe mit Q, kehrte Q am
24.01.2000 zu der Klägerin und dem Schädiger zurück. Die Familie wurde von Frau X bis
zu deren Urlaubsbeginn am 24.02.2000 regelmäßig ein- bis zweimal wöchentlich
aufgesucht. Sie konnte in dieser Zeit keine Auffälligkeiten, weder eine Alkoholisierung
noch eine Verwahrlosung der Wohnung noch sonstige "Krisenzeichen" feststellen. In den
letzten Tagen vor dem zum 13.03.2000 angekündigten Kontrollbesuch kam es zwischen
der Klägerin und dem Schädiger erneut zu heftigen Auseinandersetzungen unter
Alkoholeinfluss, da sie wegen der rückfälligen Alkoholisierung und des dadurch bedingten
desolaten Zustandes der Lebensgemeinschaft eine endgültige Entziehung des Kindes
durch das Jugendamt befürchteten. Nach einer heftigen körperlichen Auseinandersetzung
am 10.03.2000, einer solchen am Vormittag oder Mittag des 11.03.2000 und am Abend des
11.03.2000 flüchtete die Klägerin aus der Wohnung, verständigte die Polizei und begab
sich mit deren Hilfe zu ihrer Schwester. Nach einem Telefonat mit dem Schädiger am
Morgen des Tattages, in dem sie ihn aufforderte, die von ihr gemietete Wohnung in X zu
verlassen, begab sie sich nach Aufenthalten in verschiedenen Wohnungen von Bekannten
in die Wohnung des Zeugen U und schlief dort nach weiterem Alkoholkonsum ein. Gegen
21:00 Uhr verschaffte sich der Schädiger Zugang zu dieser Wohnung und wirkte unter
anderem mit heftigen Schlägen und Stößen auf den Kopf der im Schlaf befindlichen
Klägerin ein, wodurch es zu den Hirnverletzungen kam.
Mit Antrag vom 13.07.2000 begehrte die Klägerin rückwirkend ab dem 12.03.2000
Heilbehandlungskosten sowie eine laufende Rente nach dem OEG. In der Folgezeit zog
der Beklagte u. a. den Entlassungsbericht der Klinik I von September 2000 sowie die Akte
der Staatsanwaltschaft X (000) bei. Nach Auswertung der Unterlagen bezeichnete der
Ärztliche Dienst des Beklagten in der Stellungnahme vom 13.03.2001 die
schädigungsbedingten Leiden mit "Schädel-Hirn-Verletzung mit Funktionsstörungen der
Arme und Beine, Stuhl- und Harninkontinenz, Hirnleistungsstörung mit Sprachstörungen"
und bewertete die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 vom Hundert (v. H.).
Mit Bescheid vom 30.04.2001 lehnte der Beklagte nach Auswertung der Akten der
Staatsanwaltschaft X einschließlich des Urteils des Landgerichts Wuppertal vom
03.11.2000 den Antrag auf Leistungen nach dem OEG ab, da eine Entschädigung gemäß §
2 Abs. 1 Satz 1 OEG unbillig wäre. Die Klägerin sei vernunftwidrig und grob fahrlässig in
der unheilvollen Lebensgemeinschaft mit dem Schädiger verblieben, die von
gemeinsamen Alkohol- und Tablettenmissbrauch mit verbalen und körperlichen
Auseinandersetzungen geprägt gewesen sei. Aufgrund dieses sozialschädlichen
Verhaltens sei eine Versorgung unbillig.
Mit Widerspruch vom 21.06.2001 machte die Klägerin geltend, sie habe die Ursache der
Tat nicht zu vertreten. Sicherlich sei es während des Zusammenlebens mit dem Schädiger
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
zu körperlichen Auseinandersetzungen gekommen. Sie habe jedoch die unheilvolle
Lebenskonstellation mehrere Tage vor der Tat zum Anlass genommen, einen Schlussstrich
zu ziehen und sich der Gegenwart des Schädigers zu entziehen. Ein sozialschädliches
Verhalten sei nicht gegeben.
Mit Widerspruchsbescheid vom 02.01.2002, der Klägerin am 14.01.2002 zugegangen, wies
der Beklagte den Widerspruch zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 13.02.2002 vor dem Sozialgericht Dortmund (SG) Klage
erhoben. Sie hat vorgetragen, dass sie weder durch die Teilnahme an der unheilvollen
Lebensgemeinschaft noch durch eigene körperliche Gewalt zu der Tat beigetragen habe.
Sie habe sich verschiedentlich bemüht, die Beziehung auch zum Wohle des Kindes zu
erhalten und positiv zu beeinflussen.
Das SG hat gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Klage mit Urteil
vom 28.04.2003 abgewiesen. Auf die Entscheidung wird Bezug genommen.
Gegen das ihr am 02.06.2003 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 02.07.2003 Berufung
eingelegt. Sie verfolgt ihr Begehren weiter. Ergänzend hat sie darauf hingewiesen, dass sie
sich gerade nicht einer Gefahr ausgesetzt, sondern sich mit erheblichem Bemühen von
dieser entfernt habe. Zudem habe sie den Schädiger am Vormittag des 12.03.2000
aufgefordert, ihre Wohnung zu verlassen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichtes Dortmund vom 28.04.2003 abzuändern und den Beklagten
unter Abänderung des Bescheides vom 30.04.2001 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 02.01.2002 zu verurteilen, bei ihr wegen der Folgen der
Gewalttat vom 12.03.2000 eine "Schädel-Hirn-Verletzung mit Funktionsstörungen der Arme
und Beine, Stuhl- und Harninkontinenz, Hirnleistungsstörung mit Sprachstörungen"
anzuerkennen und Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 vom
Hundert ab März 2000 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Der Senat hat die Akten der Staatsanwaltschaft X (000) beigezogen. Des Weiteren hat der
Senat den Zeugen U vernommen. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird
auf die Sitzungsniederschrift vom 06.05.2004 verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf
die zwischen den Beteiligten gewechselten vorbereitenden Schriftsätze, den übrigen
Akteninhalt sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet.
Das SG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Klägerin ist durch die angefochtene
Verwaltungsentscheidung beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes
23
24
25
26
(SGG). Die Klägerin hat einen Anspruch auf Versorgung nach dem
Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Nach § 1 Abs. 1 OEG erhält derjenige, der durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen
tätlichen Angriff gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen
der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender
Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Diese
Voraussetzungen sind gegeben, weil die Klägerin infolge eines vorsätzlichen,
rechtswidrigen tätlichen Angriffs eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Der
Schädiger V ist wegen schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren
und drei Monaten verurteilt.
Versagensgründe nach § 2 Abs. 1 OEG liegen nicht vor. Danach sind Leistungen zu
versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus
sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchsstellers liegenden
Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Ob das Opfer seine Schädigung
mitverursacht hat, ist vor den Voraussetzungen des Versagensgrundes nach § 2 Abs. 1
Satz 1 2. Alternative OEG zu prüfen (BSG, Urteil vom 15.08.1996, 9 RVg 6/94 = SozR 3-
3800 § 2 Nr. 5; BSG, Urteil vom 01.09.1999, B 9 VG 3/97 R = USK 99120). Die
Mitverursachung stellt gegenüber dem Ausschlussgrund der Unbilligkeit einen Sonderfall
dar. Zum Bereich der Mitursächlichkeit gehören alle unmittelbaren, nach natürlicher
Betrachtungsweise mit dem eigentlichen schädigenden Tatgeschehen, insbesondere auch
zeitnah, eng verbundene Umstände, während alle nicht unmittelbaren, lediglich
erfolgsfördernde Umstände, d. h. typischerweise die Vorgeschichte der eigentlichen
Gewalttat, im Rahmen der Unbilligkeit zu prüfen sind (BSG, Urteil vom 01.09.1999, B 9 VG
3/97 R, a.a.O.).
Eine Mitverursachung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative OEG liegt nicht vor. Die
Mitverursachung erfordert, dass der Tatbeitrag des Opfers nicht nur einen nicht
hinwegzudenkenden Teil der Ursache darstellt, sondern eine wesentliche, d. h. annähernd
gleichwertige Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers ist
(BSG, Urteil vom 18.04.2001, B 9 VG 3/00 R = SozR 3-3800 § 2 Nr. 10; BSG, Urteil vom
21.10.1998, B 9 VG 6/97 R = SozR 3-3800 § 2 Nr. 9). Ein Ursachenbeitrag der Klägerin
gleicher Qualität in Bezug auf den Angriff des Täters liegt nicht vor. Der dominierende
Ursächlichkeitsbeitrag für die schädigende Gewalttat war der Gewaltexzess des
Schädigers an der im Zeitpunkt der schädigenden Gewalteinwirkung wehrlosen
(schlafenden) Klägerin. Dahinter treten die Auseinandersetzungen am Vortage in den
Hintergrund, selbst wenn diese den schweren Gewaltausbruch des Klägers am 12.03.2000
mitausgelöst haben sollten. Zudem ergibt sich die überragende Bedeutung des
Gewaltaktes des Schädigers für die Verursachung der Schädigung auch aus dem
Umstand, dass zwischen den Auseinandersetzungen und der eigentlichen Gewalttat am
12.03.2000 eine zeitliche und räumliche Zäsur dadurch gegeben war, dass die Klägerin
den Schädiger nach der letzten Auseinandersetzung fluchtartig verließ, sich in eine andere
Wohnung begab, zwischen der Auseinandersetzung und der Gewalttat fast 24 Stunden
lagen und die Klägerin unmittelbar vor der Gewalttat nicht in Kontakt zu dem Kläger stand
und zum Zeitpunkt der Gewalttat schlief.
Es liegt auch keine Mitverursachung in Form einer bewussten oder leichtfertigen
Selbstgefährdung des Opfers vor. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative OEG ist
Entschädigung auch dann zu versagen, wenn sich das Opfer in unmittelbarem
Zusammenhang mit der Tatbegehung bewusst oder leichtfertig, d. h. grob fahrlässig, durch
27
28
29
30
ein schwerwiegendes vorwerfbares Verhalten der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und
sich dadurch selbst gefährdet hat, etwa durch schuldhafte Herausforderung des Angriffs
(BSG, Urteil vom 20.10.1999, B 9 VG 2/98 R = USK 99140). Dabei ist in Bezug auf die
grobe Fahrlässigkeit ein subjektiver Maßstab entscheidend und damit zu prüfen, ob das
Opfer die Selbstgefährdung nach seinen persönlichen Fähigkeiten und den Umständen
des Einzelfalles erkennen und vermeiden konnte und mit einer Gewalttat rechnen musste.
Daran fehlt es. Die Klägerin hat sich weder leichtfertig durch eine unmittelbare, mit dem
eigentlichen Tatgeschehen, insbesondere zeitlich eng zusammenhängenden Förderung
der Tat der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt noch leichtfertig einer konkret erkannten
Gefahr nicht entzogen. Vielmehr hat sie den Schädiger nach der letzten
Auseinandersetzung fluchtartig verlassen und sich in eine andere Wohnung begeben.
Zudem lagen zwischen der Auseinandersetzung und der Gewalttat fast 24 Stunden.
Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Gewährung von Versorgung an die
Klägerin auch nicht aus sonstigen Gründen im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG unbillig. In
der Rechtsprechung des BSG ist anerkannt, dass Leistungen wegen Unbilligkeit gemäß §
2 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. OEG u. a. dann zu versagen sind, wenn es aus sonstigen,
insbesondere im eigenen Verhalten des Opfers liegenden Gründen unbillig wäre,
Entschädigung zu gewähren.
Hat der Tatbeitrag des Opfers die Schwelle der Mitverursachung nicht erreicht, so kann er
im Rahmen der 2. Alternative jedoch nicht allein, sondern nur aus sonstigen, zusätzlichen
Gründen, zur Unbilligkeit von Versorgungsleistungen führen (BSG, Urteil vom 6.12.1989, 9
RVg 2/89 = SozR 3800 § 2 Nr. 7). Eine Opferentschädigung wegen Unbilligkeit ist
ausgeschlossen, wenn die Besonderheiten des Einzelfalles nach dem Normzweck eine
staatliche Hilfe zur Opferentschädigung als sinnwidrig und damit als ungerecht beurteilen
lassen (BSG, Urteil vom 07.11.1979, 9 RVg 2/78 = BSGE 49, 104 - 114). Nach dem
Normzweck des OEG werden Entschädigungsleistungen gewährt, weil die staatliche
Gemeinschaft für die Folgen einer Gesundheitsschädigung einsteht, die durch die
Gewalttat verursacht wurde. Dies folgt aus dem rechtsstaatlichen Grundsatz, dass der Staat
ein Monopol für die Verbrechensbekämpfung hat. Er ist für den Schutz der Bürger vor
kriminellen Handlungen verantwortlich. Kann er dieser Aufgabe nicht gerecht werden, so
besteht ein Bedürfnis für eine allgemeine Entschädigung. Stellt sich jemand jedoch
bewusst außerhalb der staatlichen Gemeinschaft und realisiert sich die damit verbundene
Gefahr in Schädigungen durch eine Gewalttat, so widerspräche es dem Verbot
unzulässiger Rechtsausübung, zum Ausgleich der Schädigungsfolgen staatliche
Leistungen zu verlangen (BSG, Urteil vom 21.10.1998, B 9 VG 6/97 R, a.a.O.). Als typische
Konstellationen derartiger Selbstgefährdungstatbestände werden nach der
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts neben der Zugehörigkeit zu kriminellen oder
gewaltbereiten Strukturen (vgl. zur Milieuzugehörigkeit das Urteil des BSG vom
24.03.1993, 9/9a RVg 3/91 = SozR 3-3800 § 2 Nr. 2) unheilvolle Lebensgemeinschaften,
die eine besondere Dauergefährdung durch andauernde Auseinandersetzungen und
Gewalttätigkeiten begründen, angesehen (vgl. BSG, Urteil vom 03.10.1984, 9a RVg 6/83 =
SozR 3800 § 2 Nr. 5). Eine Entschädigung ist insbesondere ausgeschlossen, wenn das
Opfer sich, ohne sozial nützlich oder gar von der Rechtsordnung gewünscht zu handeln,
der Gefahr einer Gewalttat bewusst oder leichtfertig aussetzt oder sich einer von ihm
erkannten oder leichtfertig verkannten Gefahr nicht entzieht, obwohl ihm dies zumutbar
möglich wäre (BSG, Urteil vom 14.08.2001, B 9 VG 3/00 R, a.a.O.).
Diese Voraussetzungen treffen nach Auffassung des Senates auf die Klägerin nicht zu. Ein
31
32
33
34
grob fahrlässiges Verhalten der Klägerin liegt nicht vor. Zwar war die Lebensgemeinschaft
der Klägerin und des Schädigers V geprägt von den häufig und oft anhaltenden Alkohol-
und Tablettenexzessen. Dabei traten immer wieder erhebliche Kontrollverluste auf, die sich
nach den Feststellungen des Landgerichts Wuppertal teils in außergewöhnlicher
Verwahrlosung des Wohnungs- und körperlichen Zustandes beider, so z. B. bei der
Kontrolle des Jugendamtes am 20.10.1999, teils in den immer wieder auftretenden heftigen
verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen äußerte. Die dabei von dem Schädiger
eingesetzte Gewalt hatte erkennbar eine erhebliche Ausprägung. So trug die Klägerin bei
einer Reihe gewalttätiger Auseinandersetzungen Prellungen und Schlagwunden davon.
Aufgrund von Gewalteinwirkung erlitt sie am 05.09.1999 u. a. einen Handgelenksbruch.
Andererseits trat aber Ende Januar 2000 eine Konsolidierung in der Lebensgemeinschaft
ein. Beide zeigten in nüchternen Phasen, vor der Tat zuletzt im Februar 2000, ein
geordnetes und auf eigenständige Willensbildung hindeutendes Verhalten, indem sie etwa
ordentliche Wohnverhältnisse schafften, sich mit ihrer Situation in der Therapie
auseinandersetzten und sich mit der flexiblen Erziehungshilfe arrangierten, solange
Letztere mit einer regelmäßigen Kontrolle verbunden war. Erst als für sie erkennbar war,
dass aufgrund der urlaubsbedingten Abwesenheit von Frau X eine Kontrolle für ca. zwei
Wochen nicht durchgeführt wird, nahmen beide ihre Trinkgewohnheiten wieder auf.
Nach Auffassung des Senats hat sich die Klägerin durch die Aufrechterhaltung der
Lebensgemeinschaft nicht leichtfertig selbst gefährdet. Zum einen konnte die Klägerin nach
den gesamten Umständen ihrer Beziehung zu dem Schädiger nicht davon ausgehen, dass
das Verbleiben in der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Lebensgefahr verbunden
war. Die Folgen der Gewalteinwirkung am 12.03.2000, die die schweren Hirnschäden der
Klägerin verursachten, gingen weit über die bis dahin durch die gewaltsamen
Auseinandersetzungen realisierten Gesundheitsschäden hinaus. Zum anderen durfte das
Kind Q aufgrund der regelmäßigen und vereinbarungsgemäßen Zusammenarbeit seiner
Eltern mit der flexiblen Erziehungshilfe in der Person von Frau X, dem regelmäßigen,
wöchentlichen Besuch einer ambulanten Therapiegruppe in der Klinik für Suchtkrankheiten
in W sowie des Besuchs einer Krabbelgruppe mit Q, am 24.01.2000 in den Haushalt der
Klägerin und des Schädigers zurückkehren. Damit ging auch das Jugendamt nicht von
einer (gravierenden) Gefährdung des Kindes und/oder der Klägerin aus; ansonsten hätte
das Kind sicherlich nicht zu seinen Eltern zurückkehren dürfen. Auch unter diesem
Gesichtspunkt ist der Klägerin eine leichtfertige Selbstgefährdung nicht vorwerfbar.
Des Weiteren haben die Zeugen S H und X V (Vater des Schädigers) in ihrer Vernehmung
durch die Polizei die Angabe der Klägerin bestätigt, dass diese am Vormittag des
12.03.2003 den Schädiger noch aufgefordert hatte, ihre Wohnung zu verlassen. Weitere
Maßnahmen konnten der Klägerin am 12.03.2003 nicht abverlangt werden. Das
nochmalige Einschalten der Polizei war zu diesem Zeitpunkt unzweckmäßig, weil eine
konkrete Gefährdungslage noch nicht vorlag. Zudem hat sich die Klägerin der drohenden
Gefahr durch Flucht entzogen, indem sie sich in eine andere Wohnung begab, in der sie
unter Berücksichtigung der Aussage des Zeugen U davon ausgehen konnte, dass ihr am
Abend des 12.03.2000 keine Gefahr drohte. Der Zeuge U hat hierzu bekundet, dass er
seine Haustür nicht geöffnet hätte, wenn er gewusst hätte, dass der Schädiger V vor der Tür
stand. Seine Ausführungen sind auch glaubhaft. So wusste er von der Klägerin, dass sie
Angst vor dem Schädiger hatte und deshalb in seiner Wohnung übernachten wollte.
Die zu leistende Versorgung der Klägerin ist unter Berücksichtigung der vom Beklagten
ermittelten Schädigungsfolgen "Schädel-Hirn-Verletzung mit Funktionsstörungen der Arme
35
36
37
und Beine, Stuhl- und Harninkontinenz, Hirnleistungsstörung mit Sprachstörungen" in
Übereinstimmung mit der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 13.03.2001 nach
einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 vom Hundert (v. H.) zu gewähren.
Die Berechtigung der rückwirkenden Leistungserbringung ab dem 12.03.2000 ergibt sich
aus § 1 Abs. 1 OEG in Verbindung mit § 60 BVG. Danach ist Versorgung auch für
Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten, wenn der Antrag, wie hier, innerhalb eines
Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.